Wider die Christentümelei

Eine Polemik aus gegebenem Anlass.

An die Stelle der Deutschtümelei tritt in den Reden bestimmter Politiker die Rede von der christlich-jüdischen Leitkultur - reichlich unreflektiert wie Ralf Laubert aus Neuss zeigt.

Nachdem trotz großer Anstrengung die Welt am deutschen Wesen nicht genesen wollte, versuchen Horst Seehofer und Gleichgesinnte es jetzt ein bisschen anders. Es geht jetzt nicht mehr um die Welt, sondern um die bei uns lebenden Menschen aus „anderen Kulturkreisen“. Und da sich die Deutschtümelei nun einmal völlig desavouiert hat, ersetzt man sie durch so merkwürdige Gedanken wie den der „Christlich-jüdischen Leitkultur“ wahlweise auch der „Christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“.

Man beachte die Reihenfolge der Begriffe. Ohne sich um die (religions-)geschichtliche Reihenfolge zu scheren, hängt man das jüdische Geschwisterchen noch eben an und zeigt so ganz en passant wer Herr im Hause sein soll. Und so manche deutsch-jüdische Familie, die den Holocaust überlebt hat, wird sich verwundert die Augen reiben, dass sie jetzt zur Leitkulturträgerin (wenn auch hinter dem Bindestrich) werden soll.

Aber auch profanhistorisch gesehen greift Seehofer mächtig daneben. Sicher haben die Christen und die Bibel die Kultur unseres Landes maßgeblich geprägt; nicht weniger aber wäre in diesem Zusammenhang die griechisch-römische Antike zu vermelden. Pikanterweise gelangten die Schriften der großen griechischen Philosophen zuerst durch die arabischen Übersetzungen der nicht zur christlich-jüdischen Wertegemeinschaft gehörenden Muslime Avicenna und Averroes nach Mitteleuropa.

Aber solche Kleinigkeiten stören nur das Bild der „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“. Damit meinen Seehofer und andere keineswegs allein die Mitglieder der jüdischen oder christlichen Gemeinden hierzulande. Nein, dazu zählen auch all Ausgetretenen oder Nicht-Religiösen, auf keinen Fall aber die muslimischen Migranten.

Wo bleibt eigentlich der Aufschrei der Kirchen gegen diese Vereinnahmung? Wo sind die Christinnen und Christen, die einem Herrn Seehofer deutlich erklären, dass im ersten Testament der Schutz der (nicht dem Judentum angehörenden) Zuwanderer einen der zentralen „Werte“ darstellt? Wer zeigt ihm die Geschichten im zweiten Testament, in denen sich Jesus und seine NachfolgerInnen gegen religiöse Abgrenzung zur Wehr setzen und eine Syrophönizierin, einen Samariter oder einen äthiopischen Eunuchen als Beispiele für den Glauben loben? Wer sagt ihm, dass es Aufgabe der Christinnen und Christen ist, ihren Mund für die Schwachen und Rechtlosen aufzutun, statt ihren Glauben zum kulturellen Kampfbegriff gegen andere Menschen verkommen zu lassen?  Wer klärt ihn darüber auf, wie viele „Werte“ Juden, Christen und Muslime gemeinsam vertreten?  Welche Christin und Bürgerin weist Seehofer und die anderen darauf hin, dass im Grundgesetz die Würde des Menschen als unantastbar garantiert wird, auch wenn er kein Vertreter der „Leitkultur“ ist. Wer macht ihm (wieder?!) klar, dass wir von unserer Verfassung her eine Rechts- und keine Wertegemeinschaft sind?

Die Beschwörung einer christlich-jüdischen Leitkultur und Wertegemeinschaft, die als moralischer Grenzzaum gegen Zuwanderer gezogen wird, steht im Widerspruch zum Grundgesetz und hat mit dem gelebten christlichen Glauben nichts zu tun, sondern ist wertevergessene Christentümelei. In einer Zeit der hemmungslosen Umverteilung von unten nach oben kaschiert sie nur allzu notdürftig die gelebten Werte großer Teile unserer Gesellschaft: Machtzuwachs, Geld und Habgier. Darüber muss debattiert werden.

 

 

 

Ralf Laubert auf einer Calvinfeier 2009.


Ralf Laubert, Berufsschulpfarrer in Neuss, 31. Oktober 2010
Von Bernd Berger, Pfarrer in Oberbalm BE

Widerspruch dagegen, die "jüdisch-christliche Überlieferung" dazu zu missbrauchen, den islamischen Monotheismus als das "Andere" auszugrenzen, wird in diesen Tagen auch in der Schweiz laut. Lesen Sie in geschwisterlicher Verbundenheit auf reformiert-info einen Kommentar aus dem Portal der Reformierten in der Schweiz: www.ref.ch