Gott vor Gericht

Predigt über Klagelieder 5 am Israelsonntag, 21.8.22 in der Kreuzkirche in Köln-Buchheim (violette Fassung des 10.S.n.T.)

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Von Rainer Stuhlmann

Elie Wiesel kam als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz. Als „arbeitsfähig“ beurteilt, lebte er in einer Baracke zusammen mit denen, die gerade so viel zu essen bekamen, wie zum Erhalt ihrer Arbeitskraft nötig war. Er war im orthodox-jüdischen Milieu Rumäniens aufgewachsen. Was er an unvorstellbarem Grauen in seinem jungen Leben in Auschwitz wahrgenommen hatte, davon hat er - Jahrzehnte später - in mehreren Büchern erzählt.

Für mich wurden seine Schriften vor allem deshalb wichtig, weil er eine besondere Weise gefunden hatte, von Gott zu denken und zu reden angesichts dessen, was er in Auschwitz erlebt hat. Eine für mich neue aufregende Perspektive. „Theologie nach Auschwitz“ nennen wir das heute. Eine jüdische Theologie, von der auch Nichtjuden lernen können.

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Elie Wiesel wird eines Abends Zeuge einer Gerichtsverhandlung, die sein Lehrer in der Baracke im Lager Auschwitz einberief. Er erzählt:
„Mein Lehrer hatte zwei andere gelehrte Rabbiner hinzugezogen, und sie beschlossen, Gott anzuklagen, in angemessener, korrekter Form, wie es ein richtiges rabbinisches Tribunal tun soll, mit Zeugen und Argumenten usw. …  Die Verhandlungen des Tribunals gegen Gott zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals war, das Urteil: Schuldig.

Und dann herrschte Schweigen… ein endlos langes Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer: ‚Und nun meine Freunde, lasst uns aufstehen und beten.‘ Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten zuvor von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“

Was für ein Widerspruch! Menschen beten zu Gott, über den sie gerade zu Gericht gesessen haben. Jüdinnen und Juden kennen diesen Widerspruch. Er besteht in Gott selbst. In Israels Gott. Und darum finden Jüdinnen Worte, die sich selbst in Auschwitz zu Gebeten fügen. Und darum kennen Juden Gebete, wenn Gott in ihren Augen seine Unschuld verloren hat.

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Vielleicht hat das Tribunal in Auschwitz das Klagelied gebetet, mit dem wir heute unseren Gottesdienst eröffnet haben. Seit Jahrtausenden betet die Judenheit die fünf Klagelieder Jeremias jedes Jahr im Hochsommer. Am Tischa b‘Av, dem neunten Tag des Monats Av. In diesem Jahr vor zwei Wochen. Am 7. August. Es ist der Gedenktag der zweimaligen Doppel-Katastrophe. Die Lesungen haben sie uns vor Augen geführt. Zweimal wird Jerusalem am gleichen Tag total zerstört. Einmal durch die Babylonier, rund 600 Jahre vor Christus, einmal durch die Römer im Jahr 70 nach Christus. Mit Jerusalem fällt zweimal auch der Tempel in Schutt und Asche. Der Anschlag auf das Volk Gottes ist auch ein Anschlag auf Gott selbst.

Am neunten Av fastet die Judenheit, 25 Stunden ohne Essen und Trinken. So führt sie sich die Kette ihrer Passionsgeschichten vor Augen, gipfelnd in der Shoa. Jede dieser Leidensgeschichten schreit nach Gottes Gerechtigkeit. Am Israelsonntag stimmen wir Christenmenschen in diesen Schrei Israels ein. In Solidarität mit der Judenheit auf der ganzen Welt. Und in den Klagebeten Israels wird das Leiden aller Völker und aller Kreatur aufgenommen. Sie sind Vorlagen für alle, die angesichts irdischen Grauens noch zu beten wagen.

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„Lieder“ nennen wir sie, weil sie hohe Poesie sind. Ihre eindrucksvollen Bilder und ihre sprachliche Kunst machen sie zu eingängigen Sätzen, die sich leicht behalten lassen. So werden sie im menschlichen Gedächtnis zu einem Fundus von Gebeten. Sie kommen uns auf die Lippen in Situationen, in denen uns das Grauen die Sprache verschlägt. Wenn eigene Worte fehlen, leihen sie uns solche, an die wir uns in unserer Sprachlosigkeit klammern können.

Entstanden sind sie wie moderne Poesie am Schreibtisch aus der Feder von Dichterinnen und Dichtern. Aber wie diese haben sie ihre Wurzeln in Stoßseufzern und Schreien angesichts von Vergewaltigung und Folter und in Flüchen und Verwünschungen angesichts von Blutbädern und Massenmorden. Sie geben uns eine Weise vor, mit Gott zu reden, die wir uns angesichts unserer kirchlichen und religiösen Prägungen kaum trauen.

Uns Evangelischen fallen, wenn überhaupt, Verse von Paul Gerhardt und anderen Liederdichtern ein. Aber die raten dazu, uns dem Unvermeidbaren klaglos zu ergeben. „Lerne zu leiden, ohne zu klagen!“ heißt es in deutschen Poesiealben. Das hat Generationen von stillen Dulderinnen und Duldern geprägt. „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, „Befiehl du deine Wege“ „Was Gott tut, das ist wohl getan“. Wer würde solche Lieder in Auschwitz anstimmen! Im Halse blieben sie uns stecken.

Die biblischen Klagelieder aber ermutigen uns, mit Gott zu schimpfen, Gott zu kritisieren, ihn zu tadeln, ihm Vorwürfe zu machen, ihn auf die Anklagebank zu setzen. Anders als in Vorwürfen und Anklagen ist in Auschwitz mit und von Gott nicht zu reden.

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Juden nennen die Klagelieder Jeremias „Megillat Ejcha“, die Schriftrolle des „Wie“.  Das hebräische Fragewort „wie“ ist das erste Wort in dieser Schriftrolle. Es eröffnet viele jüdische Klagegebete. „Wie?“ ist nicht nur Ausdruck von Neugier oder Wissbegier. Auch im Deutschen kann im „Wie“ der Vorwurf mitschwingen. „Wie?!“ „Wie nur?!“ „Wie kannst du nur?!“ „Wie kannst du, Gott, dir nur so widersprechen?! Wie kannst du dein Versprechen brechen?! Wie kannst du das Böse zulassen, das du nicht willst?!“

Es ist nicht die abstrakte Frage des leidverschonten Philosophen „Wie kann Gott das zulassen? Gott in der dritten Person. Gott als Begriff. Es ist vielmehr die bohrende Frage des Anklägers, der Staatsanwältin, der Anwältin der Kläger. Es ist die Stimme derer, die ihre Stimme erheben nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Millionen, denen das Recht vorenthalten wird.

Präzise formuliert der Prophet Jeremia (12,1): „Du, Gott Israels, bist gerecht. Darum führe ich einen Prozess gegen dich.“ Weil Du, Gott, Gerechtigkeit willst und Recht schaffst, halte ich dir das Unrecht vor. Ich klage nicht nur unverbindlich - wie die vielen Lamentierer –, ich klage dich, Gott, an. Und darum spiegelt sich im Klagelied der Verlauf eines Gerichtsprozesses.

Das Klagelied verliest mit 17 von 22 Versen (2-18) die Anklageschrift, „in angemessener, korrekter Form … mit Zeugen und Argumenten“, wie Elie Wiesel formulieren würde. Sie liest sich wie die Nachrichten aus Syrien und Afghanistan, aus der Ukraine und dem Jemen: Enteignungen, zerstörte Häuser, verwüstete Felder, entehrte Alte, missbrauchte Kinder, Leichen am Wegesrand, so viele Witwen und Waisen, Vergewaltigungen, Hunger, …

Die Anklageschrift ist gerahmt von eindringlichen Appellen zu Beginn: „Erinnere dich! Sieh her! Schau hin!“ (V.1) und es endet mit bohrenden Fragen: „Warum hast du vergessen… verlassen… verworfen… unmäßig gezürnt?“ (V. 19.20.22) und dem Schlussplädoyer auf Umkehr und Erneuerung (V.21): „Erneure unsre Tage wie vor alters!“ Appelle, bohrende Fragen und das Schlussplädoyer richten sich nicht an die Anklagebank, sondern an den Richterstuhl.

Verblüffend-provokant sitzen vor den Klagenden also auf Richterstuhl und Anklagebank nicht zwei Personen, sondern ein und dieselbe: Israels Gott. Israels Verbündete im Himmel. Vom Allmächtigen ist nicht zu reden ohne zugleich davon, dass er seine Macht nicht eingesetzt hat. „Warum hast du auf deine Macht verzichtet, als du dem Bösen Einhalt gebieten konntest? Stört es dich nicht, dass du darüber deine Unschuld verloren hast?“ Untrennbar verbunden mit seinem Volk im Leiden, trägt Israels Gott auch Schuld.

Es ist Gottes Selbstzerrissenheit, die Israels Gott von den Göttern der Völker unterscheidet. Gott im Himmel und auf der Erde, im Glanz und Niedrigkeit, in Kraft und Schwachheit, auf der Anklagebank und auf dem Richterstuhl. Und darin liegt auch die Hoffnung. Denn der Angeklagte ist auch der, der allein Recht spricht, Recht schafft und Recht behält. Noch hat die letzte Instanz ihr Urteil nicht gesprochen. Noch läuft das Verfahren, sind die Prozessakten nicht geschlossen. Noch ist Zeit zu Umkehr und Erneuerung. Für Gott und seine Geschöpfe.

So mit und von Gott zu reden, müssen wir in der Juden Schule lernen. In der Selbstentzweiung des Bundesgottes liegt die Hoffnung auch für die Völker und die ganze Schöpfung. Denn wenn der Schöpfer zu seiner Schuld steht, können seine Geschöpfe ihre Mitschuld er- und bekennen. Unvermittelt schlagen dann die Täter, Mittäter, Zuschauer und Weggucker an ihre Brust: „O weh, dass wir so gesündigt haben!“ (V.16). Die Christenheit hat nach bald zweitausend Jahren christlichen Antisemitismus am Israelsonntag zu erkennen und zu bekennen: „Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen“ (V.7). Die Schuld der Väter und Mütter „tragen“, heißt heute, entschlossen Verantwortung zu übernehmen für Umkehr und Erneuerung im Denken, Reden und Handeln.

Und Erneuerung im Glauben und Beten. Glauben und beten nach Ausschwitz? Eine „Theologie nach Auschwitz“ lässt zwei gängige Weisen, von Gott zu denken und zu reden, hinter sich. Das eine ist die naive und skandalös-harmlose Weise von Gott zu reden, vom „lieben Gott“, der „alles so herrlich regieret“. Sollte etwa alles, was geschieht, dem Willen Gottes entsprechen, selbst das schlimmste Grauen, selbst die Hölle von Ausschwitz?

Die andere Weise, den „Gottesbegriff nach Ausschwitz“ zu durchdenken, kommt zum Ergebnis, dass die Dimensionen des Bösen den Gottesbegriff absurd werden lassen und folgerichtig zum Atheismus führen müssen. Glaube an einen „lieben Gott“ oder „Atheist“? Wenn ich zu wählen hätte, würde ich ohne Zögern eher zum Atheisten.

Aber von Jüdinnen und Juden habe ich gelernt, an den lebendigen, den beweglichen Gott zu glauben. Er lässt sich meine Fragen gefallen. Die verzweifelte Warum-Frage. Die vorwurfvolle Wie-Frage. Die ungeduldige Wie-lange-Frage. Es sind die Fragen, die auch der Gekreuzigte gestellt hat, ohne eine Antwort zu bekommen.

Ich will nicht aufhören, die unbeantwortbaren Fragen zu stellen. Manchmal sind meine Gebete darauf reduziert. Manchmal ist meine Kraft, zu glauben und zu hoffen, reduziert. Aber Menschen, die ganz andere Höllen durchschritten haben als die kleinen, die mir zugemutet werden, ermutigen mich, die Hoffnung nicht fahren zu lassen, dass am Ende der lebendige Gott, die Quelle des Lebens, über Tod und Hölle triumphiert, dass die Gottheit ihre Selbstzerrissenheit überwindet, alles in allem wird. Alles schalom. Alles, wie es sein soll. Alles gut.

Amen.


Rainer Stuhlmann