Predigt im Abschlussgottesdienst der Hauptversammlung des Reformierten Bundes
Frankfurt, Reformationstag im Calvinjahr 2009
(Nachschrift nach Stichworten)
"Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir."
Psalm 42, 2 - Tageslosung am 31. Oktober 2009
Liebe Gemeinde,
I.
Blättern wir ein wenig in den Übersetzungen des Verses.
"Wie der Hirsch Durst hat…". So der Schriftsteller Arnold Stadler wenig eindringlich. Dazu hätten wir keinen Schriftsteller gebraucht.
"Wie der Hirsch nach frischen Quellen schmachtet…". So schreibt Moses Mendelssohn eindrucksvoll.
"Wie die Hindin lechzt an versiegten Bächen…" So die neuere Züricher Übersetzung, kraftvoll und poetisch zugleich.
"Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser…"
Wenn wir so das Bild, das der Psalm mit Worten malt, umspielen, gelingt es dann, dass sich das Bild vergegenwärtigt heute und hier?
Heute am Ende dieser erfüllten Tagung. Hier in dieser so schönen Kirche, da uns die bunten Farben des Herbstes durch die Fenster grüßen.
Vergegenwärtigt sich das Sehnen der Kreatur, die einst lebensnotwendige Erquickung erfuhr, und nun in schrecklicher Ödnis quälenden Mangel leidet? Heute und hier?
Manche von uns mögen an Wüsten und Steppen decken, die das Heilige Land umgeben. Ich denke an den Sudan. Ein wüstes Land. Glühender Wind trägt den Staub der Wüste in die Stadt. Und nur am Nil, an der Lebensader der Länder dort, findet das Auge Erquickung. Gelingt es, diesen Schrei zu ahnen? Ich habe solch ein Tier nie so schreien gehört. Ja nicht einmal das Röhren der Hirsche in Zeiten der Brunft. Eine Hirschkuh ist es. Vielleicht sind die Jungen nicht weit.
Ich hoffe zuversichtlich, dass das Bild seine Kraft entfaltet, ganz allmählich, dass es sich mit unseren Erfahrungen verbündet und uns einlädt, nein nötigt, den Weg mitzugehen: Von dem schreienden Tier hin zu der Seele der Menschenkinder:
"…so schreit meine Seele, Gott, zu dir." Oder, besser noch und treffender: "…nach dir, Gott."
So hieß es einst im Liederbuch des Volkes Gottes. So wurde es aufbewahrt, gebetet, gesungen von Geschlecht zu Geschlecht.
Könnten wir die Sprache der Seele, unserer Seele verstehen, Techniken braucht es hier nicht, würden wir dann hören von Sehnsucht in wüstem Land, vom Sehnen nach Erquickung, lebensnotwendig, nach der Quelle des Lebens? Sehnsucht nach Gott.
Es ist ein Schreien in der Seele, fern von Gott. Warum? Der Psalm:
Weil die Krankheit das Leben aus der Bahn geworfen hat, ein Leiden, das allein Gott heilen kann.
Weil in der Fremde das Heimweh die Kraft der Seele verzehrt, und allein Gott Geborgenheit schenken kann.
Weil Ungerechtigkeit quält, Anklagen dem Unschuldigen im Nacken sitzen, die Verfolger nahen. Oder weil Ungerechtigkeit weit und breit mit immer neuem Schrecken das Herz schwer macht und sehnend nach Gott fragen lässt.
Und, fügen wir es hinzu, weil der Überdruss am Alltäglichen, auch an der real existierenden Kirche mit ihrem Gewusel, den Ränken und Eitelkeiten, all den törichten Geschäftigkeiten der Seele den freien Atem nimmt.
Weil es so leicht scheint und doch so schwer ist, fern von Gott zu leben.
Gewiss, man könnte leben, überleben ohne solchen Trost der Seele, ohne Erquickung. Ganz passabel vielleicht. Aber die Seele würde ihre Lebendigkeit verlieren, ihre Empfindsamkeit und Regsamkeit, ihre Empfänglichkeit. Und wir ahnen die tiefe Wahrheit in alten Märchen und großen Dramen, die davon wissen, wie es ist, wenn der Mensch seine Seele verkauft. Der Gewinn scheint so hoch, der Verlust aber ist entsetzlich. Wenn sie das kalte Herz eintauschen, das nichts mehr bedarf, und der Tod greift nach der Seele bei lebendigem Leib. Der Schrei der Sehnsucht wird erstickt. Das Leben ist erstorben.
Da geben sich die einen dann mit den Oberflächlichkeiten zufrieden, genügsam.
Andere plappern den redseligen Atheismus nach. Da fahren Busse durch das Land und plaudern es aus: Es ist kein Gott! Unaufgeregt. Und ahnen doch nichts von den Schmerzen des großen Verlustes.
Wieder andere hantieren weiter mit den geläufigen Formeln des Glaubens als wäre nichts geschehen. Bürokratisch und beachtlich moralisch. Aber das Vertrauen trägt sie nicht mehr. Das Sehnen ist verkümmert. Der Schrei erstickt.
Unser Psalm erinnert die Wallfahrten der Pilger, die keine Bestseller schreiben. Die aufbrechen in ihren Dörfern der Alltäglichkeit. Inmitten großer Gefahren das wüste Land durchziehen. Es sind Traditionen, die so gehen lassen. Und zugleich ist es die Sehnsucht nach Gottes Gegenwart. Und dann die Schwelle des Tempels. Verheißung und Sehnsucht, Erfüllung und Erquickung einander ganz nah. Das zittert nach in dem Schrei nach Gott, nach seiner Treue, seiner Weisung, seinem Namen, seinem Sohn.
Auf solchen endlosen Wallfahrten ist die Bitte des Mose ständiger Begleiter: Herr, lass mich deine Herrlichkeit schauen.. Und die redliche Bilanz des Apostels: Nicht dass ich’s schon ergriffen hätte… Weite Wanderungen; die "Verwohnzimmerung" droht hier nicht. Leuchtfeuer erhellen den Weg. Ist die Kirche der Freiheit hier unterwegs? Und ihr Ziel ist Gott.
II.
Eigentlich könnte ich hier aufhören. Ich wollte mit dem Psalm ja nur das Wunder der Sehnsucht beschwören, das sich im Psalm vergegenwärtigt. Die verstörende Verunsicherung in aller Behäbigkeit.
Aber, Sie ahnen es schon, es kommt doch noch was.
Drei Hinweise noch. Und dann eine Lesefrucht als Fußnote. Und wenn sich manches mit dem leise berührt, was wir bei dieser Versammlung schon gehört haben, dann ist dies beabsichtigt.
Drei Hinweise zunächst am Reformationstag im Calvinjahr 2009.
1. Das Calvinjahr verklingt. Allmählich. Der Reformator ist ein Migrant gewesen. Das Reformierte ist eine Konfession mit Migrationshintergrund. Kirche in der Wüste. Gemeinde unter dem Kreuz. "Erstaunlich modern, dieser Calvin…" So die Überschrift über einem gelungenen Vorwort im Calvin-Magazin. Ich weiß, selten sind die Autoren der Vorworte für die Überschriften verantwortlich. Erstaunlich modern... Wirklich so harmlos? Dieser Calvin.
In der Süddeutschen Zeitung war in einer Würdigung der großen Berliner Calvinismus Ausstellung unter der Überschrift "Vordrängeln ins Jenseits" schließlich zu lesen: "Kaum etwas ist uns Heutigen fremder als der Eifer, mit dem einmal um Gottes Gnade und seine Verherrlichung gekämpft wurde. Calvin, seine Freunde und Feinde, konzentrierten eine ungeheure intellektuelle Energie auf Fragen, die selbst den ernsthaften Kirchgängern des Jahres 2009 nicht verständlich sind. Über diese Art Vergänglichkeit täuscht die Berliner Ausstellung ein wenig hinweg." Fremd und vergänglich? Ja, vielleicht. Weil das Sehnen erkaltet ist, heute, bei uns modernen Leuten? Und ist bei dem, der ein Anwalt der Ehre Gottes wurde, jene Sehnsucht lebendig, verzehrend vielleicht? Bei seinen Leuten, die im Schrei nach Gott alles preisgaben und noch mehr gefunden haben? Sehnende. Nicht Wissende. Nicht Resignierende. Nichts Niederschwelliges.
2. Der Psalm erinnert die Wallfahrten. Er träumt vom Tempel, dem Ort der Gegenwart Gottes. Ich weiß, das Reden von "Heiligen Orten" ist uns etwas verdächtig. Aus gutem Grund. Und doch: Gibt es Orte, in denen die Erwartung zu wohnen scheint, beseelt von der Sehnsucht? Die nicht farbenfroh und im Goldglanz trunkenes, flüchtiges Glück vorgaukeln. Bildlose Tempel. Vom "Temple" sprechen die Protestanten in Frankreich, wenn sie ihre schlichten Kirchen meinen. Orte, die zur Sammlung der Gemeinde einladen, zur Sammlung der Seele im Verlangen nach Gott. Orte mit wunderbarer Kargheit, in denen die Sehnsucht wohnt. Einst hat Fulbert Steffensky gesagt: "Der Glaube an Gott lehrt das Misstrauen gegen die Götzen und Bilder. Es könnte sich ein Menschentyp herausbilden, der nicht mehr auf Argumente hören kann und der nur noch durch Bilder und Inszenierungen zu gewinnen und zu überzeugen ist. Wir haben in den letzten Jahren gesagt, dass wir von der Bildhaftigkeit, der inszenatorischen Fähigkeit des Katholizismus lernen müssen. Der Mund wurde vielen Protestanten wässrig, wenn sie an deren Weihrauch, Glöckchengeklingle, Weihwasser und Messgewänder dachten. Ich vermute, wir brauchen heute noch mehr das Charisma der Kargheit und das Misstrauen gegen die Augenschönheiten, die uns die reformierte Tradition lehrt." "Der Seele Raum geben" - hieß es damals bei der EKD Synode. Das heißt doch wohl: Auf dass ihr geholfen werde, mit anderen die Flügel auszubreiten voll Sehnsucht nach Gott. In seiner Gegenwart.
3. Bei all dem, was wir von Calvin zu sagen suchten, war mir sein Siegel eine vielsagende, konzentrierte Hilfe. Die Hand, die das eigene Herz Gott darbietet. "Cor meum tibi offero Domine. Prompte et Sincere." Auf dass Gott selbst es halte. Lass es dir gefallen, Gott. Und JC. Der Name Calvins? Mein Name? Der Name des Gottessohnes? Sie sollen nicht voneinander loskommen.
Und die Seinen sehen einander manchmal versonnen an: Brannte nicht unser Herz, als Er mit uns redete...? Und in solchem Erinnern ist das Sehnen nicht erloschen. Nach Erquickung, Wärme und Trost. Ein Sehnen, das in Gott Ruhe finden soll.
III.
Und nun noch die aktuelle Lesefrucht als Fußnote. Bei Herta Müller, der unlängst der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, fand ich in dem Roman "Der Fuchs war damals schon der Jäger" die folgende Passage:
"Aus einem Küchenfenster fliegt Rauch auf die Straße, es riecht nach verbrannten Zwiebeln. Über dem Herd hängt ein Wandteppich, eine Waldlichtung mit Hirsch. Der Hirsch ist so braun wie das Nudelsieb auf dem Tisch. Eine Frau leckt einen Holzlöffel ab, ein Kind steht auf einem Stuhl und weint. Um seinen Hals hängt ein Eßlappen. Die Frau wischt dem Kind mit dem Eßlappen die Tränen vom Gesicht. Das Kind ist zu groß, um auf einem Stuhl zu stehen, zu groß, um einen Eßlappen zu tragen. Am Ellbogen der Frau klebt ein blauer Farbfleck. Eine Männerstimme schreit, die Zwiebeln stinken, du stehst am Topf wie eine Kuh, ich geh in die Welt, ich gehe, so weit mich die Füße tragen. Die Frau sieht in den Topf, bläst in den Rauch. Leise und hart sagt sie, geh doch, pack deine Scheißereien in den Koffer und geh in deine Mutter. Der Mann zieht die Frau am Haar und schlägt ihr ins Gesicht. Dann steht die Frau weinend neben dem Kind, und das Kind schweigt und sieht zum Fenster."
In manchen Wohnzimmern wohnt das Entsetzen der Gottferne. Oder ist er nah? Und weckt die Sehnsucht. Erzählt davon auch der Hirsch an der Wand in diesem Zimmer? Wir lieben es wohl, uns in ästhetischer Arroganz über solche Bilder in mancher Stube zu mokieren. Ist da ein Sehnen?
In der FAZ wurde neulich an das wunderbare Gedicht der Lasker-Schüler erinnert: "Es ist ein Weinen in der Welt als ob der liebe Gott gestorben wär..." Sagen wir nun leise und unverzagt: Es ist ein Sehnen in der Welt, als ob Gott selbst uns entgegenkäme, uns zu trösten.
Amen
Gerrit Noltensmeier auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes
im Oktober 2009 in Frankfurt/M.