'Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist': Von Recht, Gnade und Dankbarkeit am Reformationstag erzählen

Eine Predigt zu Micha 6,6-8


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Von Paul Kluge, Leer

Liebe Geschwister,

ein Kirchentag in Hamburg, in den neunziger Jahren, stand unter dem Motto: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ Das Zitat stammt aus dem Buch Micha. Ein großes Kaufhaus nahe dem Kirchentagsgelände hatte in jedem der zahlreichen Schaufenster ein einzelnes, besonders edles Teil ausgestellt – und daneben das originale Kirchentagsplakat: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Man mag darüber streiten, ob diese Werbung geschmackvoll war; die Idee fand ich pfiffig.

Was dem Dekorateur wahrscheinlich nicht bewusst war: Mit der Kombination von Warenangebot und Bibelzitat hatte er ein Anliegen des Propheten Micha veranschaulicht. Vor dem Besuch heidnischer Tempel warnt Micha und vor der Verehrung falscher Götter.

Der Name des Propheten lautet eigentlich ‚Michael’ und bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt ‚Wer ist wie Gott’. Der Name ist auch Thema des Propheten: Die Einmaligkeit Gottes herauszustellen, seine Herrlichkeit und Größe. Wir wissen über Micha nur, dass er ein Zeitgenosse Jesajas war und um 720 vor unserer Zeit gewirkt hat.

Einem Abschnitt aus dem Buch Micha mochte ich heute ein wenig nachdenken: Micha 6, 6 – 8:

6 Mit welcher Gabe soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? 7 Gefallen dem HERRN Tausende von Widdern, ungezählte Bäche von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für mein Vergehen, die Frucht meines Leibes als Sündopfer für mein Leben? 8 Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.

Dieser Text weckt in mir zwei ganz unterschiedliche Bilder. Auf dem einen Bild sehe ich einen Prediger, der von hoher Kanzel den Leuten die Meinung geigt. Dieser Versuchung will ich nicht nachgeben. Das andere Bild zeigt mir zwei Männer, die bei einander sitzen und ruhig und ernst miteinander reden. Dieses zweite Bild möchte ich nun ein wenig ausmalen:

Den halben Tag, so stelle ich mir vor, war Micha durch die Straßen geschlendert. Die Stimmung des Volkes wollte er einfangen, die Meinungen der Leute hören. Mit Handwerkern und Händlern hatte er gesprochen und mit Bettlern, auf dem Markt mit einkaufenden Hausfrauen, hatte mit Kindern gespielt und den Unterhaltungen ihrer Mütter zugehört. Mitglieder des Stadtrats hatte er getroffen und nach ihrer Einschätzung befragt, hatte mit Priestern und Leviten diskutiert.

Um die Mittagszeit hatte er die Stadt verlassen. Außerhalb der Mauer hatte er sich in den Schatten eines großen Feigenbaums gesetzt, um das Gehörte zu verarbeiten. Da waren auf der einen Seite die Sorgen der Leute, Sorgen um das tägliche Brot und um die Gesundheit. „Hauptsache gesund“ hatte er oft gehört und hätte gern jedes Mal widersprochen: Hauptsache zufrieden! Auch große Sorgen um die Zukunft der Kinder hatte er wahrgenommen. Von Bestechungen hatte er gehört, von käuflichen Richtern auch und von der Gier der Reichen und Mächtigen nach noch mehr Reichtum und Macht – natürlich auf Kosten der kleinen Leute. Selbst mittlere Kaufleute und Handwerker mit mehreren Angestellten sahen die Zukunft eher düster, fürchteten um ihre Unternehmen und Betriebe.

Auf der anderen Seite, bei Politikern und Priestern, hatte er von Zuversicht gehört, dass alles gut wäre und noch besser würde. Schließlich habe man gute Gesetze und Vorschriften, die alles zum Wohle aller regelten. Und schließlich sei man ja dafür da, dass alles gut bliebe und noch besser würde.

Micha wunderte sich, wie unterschiedlich, ja gegensätzlich die einen und die anderen die Lage einschätzten; wunderte sich, dass die Verantwortlichen offenbar nicht wussten, wie es denen ging, für die sie da waren. Er würde, überlegte Micha, wohl bald die Verantwortlichen daran erinnern müssen, für wen sie verantwortlich waren.

Mit diesem Gedanken schlief er ein, und als er wach wurde, stand jemand neben ihm. Ein alter Schäfer, Micha kannte ihn flüchtig. „Durst?“ fragte der Schäfer und hielt ihm einen Krug entgegen; Micha trank. Der Schäfer pflückte ein paar reife Feigen, teilte sie mit Micha, setzte sich und schwieg. Schließlich sagte er: „Ich würde ja gern mal wieder in den Tempel gehen. Ich glaub, ich hab’s nötig. Das Leben in den Bergen, die Streitereien um Weideplätze und Wasserstellen – da braucht man schon mal seine Fäuste, und manchmal auch mehr.“ Der Schäfer schüttelte sich, als wolle er eine Erinnerung aus seinem Kopf schleudern. Schwieg wieder.

Micha ließ ihm Zeit, bis der Hirte fortfuhr: „Weißt du, was ich manchmal denke? – In dem, was ich so mitmache, auch durchmache, spiegelt sich das Schicksal unseres Volkes: Immer wieder gerate ich in Situationen, wo ich Gesetze und Gebote nicht halten kann; wo ich gezwungen bin, gegen sie zu verstoßen. Das macht mir manchmal ganz schön zu schaffen.“ – „Wer zwingt dich denn?“ fragte Micha vorsichtig und erhielt zur Antwort: „Die Umstände, das real existierende Leben. Leute, die andere Regeln haben als wir oder sich einfach nicht an unsere Regeln halten.“

Ob der Hirte denn den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verehre, erkundigte Micha sich; er wusste noch nicht, worauf der Schäfer hinaus wollte. „Aber selbstverständlich“, reagierte der fast empört, „darum will ich ja auch mal wieder in den Tempel und Opfer bringen.“ Ein paar tadellose Lämmer habe er schon ausgewählt, Öl gepresst, ein Kalb oder zwei wolle er auch noch organisieren und dann alles im Tempel opfern.

„Und du meinst, dann sei alles wieder in Ordnung zwischen unserem Gott und dir?“ bohrte Micha, etwas erstaunt über die Naivität dieses lebenserfahrenen Mannes. „Wieso denn nicht“, fragte der Hirte verwundert, „reicht das nicht? Soll ich wie in anderen Ländern meinen Erstgeborenen opfern? Verlangt der Höchste das von mir?“

„Der erwartet ganz etwas anderes von dir, von uns“, antwortete Micha und machte eine Kunstpause. Als der Hirte nicht reagierte, fuhr Micha fort: „Was Gott von uns erwartet, sind nicht Lämmer, Kälber und Krüge voll Öl. Davon leben die Priester, und sie leben nicht schlecht. Erst recht erwartet unser Gott nicht, dass wir unsere Söhne opfern, weder ihm, dem Höchsten, noch gar dem Vaterland oder dem Hof oder dem Betrieb. Solche Barbareien machen nur Heiden. Gott hat uns durch Abraham gezeigt, dass wir das nicht sollen.“

Micha unterbrach sich, um nicht über geopferte Söhne zu reden, denn dann fand er so bald kein Ende. Darum sagte er schnell: „Das Opfer, das unser Gott will, ist Dankbarkeit.“ – „Und wie, bitte, soll die aussehen?“ fragte der Hirte leicht pikiert. Micha konterte, etwas zu laut, wie er fand: „Das weißt du doch, Mensch! Hast es x-mal gehört: Die Gebote halten, das Gute lieben, Gottes Wort folgen.“ – „Hm“, grunzte der Hirte, „klingt ganz einfach. Aber wenn ich darüber nachdenke: Ein paar Lämmer und Kälber abliefern ist einfacher. Kann ich mir auch besser vorstellen: Eine Schuld wird bezahlt und damit basta.“

Micha holte tief Luft, dann begann er eine Melodie zu pfeifen. Bald pfiff der Hirte mit, zögerlich zunächst, doch dann wurde er in der Melodie immer sicherer. Schließlich begann Micha zu singen: „Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Schuld. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist seine Gnade über denen, die ihn fürchten. So fern der Aufgang ist vom Niedergang, so fern tut er unsere Übertretungen von uns.“ Nun pfiffen beide das Lied weiter, bis der Hirte Micha auf die Schulter klopfte, aufstand und pfeifend davon ging.

Amen

Liedvorschlag: 166, 1 – 4; RPs 119, 1 – 3; 289, 1 + 2; 670, 1 - 9


Pfr. i.R. Paul Kluge, Leer