Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1491-1551)
Bucer, Martin (eigentlich Butzer; 1491-1551), * als Sohn eines Küblers und einer Hebamme in Schlettstadt im Elsaß, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Wohl weil sein Vater aus Straßburg stammte, zogen eine Eltern zehn Jahre später um besseren Verdienstes willen dorthin. Ihren Sohn ließen sie beim Großvater in Schlettstadt zurück. Dort besuchte er die Lateinschule und verschrieb sich frühzeitig dem humanistischen Ideal. Die Schlettstädter Dominikaner überredeten den 15jährigen, ihrem Orden beizutreten, um bei den Studien zu bleiben, »und ist an mir«, schreibt B., »das Sprichwort wahr geworden: die Verzweiflung macht einen Münch«.
Statt seiner Klassiker mußte er nun die Ordenstheologie studieren. Erst zehn Jahre später durfte er in den Heidelberger Konvent übersiedeln und die Universität besuchen. B. erwarb den Magistergrad und lernte bei Brenz das Griechische. Die Begegnung mit Luther bei der Heidelberger Disputation (April 1518) gewann ihn für die neue Theologie. Wie bisher auf Erasmus, so setzte er seine Hoffnung auf Luther. Als ihm humanistische Freunde dazu verhalfen, päpstlichen Dispens vom Ordensgelübde zu erhalten, wurde B. Weltpriester. Auf der Ebernburg fiel ihm der Auftrag zu, Luther Sickingens und des Kaiserlichen Beichtvaters Glapion Anerbieten zu überbringen, bei ihm statt in Worms zu verhandeln. Luther lehnte den Vorschlag ab. Ob B. in dieser Zeit mit dem »New Karsthans« und einem anderen Dialog publizistisch hervortrat, bleibt fraglich.
Der Kaplan, der am pfälzischen Hof und bei Sickingen gewesen war, wagte es 1522 als einer der ersten Priester, ehelich zu werden. B. heiratete Elisabeth Silbereisen, die 12 Jahre Nonne im Kloster Lobenfeld gewesen war. Nach Sickingens Niederlage verließ B. sein Amt in Landstuhl, um nach Wittenberg zu gehen. Zuvor wollte er seine Frau nach Straßburg bringen. In Weißenburg bat ihn der Stadtpfarrer, als Prediger zu bleiben. B. gewann zwar dort die Gemeinde, wurde aber durch den Bischof von Speyer gebannt. Heimlich mußte er die Stadt verlassen und kam nach Straßburg. In seiner »Verantwortung auf das Schreiben des Bischofs seiner Person halben« teilt er dem Rat mit, er sei in sein Vaterland gekommen, eine Zeitlang zu verweilen. Weiter sagt er: »Da ich etwas in Predigen und Lehren gelernt habe, das in göttlicher Schrift nicht ausgedruckt steht«, wollte er mit seinen Gaben der Stadt dienen.
In Zells Hause begann er die Schrift auszulegen, gewann die Zuneigung der Bürger und konnte bald auch im Münster predigen und seine ersten Schriften im Druck erscheinen lassen. Als B. 1524 zum Pfarrer von St. Aurelien von den Gärtnern vor der Stadt gewählt wurde, stand er im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den Altgläubigen, als deren Sprecher der Franziskaner Th. Murner und der Augustiner K. Treger hervorgetreten waren. Ihr literarischer Kampf ist viel beachtet worden. Gleichzeitig legte B. den Grund für die Neugestaltung des Gottesdienstes. Immer stärker rückte er in den Vordergrund und wurde zum Sprecher der Straßburger Kirche. Im Abendmahlsstreit ( Abendmahl: II, 3a) und in der Auseinandersetzung mit den Schwärmern und Täufern steht B. in der ersten Reihe der oberdeutschen Theologen.
Als Straßburg zur evangelischen Stadt wurde, mußte entschieden werden, in welchem Geiste die Neuordnung erfolgen sollte. Die Verbindung mit Basel und Zürich ließ eine gemeinsame Auffassung erstreben. B. ließ zwar Zwinglis Einfluß zu, gab aber seine eigene Auffassung nicht auf. Inzwischen hatte sich unter dem milden Regiment in Straßburg das Täufertum gesammelt und suchte sein Gemeindeideal zu verwirklichen. B. erkannte die Gefahr, die der Kirche von dieser Seite drohte. Auf sein unaufhörliches Drängen hin ist vom Rat eine Entscheidung herbeigeführt worden. Um den Gemeindeaufbau besser leiten zu können, wurde das Amt der Kirchspielpfleger eingeführt. Auf der Synode von 1533 wurden die 16 Artikel und »unser augsburgisches Bekenntnis«, d. h. die Confessio Tetrapolitana, als Lehrgrundlage festgelegt. Demselben Zweck dienten die Versuche zur Einführung der Konfirmation.
Die kirchlichen Kämpfe hatten B. zum Organisator des Kirchenwesens werden lassen. Gedanken, die er dem Rat hinsichtlich des Aufbaus der Kirche in zahlreichen Gutachten vorgetragen hatte, faßte er 1538 in seiner maßgebenden Schrift »Von der waren Seelsorge und vom rechten Hirtendienst« zusammen. Die innerkirchlichen Kämpfe hatten B. nicht nur die Kirchenverfassung straffer aufbauen, sondern auch seine theologischen Ansichten stärker ausprägen lassen. Im Gegensatz zum schwärmerischen Geistprinzip betonte er mit Nachdruck Amt, Wort und Sakrament. In seiner Abendmahlsauffassung berührte er sich mit dem jungen Luther. Wenn er unter dem Eindruck des Honiusbriefes eine Zeitlang eine andere Richtung einschlug, so sollte seine Theologie doch die Brücke zwischen Wittenberg und Oberdeutschland schlagen.
Seit der Speyerer Protestation stand B.s Aufgabe fest. Das Marburger Religionsgespräch hatte ihn enttäuscht und zugleich in seinem tiefsten Anliegen bestärkt. Seine unermüdliche Einigungsarbeit begann auf dem Reichstag von Augsburg 1530. Die von ihm und Capito dort in Eile entworfene Confessio Tetrapolitana ist dafür nicht eigentlich kennzeichnend; sie ist nur Ausdruck der Straßburger Haltung. Als B. im Einvernehmen mit den ev. Fürsten zu Luther auf die Coburg ritt, erfüllte sich seine Hoffnung, die im Abendmahlsstreit entzweiten Theologen wieder zusammenzubringen.
Die theologische und praktische Annäherung wurde ermöglicht. Jahre seines Lebens opferte B. dieser Aufgabe, seine oberdeutschen Freunde mit Luther zu vereinigen. Trotz Zwinglis Widerspruch blieb B. bei seinem Vorhaben. Schien nach Zwinglis Tode der Weg zur Einigung frei, so war doch für viele Schweizer der Standpunkt Zwinglis unaufgebbar. Immerhin hat B. weitgehende Verständigung erzielt und wachsenden Einfluß gewonnen. Magistrate oberdeutscher Reichsstädte wie Ulm, Memmingen und Augsburg ersuchten ihn, ihr Kirchenwesen zu ordnen.
Die Wirkung seiner Arbeit ist bei der Gewinnung Württembergs bemerkbar geworden. B.s Beziehungen zum Landgrafen Philipp von Hessen sind dadurch noch fester geworden. Auf dessen Veranlassung kamen B. und Melanchthon Weihnachten 1534 in Kassel zusammen, um über die Verständigungsmöglichkeiten weiter zu verhandeln. In seinen Formulierungen kam B. dem lutherischen Verständnis weit entgegen. Ein von B. entworfenes Bekenntnis rückte bald die Einigung in nahe Sicht. Im Mai 1536 wurde unter stattlicher Beteiligung oberdeutscher Theologen die Konkordie in Wittenberg vollzogen. Damit war B.s Aufgabe noch nicht beendet. In den folgenden Jahren bemühte er sich unaufhörlich um die Gewinnung der Schweizer. Schließlich scheiterten die Verhandlungen an Bullingers Widerstreben; so blieb der Konkordie der volle Erfolg versagt.
Als B. 1538 vom Landgrafen nach Hessen berufen wurde, sollte er nicht nur Kirchenordnungen aufstellen und durch Einführung des Ältestenamtes und der Konfirmation Einfluß auf das kirchliche Leben nehmen, sondern darüber hinaus an den großen kirchenpolitischen Aufgaben beteiligt werden. Beim Religionsgespräch in Leipzig und erst recht bei den bedeutsamen, von der kaiserlichen Politik bestimmten Verhandlungen in Worms und Regensburg 1541 steht B. im Mittelpunkt theologischer Bemühungen um Verständigung und kirchliche Einheit.
In Worms zur Abfassung einer neuen Einigungsschrift herangezogen, die unter dem Namen des »Regensburger Buches« bekannt werden sollte, hat B. die von Gropper entworfene Schrift gebilligt und meinte, eine Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre gefunden zu haben. In zahlreichen Berichten und Schriften hat er sich aus Überzeugung für den Vergleich eingesetzt. Es konnte nicht ausbleiben, daß er darüber in den eigenen Reihen viele Gegner bekam. Aber er hatte auch Freunde gewonnen. Als Erzbischof Hermann von Wied auf Grund des Regensburger Abschieds die Reformation im Erzstift Köln durchführen wollte, berief er B. im Dez. 1542 nach Bonn. Die von B. verfaßte »Kölner Reformation«, an der auch Melanchthon einige Abschnitte geschrieben hat, sollte als Grundlage der Neuordnung dienen. Die politische Lage ließ es aber zu keinem Erfolg mehr kommen.
Von Geldern aus schlug Karl V. zu und machte die Reformation des Erzstiftes zunichte. Äußerlich hielt B. an der Vergleichspolitik fest. In Regensburg 1546 mußte er noch mit spanischen Theologen verhandeln. B.s Name war inzwischen auch jenseits der Reichsgrenzen bekannt geworden. Staatsmänner und Vertreter der Kirchen wandten sich an ihn um Rat. Seine Korrespondenz sowie Gutachten und Traktate nahmen einen großen Umfang an. Einige seiner Schriften wurden ins Englische, andere ins Tschechische übersetzt. Als der Ausgang des Schmalkaldischen Krieges eine neue Lage geschaffen hatte, mußte auch Straßburg sich dem Kaiser unterwerfen.
B. wurde nach Augsburg entsandt, lehnte aber das »Interim« entschieden ab. Heimlich verließ er den Reichstag und schrieb in Straßburg den »Summarischen Vergriff der christlichen Religion, die man zu Straßburg in die 28 jar gelert«. Karl V. war entrüstet und verlangte seine Entfernung. Unter diesem Druck faßte der Rat den Beschluß, B. »abzufertigen«. Obwohl er Rufe nach Wittenberg, Kopenhagen und Genf hatte, zog B. um der größeren Wirkungsmöglichkeit England vor, wo ihn Erzbischof Cranmer mit hohen Ehren aufnahm.
Als kgl. Lektor der Hl. Schrift erhielt B. in Cambridge eine einflußreiche Stellung. Durch seine Gutachten zum Common Prayer Book und durch sein Eduard VI. gewidmetes Werk »De regno Christi« leistete er der englischen Kirche wertvolle Dienste ( Anglikanische Kirche: I, 1). Es fehlte aber auch hier nicht an Widerspruch und an theologischen Kämpfen. Durch ungewohnte Lebensverhältnisse und durch Krankheit wurde B. in seiner Arbeit behindert. Trotz aller Fürsorge von Angehörigen und Freunden ist er am 28.2.1551 in Cambridge gestorben und wurde dort mit großen Ehren beigesetzt. Die Gegenreformation sah freilich in ihm noch im Tode ihren Gegner. Unter der blutigen Maria wurde ihm der Ketzerprozeß gemacht. Seine Gebeine und Schriften wurden 1556 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Erst im Zeitalter Elisabeths ist sein Ansehen wieder hergestellt worden.
B. hat einen eigenen Typus der reformatorischen Theologie ausgeprägt. Mit Recht hat O. Ritschl von ihm geurteilt: »An theologischer Originalität war er Calvin überlegen, Melanchthon und Zwingli vielleicht ebenbürtig« (III, 125). Wenn seine Theologie sich nicht so ausgewirkt hat, wie sie es wohl verdient hätte, so lag es teils an ihm selbst, teils an der für ihn ungünstigen Lage. Der Theologe B. ist unter Luthers Einfluß gewachsen. Luthers Geist ist aus seiner Theologie nicht fortzudenken. Auf der anderen Seite ist er trotz der äußeren Trennung auch mit Erasmus fest verbunden. Gerade in seiner Schriftauslegung, die einen großen und bedeutsamen Teil seines Werkes darstellt, zeigt sich B. von Erasmus abhängig. In der Betonung des Gesetzes, der Verbindung von Glauben und Werken und ihrer Einwirkung auf seine Rechtfertigungslehre zeigt sich sein erasmisches Erbe.
Aufs Ganze gesehen prägt sich aber in seinen Kommentaren der reformatorische Zug deutlich aus. Durch sie hat B. in starkem Maße gewirkt und fruchtbare Anregungen vermittelt. Mit dem Vernehmen des Wortes beginnt für B. das Wirken des Hl. Geistes am Menschen, das zur Rechtfertigung vor Gott führt. Auf das Wirken des Hl. Geistes legt B. besonderen Nachdruck. Das war auch Luther in Wittenberg aufgefallen. Seine Ausdrucksweise erinnert bisweilen an die der Täufer. Der Geist erleuchtet die Menschen, die das Wort hören, und führt sie zueinander. Der Geist weckt in ihnen die Überzeugung und vermittelt ihnen die Gewißheit.
In Luthers Sinn betont B. die Heiligung als Ausdruck der Dankbarkeit gegen Gott. Neben Wort und Sakrament ist der Geist konstitutiv für die Kirche. Da B. Gesetz und Evangelium nicht im Gegensatz sieht, macht er für den Kirchenbegriff den at. Bundesgedanken geltend. Er kann daher als Vertreter der Föderaltheologie bezeichnet werden. Nach seiner Deutung finden sich in der Kirche die Erwählten zusammen, um das Reich Gottes zu verwirklichen. Zu den notae ecclesiae rechnet B. daher neben Wort und Sakrament auch die Kirchenzucht. In der Sakramentslehre hat er bei einem gewissen Spiritualismus doch immer an der Realpräsenz festgehalten.
Quelle:
Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Bd. 1, S. 1454ff.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlicht.
Calvin und die Natur
„Deus arcanus est agricola“ (Comm. Ps. CIV, v. 13)
Der Gott Calvins ist in der Tat der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der aus der Bibel spricht. Man kommt jedoch nicht umhin – trotz all seiner bedachtsamen Hinweise auf die Verderbtheit der Natur – die authentische, manchmal bis ins Lyrische hinein sich äußernde Liebe festzustellen, die Calvin für die Schöpfung empfindet. Möglicherweise ist er unbewusst, ohne dass dies die expliziten Formulierungen seiner Theologie beträfe, ein Vorläufer des Deismus. Noch deutlicher erweist sich das in seiner Predigt, in der die einfachen Menschen dazu aufgefordert werden, dem Zeugnis ihrer Sinne zu vertrauen, um sich eine Vorstellung von Gottes Größe zu machen. (Cottret, Bernard: Calvin. Biographie. Paris, J.-C. Lattès, 1995, S. 319)
Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft …
Calvin scheint den Geisteswissenschaftlern zu gehören. Als Stylist steht er am Anfang der modernen französischen Sprache, als Theologe ist er ein eindrucksvoller Denker und Leser der Schrift, als Jurist begründet er neuartige Organisationsmodelle, die in die Geschichte der Institutionen eingehen; vom Stofflichen und Lebendigen scheint der französische Reformator weit entfernt. Allenfalls gesteht man ihm zu, diese Dimensionen der Wirklichkeit dort zu berühren, wo er in einer, wie man meint, höchst zweideutigen Weise die Ökonomie und die Sexualität beeinflusst hat – mit einer „puritanischen“ Moral, was immer das heißen mag.
Ziel I: Das Calvin-Klischee korrigieren und aufzeigen, dass auch die Natur ein bedeutendes Thema bei Calvin und im Calvinismus ist.
Das eben beschriebene verengte Calvinbild sollte nicht unwidersprochen weiterwirken. Der begründete Widerstand gegen das Calvin-Klischee ist ein Argument dafür, dass wir für einen Themenbereich „Calvin und die Natur“ im Rahmen von Calvin 09 plädieren. Gewiss, Calvin spricht eher von Schöpfung als von Natur – er ist Theologe – aber mit Rücksicht auf die Naturkundler und die Naturwissenschaften kann er durchaus den nüchtern beschreibenden Gebrauch des Begriffs Natur zulassen. Dem schließen wir uns an, auch deshalb weil eine nicht spezifisch kirchliche Redeweise einem weltoffenen theologischen Erbe durchaus dienlich sein kann.
Calvins Naturverhältnis ist ein – vor allem in der breiten Öffentlichkeit (1) - verkannter und unterschätzter Aspekt seiner Modernität. Es gehört jedoch zu seinem Profil und ist bezeichnend für seine Theologie und seine Persönlichkeit. Calvin vergleicht die Natur mit einem „schönen Theater“, das uns Gott selbst vor Augen führt. Er bringt damit seine starke visuelle und ästhetische Sensibilität zum Ausdruck (auch sie fehlt völlig im gängigen Calvin-Klischee).
Er sagt auch etwas aus über die Natur, die als Gegenstand gläubiger Betrachtung die Anbetung des Schöpfers hervorruft. Oder lenkt sie etwa doch den Blick auf die ihr selbst innewohnende Göttlichkeit ? Der Deismus ist nicht die einzige denkbare und reale Abdriftung von Calvins Theologie der Natur. Diese ist gerade dadurch besonders spannend, dass sie, historisch betrachtet, ein System kommunizierender Röhren mit ihren Vermummungen und Verkehrungen bildet.
Bedeutende Anreger und Vordenker des modernen Naturgefühls und der modernen Bewegung für Natur- und Umweltschutz sind weitaus stärker von Calvin und vom Calvinismus abhängig, als ihre Polemik vermuten lässt. Sowohl Rousseau und der Rousseauismus als auch der unitarische Transzendentalismus Emersons und Thoreaus stehen mit dem Calvinismus in einem komplexen Verhältnis einer sich gerade in der Abgrenzung bestätigenden Verbundenheit.
Geistige Erben, die so unterschiedlich, so kontrastreich sind, werfen zwangsläufig Fragen auf zu dem Autor, der sie inspiriert. Calvin hat womöglich noch nicht alles gesagt in Sachen theologischer Deutung der Natur und Mensch-Natur-Verhältnis: neuere Forschungen (z. B. die von Christian Link) legen dies in der Tat nahe.
Ziel II: Die naturbezogenen Wissenschaften und Berufe für Calvin 09 interessieren und sie daran erinnern, wie sehr ihre eigenen Traditionen von Calvin und vom Calvinismus geprägt sind.
"Naturforschung und Naturschutz sind in den protestantischen Ländern entstanden" (Bernard Charbonneau). Ein zweites Argument, das hier vorgebracht werden soll, bezieht sich auf ein bestimmtes soziales und kulturelles Milieu, das unter Verweis auf seine eigenen tragenden Traditionen an den Gedenkveranstaltungen von Calvin 09 beteiligt zu werden verdient. Die Naturwissenschaften (hier insbesondere die Bio- und Geowissenschaften), sowie die dazugehörigen technischen Anwendungen, Kosmologie, Geographie und Ökologie, die „Naturberufe“ bis hin zu Landwirtschaft und Tourismus tragen geschichtliche Impulse in sich, die von Calvin und vom Calvinismus herkommen.
„Der Aufschwung der modernen Naturwissenschaften in Genf" (der Wissenschaftshistoriker René Sigrist gab seiner allgemeinverständlichen französischsprachigen Darstellung diesen Titel) (2) weist eine augenfällige und wesensmäßige Verbindung mit dem Protestantismus der „Cité de Calvin“ auf. „Eine intensive, anhaltende und couragierte Neugierde" zeichnet "calvinistisch-protestantische" Wissenschaftler und Entdecker aus, an die einer ihrer Nachfolger in der Gegenwart, der Genfer Botaniker Hervé Burdet, erinnert.
Schon ein flüchtiger Überblick gibt wenigstens eine Vorstellung von der entscheidenden Bedeutung des Calvinismus für Bereiche wie etwa die Landwirtschaftskunde (Olivier de Serres, "Vater der französischen Agronomie"), die Gartengestaltung der Neuzeit (Bernard Palissy, Claude Mollet usw.), die Entdeckungsreisen (Jean de Léry), Zoologie und Botanik (Guillaume Rondelet, Charles de l’Ecluse usw.). Die bisher Genannten sind allesamt Vorläufer, sogar regelrechte Gründerfiguren in mehreren Fällen; der calvinistische Einfluss wirkt jedoch weit über die Renaissance hinaus.
Ein Beispiel ist die kulturelle Aneignung des Hochgebirges im 18. Jahrhundert (Albrecht v. Haller, Horace-Bénédict de Saussure), eine mentalitätsgeschichtliche Umwälzung, die den Alpinismus begründet und mit ihm zum großen Teil den heutigen Tourismus und die inzwischen banalisierte Ästhetik der Steingärten. Im 19. Jahrhundert verkörpert das systematisch umfassende naturkundliche Werk von Louis Agassiz, gerade auch als Ausdruck der Atlantisierung des Calvinismus (Westeuropa und Vereinigte Staaten), in herausragender Weise alte Motive wie "das Buch der Natur" und den "Plan Gottes" (eine Deutung, die mit den derzeitigen Debatten über Intelligent Design und Kreationismus zu verknüpfen wäre, wo man sich – ob wirklich zu Recht? –auf Agassiz beruft).
Diese große Tradition von naturkundlich tätigen Gelehrten und Reisenden setzt sich im 20. Jahrhundert fort, etwa mit Théodore Monod. Im übrigen ist weder das derzeitige „Umweltprofil“ des intellektuellen und internationalen Genf noch der überdurchschnittliche Anteil französischsprachiger Protestanten an Umweltberufen zufällig, wenn man die hier skizzierte Perspektive berücksichtigt.
Ziel III: Den ritualisierten Vorwurf "Calvinismus = naturzerstörerischer Kapitalismus" überwinden und innerhalb der reformierten Kirchen eine "öko-christliche" Dynamik fördern.
Wir kommen damit zu einem dritten Argument : die ökologische Krise hat seit vierzig Jahren ein vertieftes Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Natur ausgelöst. Die zunehmende Störung der ökologischen Gleichgewichte, der schwindelerregende Verlust an Biodiversität und die Beeinträchtigung des Grundrechts auf eine gesunde Umwelt für gegenwärtige und künftige Generationen bewirken, dass die "Natur" zu einer Hauptsorge der Menschen wird.
Man übersieht oft, dass die heftige Diskussion über die "christliche Anthropozentrik" und über die historische Schuld des Christentums an der Zerstörung der Umwelt in einem calvinistischen Kontext entstanden ist. Die Absicht war ausgesprochen konstruktiv im Sinne einer Reform des westlichen theologischen Denkens und der von ihm geprägten Mentalität. In seinem Artikel „The historical roots of our ecological crisis“ von 1967 setzt sich der Kulturgeschichtler, Mediävist und Spezialist für Technikgeschichte Lynn White Jr. für ein durch die Wiederaufnahme seines franziskanischen Erbes erneuertes Christentum ein. White, der mehr berühmt als wirklich bekannt ist, nannte sich „einen Mann der Kirche“; er war der Sohn eines presbyterianischen Pfarrers und auch persönlich in dieser sich von Calvin ableitenden Kirche aktiv.
Seit dieser Zeit und in einem weltweiten Rahmen sind die reformierten Kirchen (und der Reformierte Weltbund/RWB) engagiert dabei, die sustainable society (nachhaltige oder zukunftsfähige Gesellschaft) und die integrity of creation (Bewahrung der Schöpfung) voranzubringen. Sie tun es auch durch ihren Beitrag zur ökumenischen Bewegung und zum Wirken des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Texte über die Schöpfung, die von verschiedenen ökumenischen Versammlungen der 70er, 80er und 90er Jahre verabschiedet wurden, tragen eine mehr als merkliche reformierte Handschrift. So stellt man etwa fest, um nur ein einziges konkreteres Beispiel zu erwähnen, dass sich gerade die Reformierten früh und stark für den Klimaschutz eingesetzt haben (vgl. die zusammenfassende Darstellung von Lukas Vischer, Churches on Climate Change. TEAÖS Nr. 18, Bern, SEK, 1992).
In diesem ökumenischen Kontext sind es Katholiken, die mit Aufmerksamkeit und Sympathie etwas herausarbeiten, was man als "calvinischen Kryptofranziskanismus" bezeichnen könnte.
So verdankt Calvin – in seinem Vorwort zur Genfer Bibel - seinem neu belebten Umgang mit den Psalmen einen umso größeren Eifer, es dem Sonnengesang nachzutun und die Schöpfung zu feiern : „Es sangen die singenden Vöglein für Gott, es schrien die wilden Tiere nach ihm, es fürchteten ihn die Elemente und die Berge hallten von ihm, blinzelnd blickten Flüsse und Quellen ihn an und Kräuter und Blumen lachten ihm zu.“ Ein Gemälde, das eines großen Epikers würdig wäre - eine Art biblischer Ronsard! (3) (Bastaire, Jean et Hélène, Pour une écologie chrétienne, Paris, Cerf, 2004, S. 49)
Es wäre sehr schade, wenn diejenigen, die sich auf Calvin berufen, es vernachlässigen würden, sein Gedenken auch an diesem wichtigen Punkt zu pflegen, für den, wie man sieht, auch katholische Freundinnen und Freunde durchaus sensibel sind.
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(1) Die wissenschaftliche Theologie ist diesem Thema durchaus schon länger auf der Spur. Vgl. z.B. die Arbeit des Straßburger Kirchenhistorikers Richard Stauffer: Dieu, la création et la Providence dans les prédications de Calvin. Bern, Lang 1978.
(2) René Sigrist: L’essor des sciences modernes à Genève, Collection "La savoir suisse", Lausanne 2004.
(3) Pierre de Ronsard ist der bedeutendste epische Dichter der französischen Renaissance.
(4) Das Buch enthält ein ganzes Kapitel über Calvins Beitrag zur Schöpfungsspiritualität.
Otto Schäfer
Kirchengemeinden, diakonische Einrichtungen und kirchliche Träger von sozialen Einrichtungen können hohe Zuschüsse des Bundes für klimaschützende Maßnahmen in Anspruch nehmen.