Es gibt Bücher, die niemals hätten geschrieben werden dürfen. Es gibt Bücher, die man hätte schreiben können, aber nie konzipiert worden sind. Es gibt Bücher, die geschrieben worden sind, aber leider wenig gelesen worden sind. Mittlerweile gibt es auch Bücher, die nur leere Seiten enthalten. Es gibt Bücher, die vollgeschrieben sind, aber einem nichts zu sagen haben…
Und es gibt Bücher, die längst hätten geschrieben werden müssen, die eine lange Vorgeschichte haben, in der die Ideen dazu heranreiften, die voll mit anregenden und erhellenden Inhalten sind und einem viel zu sagen haben – und die unbedingt gelesen werden sollten und die – wenn zwar vielleicht nicht in jedem, so aber doch wenigstens in jedem zweiten- pfälzischen Pfarrhaushalt und bei interessierten Gemeindegliedern vorhanden und gelesen worden sein sollten: Weil sie zum einen einem interessante, bisher unaufgearbeitete und wenig bewusste historische Sachverhalte der eigenen Landeskirche vermitteln, und zum anderen einen Ideenpool auch für heutiges christliches Engagement in den politischen und sozialen Fragestellungen und Konflikten der Gegenwart bereithalten. Und damit Denk- und Lösungsansätze aus biblisch-theologischer Sicht für heutige ethische Fragestellungen anbieten.
Dazu zähle ich das hier anzuzeigende Lesebuch von Karlheinz Lipp, das keine Monographie darstellt, sondern eben in chronologischer Reihenfolge Texte, biblische Meditationen und Stellungnahmen zu kirchlichen, kirchenpolitischen, gesellschafts- und wirtschaftsethischen Fragen der Weimarer Republik und in der beginnenden NS-Zeit in der Pfälzischen Landeskirche aus der Sicht der religiösen Sozialisten bietet. Dabei fällt nach der Gesamtlektüre auf, dass die Religiösen Sozialisten oftmals eine gesunde Selbstdistanz auszeichnet und dass sie ihre in den (kirchen-) politischen Raum getragenen Ideen stets biblisch-theologisch zu verantworten suchen, sie an eine Bibeltheologie zurückzubinden trachten und nach dem Heilswillen Gottes, der durch die Zeiten trägt, fragen. Dem Reich Gottes näherzukommen und es auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit anzustreben, dabei gleichzeitig zu wissen, dass man den „roten Himmel auf Erden“ nie im Vorläufigen wird schaffen können, das zeichnet die Positionen der meisten Religiösen Sozialisten in der Pfalz in dieser Zeit aus.
Kennzeichnend für die Haltung, die kirchen- und gesellschaftspolitische Positionen miteinander in ein intensives Gespräch zu bringen versucht und dies auch fertigbringt, sind – um nur einiges zu nennen-:
Diese und weitere auch für heutige Fragestellungen furchtbar zu machende Themen wird man mit Gewinn in diesem Lesebuch finden können. Ich kann mich aus Platzgründen nur auf einige wenige Themen und Inhaltsangaben beschränken und einige Linien auch weiter ausziehen, auch wenn ich als Rezensent der Themenfülle dadurch nicht annähernd gerecht werden kann. Aber vielleicht lässt sich der eine oder die andere dazu anregen, das Buch selbst zur Hand zu nehmen und darin zu stöbern, manches auch von mir hier Diskutierte möchte dazu stimulieren!
Das Lesebuch zu verfassen, ist nicht nur dem Interesse des Verfassers am Religiösen Sozialismus (deutschlandweit und in der Pfalz) seit 1981 geschuldet, sondern auch seiner vom Herausgeberteam erbetenen Mitarbeit am Projekt „Protestanten ohne Protest“ 2016, in dem er den Religiösen Sozialismus in der NS-Zeit in der pfälzischen Landeskirche beim Thema „Antikommunismus“ anspricht. Danach nahm er seine Forschungen zum Thema des Religiösen Sozialismus in der Weimarer Zeit wieder auf, und das Ergebnis ist das vorliegende, gut aufgemachte Lesebuch zu diesem Thema, das erstmals wissenschaftlich intensiver bearbeitet worden ist, eine echte Quellen- und Archivarbeit, deren Summa erfreulich und anregend ist. Die Zusammenstellung der Quellen orientiert sich meistens an der Chronologie und bietet eine Kompendium von Archivalien, Briefen, Schriften sowie Büchern und besonders ausführlich der religiös-sozialistischen Presse.
Dem Autor ist sehr wohl bewusst, dass er den Schwerpunkt auf religiös-sozialistische Pfarrer und Lehrer gelegt hat, und dass die weibliche Seite der Geschichte dieser Bewegung, die es sicher auch gibt, als noch zu erforschend reklamiert. Denn wenn auch diese Bewegung männerdominiert war, so gab es doch auch Frauen in der religiös-sozialistischen Bewegung, deren Beiträge genauer zu erschließen wären, wenn dies auch gewiss wegen der verstreuten Quellen kein einfaches Unterfangen ist. Beim Projekt „Protestanten ohne Protest“ ist dies hingegen gleich einbezogen worden dank der Beiträge von Friedhelm Borggrefe zur Frauenarbeit und Sigrun Wipfler-Pohl über die Pfarrfrauen in der NS-Zeit. Zu Recht wurde das Werk von K.Lipp über den im Projekt von Protestanten ohne Protest von der Landessynode beschlossenen Fonds für NS-Forschung gefördert.
Auch wenn der Autor mit Quellen und Zeittafeln keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, so bietet das Lesebuch doch einen aussagekräftigen Querschnitt des Denkens und des Engagements der religiös-sozialistischen Bewegung in der Pfalz. Der Schwerpunkt liegt auf der Weimarer Republik, es werden jedoch die Zeit der NS-Diktatur und die Anfangsphase der Nachkriegszeit berücksichtigt.
In seiner Einleitung (3ff.) beschreibt Karlheinz Lipp die Gründe für das Entstehen der religiös-sozialistischen Bewegung, den November 1918, als der Kaiser in Berlin und der König in München gingen, Kirchenfunktionäre, Pfarrer und Theologen aber blieben: „Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutet nur für wenige Teile des deutschen Protestantismus eine Chance zur Umstrukturierung von Gesellschaft und Kirche. Hier setzte die neu entstandene religiös-sozialistische Bewegung an, die gravierenden politischen Fehlentscheidungen der Kirche korrigieren wollte: das überwiegende Versagen angesichts der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert, die enge Anlehnung an den Staat und die Monarchie sowie die Unterstützung eines imperialistischen Kurses, der in den Ersten Weltkrieg mündete.“
Richtigerweise ordnet Lipp die pfälzischen Sozialisten jenen Gruppen nach 1918 zu, die sich offiziell erst 1926 zum Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands zusammenschlossen, vor allem mit den benachbarten Badener Genossen pflegten die Pfälzer enge Kontakte und luden sich gegenseitig zu Vorträgen, Gottesdiensten und erwachsenenbildnerischen Veranstaltungen ein. K. Lipp beschreibt m. E. völlig zutreffend die Position dieser Bewegung als „zwischen allen Stühlen“ sitzend: „Innerhalb der Landeskirchen dominierten die deutschnationalen Eliten, geprägt von tief sitzenden Vorurteilen und Ressentiments gegenüber sozialistischen Ideen und unfähig sowie unwillig zu einem offenen Dialog. Auch innerhalb der SPD wird die religiös-sozialistische Bewegung nicht gerade freudig begrüßt. Vor allem die starke Gruppe der Freidenker, die Kirche und Religion strikt ablehnten, bekämpfte den religiösen Sozialismus.“(3).
Das Lesebuch bietet nach der geschichtlichen Einordnung und der Zeittafel Quellen über die Vorgeschichte der Anfänge der religiös-sozialistischen Bewegung in der Pfalz ab 1912, als Oswald Georg Damian in Zürich bei Leonhard Ragaz, einem wichtigen Begründer des Religiösen Sozialismus, studiert und er als Vikar in St. Ingbert die Lebens- und Arbeitswelt der Bergarbeiter kennen lernt. 1923 wird die erste religiös-sozialistische Ortsgruppe in der Pfalz in Ludwigshafen gegründet. Der Badener Religiöse Sozialist Erwin Eckert hielt ab 1924 viele Vorträge in der Pfalz; am 9.11.1924 predigt er als erster religiös-sozialistischer Pfarrer in der Pfalz in der Heilig-Geist-Kirche in Speyer, und im selben Jahr bekennt sich Damian (Dahn) als erster Pfarrer der Pfalz zum Religiösen Sozialismus.
Ein besonderes Anliegen von Erwin Eckert war der politische Kampf gegen den drohenden Faschismus. Von Ende November 1930 bis Juli 1931 warnte er in unzähligen Versammlungen in ganz Deutschland vor der Gefahr des Nationalsozialismus. Der Pfarrer und damalige SPD-Stadtrat von Karlsruhe, Heinz Kappes bezeichnete ihn gar als den „erfolgreichsten Redner Süddeutschlands gegen den Faschismus“. (vgl. Friedrich-Martin Balzer/Karl Ulrich Schnell, Der Fall Erwin Eckert. Zum Verhältnis von Protestantismus und Faschismus am Ende der Weimarer Republik, Köln 1978). Erinnert sei auch an die interessante Tagung der Evangelischen Akademien Baden und Pfalz „Roter Himmel auf Erden? Der religiös Sozialismus“ im Heinrich-Pesch-Haus Ludwigshafen, 16.-18.4.1993; dort auch ein Vortrag Balzers in der Trinitatiskirche Mannheim, dem Predigtort Eckerts, und die Morgenandacht am 17.4.93 von Dr. F. Borggrefe zum Thema; villeicht wäre es ratsam, eine thematische Nachfolge-Tagung anzuregen mit inzwischen neuen Erkenntnissen zu den Thema)1
Das Lesebuch bietet dann sehr interessante Quellen ab den Anfängen in der Pfalz bis Mitte 1925, zu prägenden Tagungen der religiös-sozialistischen Bewegung etwa in Hochspeyer oder zum religiös-sozialistischen Volkstag in Kaiserslautern. Die Positionen der religiös-sozialistischen Bewegung zum Wahlkampf, die Wahl der Landessynode vom 22.5.1927 und zu den Themen der darauf folgenden Landessynoden bis 1932 werden dargestellt. Die Schul-Frage wird erörtert und die Theologie des religiösen Sozialismus wird benannt. Hier spielen in den Praxisfeldern vor allem die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Arbeitslebens sowie das Friedensengagement eine große Rolle.
August Kopp wird zum ersten Sozialpfarrer der Pfalz. Anhand des beruflichen Verlaufs werden Positionen der Kirche zur Arbeiterschaft und zu Wirtschaftsfragen exemplarisch aufgezeigt, aber auch, welche Widerstände es nach anfänglichen ersten Erfolgen der Arbeit des Sozialpfarrers in der pfälzischen Landeskirche gegeben hat.
Der weit über die Grenzen Badens hinaus bekannte religiös-sozialistische Pfarrer Erwin Eckert aus Mannheim und sein Verhältnis zu den Pfarrergenossen in der Pfalz wird aufgezeigt, und wie gegen den Rechtsdruck in Kirche und Gesellschaft vorgegangen wurde. Es ist immer wieder faszinierend, wenn man die Reden liest, wie sich Gedanken in die heutige aktuelle Situation in Kirche und Gesellschaft hineinspiegeln lassen, gerade wenn es darum geht, gegen den Rechtsruck in unserer Gesellschaft angesichts von Fake News, Coronaleugner und Rechtspopulisten und -radikalen in den aktuellen Konflikten der Gegenwart fundiert Stellung zu beziehen. Manche Antworten von damals sind auch heute fruchtbar zu machen und können aufzeigen, wie sich engagierte Christ(inn)en diesen Problemen gegenüber auf dem Boden des Evangeliums Jesu Christi positionieren können.
Schließlich kehrt der Autor chronologisch zum Dienststrafverfahren der Landeskirche gegen Damian, diesem ersten Verfechter religiös-sozialistischen Gedankenguts zurück. Vor allem seine wegweisende, geradezu prophetische Schrift „Die Religion ist nun Gefahr!“ von 1932 wird als hellsichtiges Dokument der Vergessenheit entrissen. Daran anschließend stellt sich die Frage, warum es in der pfälzischen Landeskirche bis heute nicht gelungen ist, Oswald Damian so zu würdigen, wie es angemessen wäre. Eine Idee aus dem Landeskirchenrat, ein Fenster im Amt in der Roßmarktstraße unter dem Titel „Zeugnisse des Glaubens" Oswald Damian und seiner Gemeinde zu widmen, wurde wohl verworfen. Auch stellt sich die Frage nach der Rehabilitierung von Pfarrern der Landeskirche, die von juristischen Unrechtsmaßnahmen betroffen waren, und wie man sich eben heute gegenüber den noch lebenden Familienangehörigen verhält.
Die Badische Landeskirche hat im April 1999 mit der durch den damaligen Landesbischof Ulrich Fischer betriebenen Rehabilitierung Erwin Eckerts gezeigt, wie so etwas würdevoll und angemessen – wenn auch viel zu spät – durch Kirchenbehörden gehandhabt werden kann. Dies steht m.E. für die Pfalz noch aus, eine späte Rehabilitierung wäre auch eine angemessene Antwort auf die Forschungsergebnisse des Projektes „Protestanten ohne Protest“. Die Idee Dr. Hans- Christoph Pickers, eine Büste Damians gegenüber dem Bildnis von Landesbischof Diehl in der Gemäldegalerie der Kirchenpräsenten der Pfalz im Landeskirchenrat in Speyer kontrastierend zu positionieren, um die verschiedenen Haltungen zum NS-Staat zu dokumentieren, wäre ein künstlerisch angemessener Umgang mit der Tatsache, dass Diehl schwerlich als Vorbild für heutige Theolog(inn)engenerationen dienlich sein kann. Schließlich wird in dem Lesebuch die organisatorische Entwicklung der religiös-sozialistischen Bewegung von 1930- 32 und deren Stellungnahmen in den letzten Wochen der Weimarer Republik dargestellt.
Darüber hinaus werden ausgewählte Texte zur Zeit nach der NS-Diktatur angeboten. Ende März 1933 erfolgte die nicht freiwillige Auflösung des religiös-sozialistischen Landesverbandes. Hier wird die weitere biographische Entwicklung der Religiösen Sozialisten Trumm, Wambsganß, Kopp und Damian dargestellt, #aber auch nicht verschwiegen, dass mit Julius Lehmann auch Einzelne aus der Bewegung der NSDAP beitraten. Für einige Religiösen Sozialisten war es ein langer Leidensweg: Trumm verlor die Leitung der Stadtbibliothek Kaiserslautern. In einer Rechtfertigungsschrift betonte er die besonders gefahrvolle Büchereiarbeit in den ersten Jahren im Saargebiet: „In dieser Zeit mussten wir alle Bücher durch ein groß angelegtes Organisationsnetz entlang der pfälzischen Grenze durch Arbeiter und Schüler in das Saargebiet schmuggeln.
Die Büchereien selbst wurden nur ganz geheim eingerichtet.“ (304). Georg Wambsganß aus Neuhofen trat 1933 aus der SPD aus. Kopp blieb den Nazis gegenüber reserviert, seine Ehefrau Luise Kopp verbat sich die Einmischung der BDM-Führerin aus Ludwigshafen in die Abende mit der Rehborner Gemeindejugend (310). Als einziger Pfarrer der Landeskirche verhaftete der NS-Staat den Pirmasenser Pfarrer Oswald Damian. Er wurde am 20.3.1933 in das Arbeitslager nach Neustadt gebracht und in den Ruhestand versetzt. Ein Jahr später wurde seine Zwangspensionierung aufgehoben. In der Pirmasenser Zeitung erschien dazu ein beschönigender Artikel über das provisorische KZ in der Turenne-Kaserne in Neustadt. Es ist gut, dass es dort heutzutage einen Verein gibt, der das Gedenken daran wachhält und sich auch in aktuelle Debatten einmischt (etwa zum Umgang mit dem Grab des ehemaligen Gauleiters Josef Bürckel auf dem Hauptfriedhof Neustadts).
Nach 1945 wird August Kopps Rolle in der „Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ nicht verschwiegen: In seiner Zeit als Oberkirchenrat und auch nach seinem Ruhestand (1954) bis zu seinem Tod (1970) betreute er zusammen mit Hans Stempel und Theodor Friedrich deutsche Kriegsverurteilte in den Niederlanden. Die Rede von „Kriegsverurteilten oder -gefangenen“ halte ich für unangemessen. Es waren deutsche Kriegsverbrecher, die schwerste Straftaten begangen hatten („Die Vier von Breda“) und Forschungen von Ronald Webster (330), aber auch etwa Bernhard Brunner (Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 132ff.) ergaben, dass über das gebotene Ausmaß von Seelsorge hinaus Versuche der Verurteilten, Rehabilitierung zu erreichen, vonseiten der Geistlichen unbotmäßigerweise und auch durch Mitarbeit in der problematischen, weil revisionistisch eingestellten “Stillen Hilfe“ unterstützt worden sind, obwohl keinerlei ernsthafte und etwa in Seelsorge-Gesprächsprotokollen dokumentierte Schuldbekenntnisse der Verurteilen zu vermelden gewesen wären.
Zu einem noch intensiver begründeten Urteil wird man sicher auch dann kommen müssen, wenn Nicolas Williams die im Auftrag der Landeskirche vergebene Studie zu Hans Stempel vorlegen wird. Ich halte nach wie vor das, was Prof. Martin Leiner aus Jena zu dem Thema „Schuld, Vergebung, Versöhnung-Gedanken zur Seelsorge an NS-Tätern“ im Rahmen der Tagung der Evangelischen Akademie der Pfalz am 29.10.2019 herausragend formuliert hat, für wegweisend in dieser Diskussion. Es ist gut, dass auch dies in dem Lesebuch von K. Lipp angesprochen wird. Die die Texte und Dokumente einleitenden Gedanken des Autors sind dabei hilfreich, gezwungenermaßen mussten sie relativ kurzgehalten werden; von daher empfiehlt es sich, bei den Lesenden besonders interessierenden Fragen zu Kontexten sich aus weiteren Quellen Kenntnisse zu verschaffen. Für eine grundlegende Einordnung freilich sind die Angaben von K.Lipp ausreichend und gut verständlich zu den Texten hinführend.
Die letzten Quellen zeigen, dass am 2.6.1945, nur wenige Wochen nach dem Kriegsende, die Landeskirche eine Erklärung über die parteipolitische Betätigung der Geistlichen erließ, in der ebenso Bezüge zur NS-Diktatur völlig fehlen, wie auch ein Bekenntnis zu dem demokratischen Neuanfang mit demokratischen Parteien. Die Erklärung zur parteipolitischen Betätigung betraf –Ironie der Geschichte- ausgerechnet den Religiösen Sozialisten Oswald Damian. Dies kommentierte die „Pfälzische Volkszeitung“ vom 12.4.1946: „Man hat offenbar in Speyer verschlafen, dass die Zeit der Diktatur vorüber ist, Der Landesbischof von Nazignaden, der Träger des goldenen Parteiabzeichens, Diehl, ist gegangen. Soviel Verstand hat er gehabt, einzusehen, dass seine Diktatur herum war. Seine Nachfolger haben das nicht gemerkt.“ (334)
Dass in der Entgegnung der Landeskirche ausgerechnet die Bischöfe Wurm und Meiser, „deren Namen heute hell klingen“, als Kronzeugen für ein Widerstehen der Kirche im der NS-Zeit genannt werden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie (vgl. die Beschreibung des Taktierens des antisemitisch eingestellten Hans Meiser in der so genannten „Judenfrage“ ("Der jüdische Verstand hat etwas Zerfressendes, Ätzendes, Auflösendes") und in der Auseinandersetzung mit opponierenden Pfarrern (etwa mit Karl Steinbauer, den ich noch auf einer Iwandtagung in Beienrode kennenlernen durfte) in: Gerhart Herold/Carsten Nikolaisen (Hg.). Hans Meiser (1881-1956). Ein lutherischer Bischof im Wandel der politischen Systeme, 2008 (2.Auflage), S. 53ff.). Die historischen Forschungen in Bayern führten dazu, die Hans-Meiser-Straße, in der das bayrische Landeskirchenamt angesiedelt ist, in Katharina-von-Bora-Straße umzubenennen.
In dem Roman-Manuskript „Zu spät“, das um 1960 entstand und erst 1982 teilweise veröffentlicht wurde, schreibt Damian: „Wir sehen die Kirche, weil sie nirgendwo anstoßen will, so oft in einer sogenannten neutralen Mitte, wir sehen sie oft zu spät, das heißt erst dann hervortreten wider die Mißstände der Zeit, wenn's billig geworden ist, wenn es kein Risiko mehr in sich schließt, wenn alle braven Leute ohnehin derselben Meinung sind, der die Kirche dann mit frommen Worten ihren Segen erteilt…So wird man den peinlichen Eindruck nicht los, daß die Kirche durch die Jahrhunderte mehr an die eigene Ehre dachte als an die Ehre Gottes und das Heil der Menschen…die evangelische Kirche und ihre Leitungen… haben mitgeholfen, Hitler in den Sattel zu setzen, und sich dessen noch gerühmt in einer Zeit, wo denen Antichristentum für jeden Sehenden längst offen zu Tage lag…Die Kirchen und ihre Leitungen hätten sehen müssen, wo andere, belogen und betrogen, noch blind waren.“ (O. Damian, Ein ganz persönliches Glaubensbekenntnis, 341).
Der Quellenband endet versöhnlich: Kirchenpräsident Stempel schrieb Damian zu dessen 75. Geburtstag am 3.3.1964: „Sie werden gewiß an manche Zeiten ungern zurückdenken und auch manche Maßnahmen des Landeskirchenrates verständlicherweise nicht in guter Erinnerung haben.“ Damian antwortet am 11.3.1964: „Daß die Kirche im 3. Reich schwer fehlte, aber schließlich doch wenn auch reichlich spät wenigstens in einigen Vertretern noch zu sich selbst gekommen ist, war immerhin ein Lichtblick in jenen dunklen Tagen, und dass die Kirche heute manches lobt und selber tut, was sie damals bei mir und anderen getadelt und verworfen hat, ist mir immerhin eine gewisse Genugtuung.“ (343)
Wer auf eine lange inhaltliche Entdeckungsreise gehen möchte, dem sei dieses Buch eindringlich ans Herzen und in den Verstand gelegt. Viele aktuelle Fragestellungen lassen sich im Anschluss daran gewinnbringend diskutieren. Da es auch einen „Pfälzischen Arbeitskreis für Kirche und Sozialismus" lange Jahre in der Pfälzischen Landeskirche gegeben hat, kann man fragen, was er für Inhalte und kirchenpolitische Positionen in den 60er und 70er Jahren vertreten hat, und ob er genügend aus dem vorhandenen Reservoir der Altvorderen geschöpft hat, warum er nicht weitergeführt werden konnte und warum erst jetzt eine solche Tiefenschürfung wie die von K. Lipp geschehen ist. Man kann fragen, ob genügend inhaltliche Impulse aus dieser Bewegung in Inhalte und Strukturen der pfälzischen Landeskirche eingeflossen sind, und man kann auch fragen, ob wir eigentlich genug aus unserer (Kirchen-) Geschichte gelernt haben, wenn man sieht, wie sich manche Fragestellungen von damals bis heute zwar unter ganz anderen (und besseren) Rahmenbedingungen, aber doch auf grundlegende ethisch zu reflektierende Weise erhalten haben. Man kann fragen, warum der „Verein für Pfälzische Kirchengeschichte“ sich dieses Themenbereichs nur wenig angenommen hat und man Aufsätze in den vereinseigenen „Blättern“ wenigen Spezialisten überlassen hat.2 War anderes immer wichtiger?
Es gibt Bücher, die müssen nicht gelesen werden. Dieses Lesebuch von Karlheinz Lipp, dem meine Hochachtung für seine Fleißarbeit gilt, sollten man/frau unbedingt lesen – im Zuspruch und auch möglicherweise im Widerspruch!
Karlheinz Lipp
Religiöser Sozialismus in der Pfalz in der Weimarer Republik. Ein Lesebuch
Studien zur Geschichte der Weimarer Republik Band 6
Berlin/Münster 2019
372 S.
29,90 €
1 Die Tagung der beiden Akademien war 1993. Sechs Jahre später, (erst) im April 1999 rehabilitierte die Evangelische Landeskirche Badens Erwin Eckert. Im Vorfeld hatte es eine Petition von 350 Personen aus dem Bereich der Landeskirche gegeben, in der dies gefordert worden war. In der Erklärung der badischen Kirchenleitung, die vom Landesbischof Dr. Ulrich Fischer und der Präsidentin der Landessynode Margit Fleckenstein unterzeichnet wurde, heißt es:
„Es ist heute nicht zu übersehen, daß das Handeln der damaligen Kirchenleitung gegenüber diesem einen ihrer Pfarrer als unverhältnismäßig erscheint, wenn man in Rechnung stellt, wie sie in der selben Zeit ´politische Pfarrer´ des nationalsozialistischen Lagers im Pfarrdienst duldete … und (die) darin ungehindert für den Nationalsozialismus werben konnten. … So führt kein Weg daran vorbei einzugestehen, daß die damalige Kirchenregierung, die betrieben hat, Pfarrer Eckert Ende 1931 `unehrenhaft´ aus dem Pfarrdienst zu entlassen, auf einem Auge blind gewesen ist. Sie hat ihrer Pflicht zur Überparteilichkeit nicht genügt, sondern hat – wie Eckert zurecht kritisierte – parteiisch gehandelt und eine prophetische Stimme unterdrückt…“.
Erwin Eckert war ein Kirchen- und Volkstribun, der die Massen mit seinen Reden und Predigten in den Bann zog. Als bedeutendster Redner in Süddeutschland gegen den Faschismus warnte er eindringlich vor dieser menschenverachtenden Ideologie. Gleichzeitig versuchte er, entgegen der offiziellen Parteilinie, die verhängnisvolle Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu überwinden und so die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu verhindern. In einem Gespräch 1992 über Erwin Eckert mit mir als Rheingönheimer Gemeindepfarrer (1989-1996) zeigte sich mein damaliges Gemeindeglied Oberkirchenrat i.R. Fritz Roos (1909-1994, er besuchte mich ab und zu im Pfarrhaus an der Hauptstraße 214) als Zeitzeuge eines dieser Vorträge von Eckert freilich wenig beeindruckt von den rhetorischen Fähigkeiten Eckerts: “Das lag nicht auf meiner Linie“, so Fritz Roos, der ein eher konservativer Theologe war und mit sozialistischem Gedankengut nichts anzufangen wusste. Dass einige Jahre mein Lambrechter Pfarrerkollege Peter Annweiler an der Predigtkirche Erwin Eckerts, an Trinitatis im Mannheimer Hafenviertel Schiffsseelsorger und Hafengemeindepfarrer war, hat mich sehr gefreut, auch wenn heutzutage die Kirche umgewidmet ist und für Kultur- und Tanzprojekte genutzt wird.
2 Man kann fragen, warum die „Neuen Wege“, die religiös-sozialistische Zeitschrift der Schweizer Religiösen Sozialisten hierzulande so wenig bekannt ist (sie hält immerhin die religiös-sozialistischen Ideen der geistigen Gründerväter Hermann Kutter und Leonhard Ragaz lebendig; ich erinnere an die vielen guten Beiträge von Willy Spieler) und warum “Christ und Sozialist. Blätter des Bundes der religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands e.V,“ nur noch von etwa hundert Leuten gelesen werden, obwohl der Bund bei jedem Kirchentag seinen gut frequentierten Stand hat und stets diskussionsanregende, gegen den Mainstream schwimmende Positionen einzubringen vermag, etwa in der letzten Nummer 2/20 zur „schwierigen Nachfolge in pandemischen Zeiten“, die Untersuchung zu sozialer und politischer Ungleichheit in der Covid-19-Pandemie, dem Postulat einer solidarischen Gesellschaft als Voraussetzung für den Frieden und einem guten Nachruf auf Erhard Eppler.