Wir und die Juden – Israel und die Kirche

Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen


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Moderamen des Reformierten Bundes, 12. Mai 1990

Leitsatz I – Umkehr

Wir suchen Wege der Begegnung und Versöhnung mit den Juden. In dieser Begegnung bekennen wir zuerst vor Gott und den Menschen die Schuld, die bis heute auf uns lastet: Von Christen wurde der auch in der Völkerwelt vorhandene Judenhaß religiös verschärft und brachte Verfolgung, Mord und Vernichtung hervor. Das unheilvolle Erbe dieses Hasses ist in Theologie und Kirche wirksam geblieben. Darum sind Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit immer noch nicht überwunden,

»Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Totschläger!« (1. Joh. 3,15)
Die Psalmen lehren uns beten: »Wir haben gesündigt samt unseren Vätern, wir haben Unrecht getan und sind gottlos gewesen.« (Ps. 106,6)

Beschämt und dankbar sind wir angesichts der Zeichen jüdischer Versöhnungsbereitschaft. Von unserer Seite haben wir alle Versuche zurückzuweisen, die die Wege der Begegnung und Versöhnung versperren. Solche Barrieren werden z. B. dann aufgerichtet, wenn das Judentum als eine der Vergangenheit verfallene Erscheinung bezeichnet oder mit Klischees abgetan wird.

Leitsatz II – Der ungekündigte Bund

Gott hat seinen Bund mit Israel nicht gekündigt.

Wir beginnen zu erkennen: In Christus Jesus sind wir, Menschen aus der Völkerwelt – unserer Herkunft nach fern vom Gott Israels und seinem Volk –, gewürdigt und berufen zur Teilhabe an der Israel zuerst zugesprochenen Erwählung und zur Gemeinschaft im Gottesbund.

»Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer." (Jes- 54,10)
»Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.« (Röm. 11,29)

Damit widersprechen wir der verbreiteten Auffassung, die christliche Kirche sei von Gott an die Stelle eines enterbten und verworfenen Israel gesetzt worden. Wir suchen vielmehr den wurzelhaften und bleibenden Zusammenhang wahrzunehmen, in dem Israel und die Kirche in dem einen ungekündigten Gottesbund miteinander verbunden sind.

Wir sagen jedem christlichen Erwählungsbewußtsein ab, das zur Überheblichkeit führt und die Verwerfung anderer fordert.

Leitsatz III – Der eine Gott

Als Christen glauben wir an den einen Gott, den Gott Israels, den Vater Jesu Christi. Wie die Juden loben und ehren wir auf dem gemeinsamen Grund der hebräischen Bibel, des »Alten Testaments«, den Gott Israels, den Schöpfer der Welt und Herrn der Geschichte. Das Gebot, diesen einen Gott zu lieben und ihm allein zu gehorchen, hat Jesus Christus erfüllt und hat auch uns geboten, dies zu tun.

»Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« (2. Mose 20,2f.)
»Wir haben nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn«. (1. Kor. 8,6)

Im Alten Testament offenbart sich der eine Gott, der seine Schöpfung von Göttern und Mythen befreit. Wir Christen haben uns daher von allen Weltanschauungen und Philosophien abzuwenden, bei denen in selbsterdachten Gottesvorstellungen wieder »Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten« Gewalt über uns finden.

Das in jüdischer Tradition festgehaltene und verdeutlichte biblische Zeugnis kann uns davor bewahren, andere Götter oder Götzen an die Stelle des einen, lebendigen Gottes zu setzen.

Leitsatz IV – Der verheißene Messias

Juden und Christen hören auf die messianischen Verheißungen der Heiligen Schrift. Christen erkennen den Messias in dem Juden Jesus von Nazareth. Ihn hat Gott mit seinem Geist ohne Maß erfüllt.

Durch ihn hat er uns seinen Rat und Willen offenbart. Durch seinen Kreuzestod hat er die Welt mit sich versöhnt. Durch die Auferweckung von den Toten hat er ihn als den Herrn eingesetzt – bis Christus das Reich dem Vater übergeben wird und Gott alles in allem sein wird (1. Kor. 15,28). Damit hat er uns den Grund zur Hoffnung auf seine kommende Welt gegeben.

Gott ist in Israel zur Welt gekommen. In Jesus bestätigt er seine Verheißungen. Durch ihn sind wir unlösbar mit den Juden verbunden.

»Denn der, den Gott gesandt hat, der redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist ohne Maß. Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.« (Joh. 3,34f-)
»Denn ich sage: Christus ist ein Diener geworden der Juden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, zu bestätigen die Verheißungen, die den Vätern gegeben sind.« (Röm 15,8)

Wenn nicht daran festgehalten wird, daß Jesus Jude war, führt das dazu, einem allgemeinen Menschenbild den Vorzug zu geben, das eigene Volkstum zu verherrlichen und in pseudomessianischer Erwartung mit der Staatsmacht zu paktieren.

Die Vorstellung, bereits im vollen Besitz der Erfüllung zu sein, hat die Kirche dazu verleitet, die mit den Juden gemeinsame Hoffnung preiszugeben. Aus Überlegenheitsbewußtsein und Triumphalismus heraus hat sie dem jüdischen Volk die Weggemeinschaft verweigert, statt mit ihm getrost, hoffnungsvoll und tätig der endzeitlichen Verwirklichung der Verheißungen Gottes entgegenzugehen.

Leitsatz V – Weisung zum Leben

Nach alttestamentlichem Verständnis steht die göttliche Weisung (Tora) mit allen Geboten im Zeichen der Befreiung und des Lebens. Daher feiern Juden am Ende des Laubhüttenfestes in Dankbarkeit und Liebe das »Fest der Tora-Freude«. Da der Messias Jesus die Tora nicht aufgehoben, sondern erfüllt hat, glauben Christen die messianische Erfüllung der Gebote in der Christus-Gabe des Heiligen Geistes und sind, so wie die Juden, jedoch auf ihre Weise, gerufen und gesandt, Zeugen des Gottes Israels und seines Willens in der Völkerwelt zu sein.

»Ich lobe dich des Tages siebenmal um deiner gerechten Ordnungen willen. Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben; sie werden nicht straucheln.«(Ps. 119,164f.)
»Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.« (Matth. 5,17f.)

Mit der Verwerfung des »Gesetzes«, das nach in der Kirche verbreiteter Auffassung durch Christus als abgetan gilt, haben wir Christen häufig die Gnadengabe der Tora verleugnet und die Juden einer gesetzlichen Denk- und Lebensweise bezichtigt. Damit haben wir Gehorsam und Glauben an den Messias Jesus in Frage gestellt und die gemeinsame Sendung preisgegeben. Doch ist die Weisung Gottes, die Israel zuerst empfing (Röm. 9,4), der ganzen Menschheit gegeben (Matth. 28,19 f.).

Leitsatz VI – Israel: Volk, Land, Staat

Dankbar preisen wir die Treue Gottes, der sein Volk erwählt hat. Wir erkennen, daß untrennbar mit der Erwählung die Landverheißung verbunden ist. Die Erinnerung an diese Verheißung ist von Israel sowohl im Land als auch in der Diaspora lebendig gehalten worden. Das zeigen unter anderem der Festkalender und die Liturgie. Diese Beziehung zum Land hat auch Eingang gefunden in den politischen Zionismus und zur Gründung und Entwicklung des Staates Israel beigetragen. In unserer Zeit sehen wir in der Rückkehr von Juden ins Land Israel eine Bestätigung der Treue Gottes.

In dem allen werden die irdisch-geschichtlichen Dimensionen der Verheißungen Gottes den Christen und allen Völkern nachhaltig vor Augen und ins Bewußtsein gerückt.

»Und ich will die übrigen meiner Herde sammeln aus allen Ländern, dahin ich sie verstoßen habe, und will sie wiederbringen zu ihren Hürden, daß sie sollen wachsen und viel werden.« (Jer. 23,3)
»Denn so spricht der Herr Zebaoth, der mich gesandt hat, über die Völker, die euch beraubt haben:
Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.«
(Sach. 2,12)

Weil wir als Christen in einem besonderen Zusammenhang mit dem jüdischen Volk stehen, treten wir öffentlich für das Leben dieses Volkes ein und begleiten voll Hoffnung und Sorge das Leben der Juden im Land Israel und den Weg des Staates Israel. Wir widersprechen allen Bestrebungen, die das Lebensrecht Israels problematisieren. Mit unseren Gebeten und in politischer Verantwortung sind wir dem Staat Israel, seiner Lebensgestalt und seiner Entwicklung, besonders in seinen Gefährdungen und Bedrohungen, zugewandt und verpflichtet.

Leitsatz VII – Gemeinsame Weltverantwortung

In der Erneuerung der Beziehung zwischen Juden und Christen entdecken wir, daß wir, unterwegs zur Vollendung des Reiches Gottes, berufen sind, gemeinsam für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden zu streiten. Wir warten darauf, daß Gott selber eine neue Erde heraufführt, auf der Gerechtigkeit wohnt, und bitten darum, daß durch unser Tun in der Schöpfung Gottes schon jetzt das ihr verheißene Ziel aufleuchtet.

»So spricht der Herr. Haltet das Recht und tut Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe, daß es komme, und meine Gerechtigkeit, daß sie offenbart werde.« (Jes. 56,1)
»Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.« (2. Petr. 3,13)