Zum Reformationstag: Was nützt uns das Streiten?

Notat to go. Von Barbara Schenck

Ohne Streit gäbe es uns Christen nicht. Und Protestantinnen schon gar nicht. Am Anfang der Mission Jesu stand der Streit mit einer Frau. Die Reformationszeit war eine "Hochphase der Streitkultur". Und überhaupt: Streit gilt in der Geschichtswissenschaft als "Medium der Sinnproduktion".

"Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Eine kanaanäische Frau bittet den jüdischen Messias um Hilfe. Der lehnt ab und der verbale Schlagabtausch beginnt. Am Ende lenkt Jesus ein: "Frau, dein Glaube ist groß!" Er hätte auch sagen könne: "Frau, du hast mich besiegt." Die Argumentation der Frau war überzeugend. Das Fazit für die Religionsgeschichte ist: Der Christus aus dem Hause Israel ist nicht nur zum jüdischen Volk gesandt, sondern auch zu den Nicht-Juden, den Heidinnen (Matthäus 15,21-28).
Das Bild vom Hammer schwingenden Luther vor der Tür der Wittenberger Schlosskirche ist das Symbol zum Ausbruch der Reformation. Thesen an öffentlich zugänglichen Kirchentüren aufzuhängen war zur Zeit Luthers allerdings kein rebellischer Akt, sondern eine Form des akademischen Austauschs. Einerlei ob der Thesenanschlag des Reformators überhaupt stattfand - und wenn ja, am 31. Oktober 1517?, was Luther wollte, ist klar: einen "Austausch" über seine Thesen, "zunächst mit wenigen bei uns oder in der Umgebung Wohnhaften", so schreib er selbst am 5. März 1518.

Am Anfang der Reformationszeit folgte Religionsgespräch auf Religionsgespräch, zunächst nach dem Vorbild der mittelalterlichen Disputation. Argumente wurden vorgetragen und Wissen zur Schau gestellt. Doch jetzt es ging um Glaubenssachen. Seit wann sind bessere Argumente ein Grund, die innere Überzeugung aufzugeben? "Ich stehe hier und kann nicht anders!" Lenkt der Gegner nicht ein, wird er halt persönlich diffamiert. Selbst ein ansonsten auf rechte Wortwahl bedachter Gelehrter wie Johannes Calvin verfluchte Sebastian Castellio, einen Mann, mit dem er einst freundschaftlich verbunden war: "Bezähme dich Gott, Satan!"

Die reformatorische Streitkultur hatte ein Ziel: "Ausgrenzung und Vernichtung des Gegners".  Die Disputation mutierte zur Inquisition (Barbara Mahlmann-Bauer). Das ist die bittere Kehrseite des "Mediums der Sinnproduktion" - in Zeiten von Häresiegesetzen. Heute können wir das Streiten ganz anders genießen. Da ist der Reiz, aus dem anderen herauszukitzeln, was er wirklich denkt, und dabei selbst zu erspüren: Tragen meine Argumente? Wo sind die blinden Flecken meiner Sicht? Bin ich gefangen in meiner Herkunft oder verstrickt in persönlichen Erlebnissen? Das Ringen miteinander steht unter einer großartigen philosophischen Verheißung - frei nach Emmanuel Lévinas: Das Ich wird am Anderen.

Quellen:
Luther gegen Eck, Luther gegen Erasmus und die Dramaturgie theologischer Kontroversen. Von Barbara Mahlmann-Bauer, in: epd-Dokumentation Nr. 44, 29. Oktober 2013: Offene Räume statt feste Burg – Vor dem Reformationsjubiläum 2017, 37-46.

»Noch immer nicht Neues vom Thesenanschlag«.Von Volker Leppin, in: epd-Dokumentation Nr. 44, 29. Oktober 2013, 30-34.

Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive, hrsg. von Marc Laureys und Roswitha Simons, Super Alta Perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike Bd. 10, Verlag V&R Unipress 2010.

Zwischen Disputation und Polemik. »Streitkultur« in den nachinterimistischen Kontroversen. Von Irene Dingel, in: Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter, hrsg. von Henning P. Jürgens, Thomas Weller, Vandenhoeck & Ruprecht 2013.

Bericht von einer Tagung zum Thema Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3517

 


Barbara Schenck, 30. Oktober 2013