gerechte Sprache
Viele träumen ihn und drängen ihren Traum in den Alltag. Andere ignorieren ihn, weil sie sich bedroht fühlen wie von eigenen Träumen, die sie auch lieber vergässen. Der Traum von einer gerechten Sprache hat sogar zu einer eigenen Übersetzung der Bibel geführt. Ist das sinnvoll?
Nein, denke ich. Sprache kann gar nicht gerecht sein! Ihre Einzelteile entstehen nicht in derselben Epoche wie eine Verfassung. Ihre Zusammensetzungen sind nicht revidierbar wie Gesetze. Ihre Nutzer halten sich nicht an schriftliche Verordnungen. Sprache entsteht über Jahrhunderte. Wörter spiegeln längst vergangene Epochen. Bevor sie zu Grammatik und Orthographie gerinnt, hat sie lebendige Geschichte mündlicher Nutzung hinter sich. Ihre Wege sind krumm. Es gibt keinen normativen Idealzustand von Sprache, den man einfrieren könnte, um fortan nur noch gerecht zu sprechen.
Nein, Gerechtigkeit ist kein sinnvolles Kriterium im Umgang mit Sprache, aber Sensibilität oder Empfindsamkeit. Es ist weder sensibel, männlich daherzureden, wenn beide Geschlechter betroffen sind, noch empfindsam, nach einem Führer zu rufen, wo gerade einer Leben vernichtet hat. Fehlen Sensibilität und Empfindsamkeit, so helfen auch modische Wortmonster aus wohlmeinenden Sprachlaboren nichts. Auch wird kein Stern je leuchten, über den man beim Lesen stolpert.
Sprache lebt so schräg und gerade, so gekonnt und schrill wie wir. Aber in ihr leben auch alle vor uns. Abgrund und Horror lauern in ihr, aber auch Glück und Seligkeit. Im Gehäuse der Sprache finde ich Heimat. Ich kann ebenso schuldig werden wie versöhnen. Auch dichten und beten. Wer spricht und dabei auch etwas sagt, kennt die Bitte: Herr, vergib mir, denn ich habe nicht gemerkt, was ich gesagt habe!
MK