Ende Januar wird der Forschungsverbund ForuM seine Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche veröffentlichen. Die Aufarbeitung beschäftigt auch die Landeskirchen.
Die Lippische Landeskirche geht aktuell zwei Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt nach, über die sie durch ihre Meldestelle bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. (Diakonie RWL) sowie die Fachstelle Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) informiert wurde. Beide Fälle ereigneten sich in den 1980er und 1990er Jahren. Ziel sei nicht nur eine detaillierte Aufarbeitung, so heißt es in einer Mitteilung der Lippischen Landeskirche. Die betroffenen Personen wünschten außerdem, die Vorgänge öffentlich zu machen – mit dem Ziel, dass sich gegebenenfalls weitere Betroffene oder Zeugen melden können.
"Wir als Lippische Landeskirche möchten bei den Betroffenen aufrichtig um Entschuldigung für das damalige Vorgehen und die seinerzeit unterlassene Aufklärung bitten. Zugleich werden wir die Fälle nun rückhaltlos und konsequent aufklären“, erklärte Landessuperintendent Dietmar Arends. "Wir sehen nach Einsicht der Akten in beiden Fällen schon jetzt, dass die damalige Aufarbeitung nicht ausreichend war, Fragen offengeblieben sind und nicht hinreichend notwendige Konsequenzen gezogen wurden."
Teil des Aufarbeitungsprozesses könne laut Lippischer Landeskirche unter anderem eine wissenschaftliche Studie sein. In einem möglichen Beirat sollten auch Betroffene sexualisierter Gewalt mitwirken – deren Expertise und Haltung misst die Lippische Landeskirche hohe Bedeutung bei. Diese zu finden, sei auch Absicht des öffentlichen Aufrufs. Gleichzeitig werde die Lippische Landeskirche aufgrund der Berichte sich meldender Personen prüfen, ob weitere rechtliche Konsequenzen gegen Verantwortungsträger eingeleitet werden.
Betroffene von sexualisierter Gewalt und sexuellem Missbrauch können sich an die Ansprechstelle der Lippischen Landeskirche wenden (Pfarrerin Susanne Eerenstein, E-Mail: ansprechstelle@lippische-landeskirche.de). Die Ansprechstelle steht ausdrücklich auch anderen Personen zur Verfügung, die mit ihrem Wissen zu Fällen sexualisierter Gewalt durch Mitarbeitende im Kontext der Lippischen Landeskirche zur Aufarbeitung beitragen können.
Auch die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland beschäftigte sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt. "Menschen suchen in der Kirche zu Recht Schutz und Hilfe für ihre Seele. Deswegen ist es skandalös und inakzeptabel, wenn Menschen sexualisierte Gewalt ausgerechnet im Raum der Kirche erleiden mussten oder erleiden müssen", sagt Präses Thorsten Latzel. Sexualisierte Gewalt sei dabei "kein Spartenthema“, sondern betreffe die ganze Gesellschaft. "Familie, Sport, Vereine, Schule – und uns als Kirche: Sexualisierte Gewalt, der Missbrauch von Macht aus sexuellen Motiven, ist weit verbreitet – viel weiter, als es noch heute viele Menschen, Funktionäre oder Verantwortliche wahrhaben wollen", sagte der Präses.
Auf landeskirchlicher Ebene sind im Rheinland bisher 70 Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt bei Pfarrpersonen und landeskirchlichen Angestellten seit 1946 bekannt und wurden der ForuM-Studie nach Aktensichtung zur Verfügung gestellt, unterstützt durch einen Strafrichter“, berichtete Vizepräses Christoph Pistorius (Leitung Stabsstelle Aufarbeitung und Prävention).
Im März 2023 hatten rheinische Kirche und Diakonie RWL die Ergebnisse einer Studie zur Gewalt im Martinstift in Moers vorgestellt. Als Konsequenz daraus wurde eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, diese befinden sich zum Teil in der Umsetzung. So werden z.B. Rahmenverträge mit Beratungsstellen ausgehandelt, um die Betroffenen besser begleiten zu können. Und die wissenschaftliche Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt auch in anderen Internaten in der rheinischen Kirche wurde in die Wege geleitet, erklärte Vizepräses Pistorius (weitere Informationen und Ansprechpersonen: https://www2.ekir.de/thema/missbrauch-sexualisierte-gewalt.
Der Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) hat 64 Fälle von sexualisierter Gewalt zwischen 1977 und 2020 gemeldet. Der Verband rechne aber mit mehr Fällen, sagte die Präventionsbeauftragte, die Psychologin Louisa Kreuzheck, am Montag
in Kassel. "Wir wollen mit der Kultur des Schweigens und Wegsehens brechen", erklärte das Bundesvorstandsmitglied Peter Keil. Deshalb habe der VCP aus eigenen Mitteln eine wissenschaftliche Studie über sexualisierte Gewalt im Verband in Auftrag gegeben.
Die Beschuldigungen reichen nach Kreuzhecks Angaben von Grenzverletzungen wie einmaligen oder gelegentlichen Berührungen über verbale Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Die meisten der dokumentierten Fälle hätten sich bei Pfadfinderlagern, Schulungen und privaten Treffen ereignet, erklärte Keil. Er bezeichnete "hierarchische wie auch freundschaftliche Strukturen" als Risiko.
Die Sprecherin des Beirats zur Aufarbeitung Sexualisierter Gewalt im VCP, Marlene Kowalski, kündigte den Beginn einer wissenschaftlichen Studie zur Aufarbeitung durch das Münchener Forschungsinstitut IPP und das Berliner Institut Dissens an. Ergebnisse würden Ende 2025 erwartet. Begleitet werde der Aufarbeitungsprozess durch den 2020 eingesetzten Beirat zur Aufarbeitung Sexualisierter Gewalt im VCP mit internen und externen Mitgliedern.
Der VCP ruft Betroffene und Zeitzeugen auf, sich bei den Forschungsinstituten per Mail unter aufruf-vcp@ipp-muenchen.de oder telefonisch beim IPP unter der Nummer 089 - 543 59 77- 0 (Di. 10-13 Uhr, Do. 12-15 Uhr) zu melden.
Ende 2020 nahm der Forschungsverbund ForuM mit einer unabhängigen Studie zum Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche seine Arbeit auf. Nach drei Jahren werden die Ergebnisse am 25.01.2024 veröffentlicht.
Die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre Landeskirchen haben die Aufarbeitungsstudie ForuM ausgeschrieben und finanziert, um mehr über die Gefährdungskonstellationen für sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie zu erfahren.