Toleranz ist ...

Mittwochs-Kolumne von Barbara Schenck

Wer beim Weiterlesen ein Mutmach-Wort erwartet, wird enttäuscht. Fade klingt Toleranz, das Leitwort des Jahrs 2013 der "Lutherdekade". Was die Kirchenleute da feiern, wundert Juristen und Philosophen.

Toleranz heißt Duldung. Andersgläubige oder Andersdenkende zu dulden, das ist in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik - juristisch zumindest - eine überholte Forderung. Bereits 1919 garantierte die Weimarer Reichsverfassung die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen. Die Meinungs- und Religionsfreiheit im Grundgesetz Artikel 4, Absatz 1 und 2 zielt nicht auf bloße Toleranz, sondern auf die "wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche". Die Verfassung fordert also vom Staat mehr als Toleranz, denn er müsse "die religiöse Freiheit seiner Bürger achten und darf sich nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren", so Hans Michael Heinig. Toleranz sei heute keine Staatspflicht mehr, sondern Bürgertugend, sagt der Kirchenjurist. Diese Tugend jedoch gilt unter Philosophen als "mindere Tugend", als "Provisorium", allenfalls als ein "Anfang" hin zur Akzeptanz. Wird Meinungs- und Religionsfreiheit gewährt, dann gilt es diese zu respektieren, zu schützen, zu bewahren, nicht nur zu dulden.

Im EKD-Magazin zum Themenjahr "Reformation und Toleranz" wird das Ungenügende des Toleranzbegriffs erkannt. Mühsam wird um eine Erweiterung des Begriffs gerungen. EKD-Cheftheologe Thies Gundlach meint, Toleranz meine nicht nur ein "Hinnehmen", sondern ein "Sich-Bemühen um den anderen".
Im Anfang des Themenjahrs steht ein minderes Wort, als wüssten Protestanten nicht: "Sprache gibt vor, was zu denken ist" (Kurt Drawert). Oder wissen sie es doch?
Ein Fall aus dem Gemeindeleben: Mit einer Bitte wendet sich eine muslimische Gemeinde an ihre evangelische Nachbarin: Sie würde gerne den Gemeindesaal für eine Beschneidungsfeier mieten. Wie soll der Kirchenrat reagieren? Die EKD empfiehlt Zurückhaltung: Bei "religiösen Feiern" sollte mit "besonderer Sorgfalt" entschieden werden. Bloß keine offene Gastfreundschaft. Dann könnte ja der Eindruck erweckt werden, das Christentum weiche vor dem Islam zurück. Das ist kein "positive Anerkennung der Andersheit des Anderen" und damit auch keine "höhere Stufe der Toleranz" (Arnulf von Scheliha).

Schlichte Toleranz zu fordern klingt nach Gemütlichkeit, aus der Reserve lockt uns für Akzeptanz und Gastfreundschaft zu sorgen. Einen Vorteil jedoch hat der Ruf nach Toleranz. Er lastet nicht allzu schwer auf unseren Schultern. Die "mindere Tugend" Toleranz ist Ausdruck unserer Trägheit.

Literatur / Quellen
Comte-Sponville, André, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden & Werte, Reinbek bei Hamburg 2012 (franz. Original: Paris 1995).
Drawert, Kurt, Schreiben. Vom Leben der Texte, München 2012.
EKD-Handreichung "Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland" (EKD-Text 86), 2006.
Schatten der Reformation. Der lange Weg zur Toleranz. Das EKD-Magazin zum Themenjahr 2013; darin u.a.:
Thies Gundlach: Verdunkelter Christus.
Hans Michael Heinig: Bürgertugend, nicht Staatspflicht.
Von Arnulf von Schleliha: Lästiger Nahbereich.

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Barbara Schenck, 23. Januar 2013