Zu allem Bösen geneigt

Mittwochs-Kolumne von Barbara Schenck

"Ein Mörder lauert in jedem Menschen", sagt der Gerichtspsychiater Reinhard Haller. Der Kriminologe kennt kein Pardon. "63 Stichverletzungen, davon sieben im Gesicht, und acht lange tiefe Schnittwunden ... Noch nach dem bereits eingetretenen Tod wurden mehrere Stiche gegen den Kopf des Opfers und in beide Augenhöhlen geführt". So etwas Schreckliches soll ein "gesunder" Mensch tun können? Das kann nicht sein! Wissenschaftliche Untersuchungen sind ernüchternd: nur fünf bis zehn Prozent der Massenmörder sind "psychisch gestört" (Haller, 51). Die skizzierte Tat stammt aus der Hand eines schlanken, blassen, 18jährigen Mädchens (ebd. 77).

Eine Kunst ist es, das Böse im Menschen nicht zu verdrängen. Der Heidelberger Katechismus beherrscht sie: wir sind "geneigt zu allem Bösen" (HK 8). Sogar die Rede in der Ich-Form scheut der Katechismus nicht: "ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen" (HK 5). Unproblematisch ist es nicht, so zu urteilen. Schließlich werden wir nicht alle zu hassgetriebenen Verbrechern. Aber andererseits reden diese harten Worte das ganz normale Alltagsböse nicht schön.
Die Türklingel im Pfarrhaus schrillt. Der Pfarrer ist nicht da. Die Gemeindesekretärin auch nicht. Es klingelt Sturm. Meine Gedanken zur neuen Kolumne sind verscheucht. Ich - im Nebenamt auch Pfarrfrau - öffne die Tür.
"Ist der Pfarrer da?"
"Nein, der kommt erst am Abend zurück."
"Können sie mir etwas Geld geben?"
"Ich habe keinen Zugang zur Diakoniekasse. Aber ich kann Ihnen nur etwas zu trinken und zu essen geben."
"Etwas zu trinken wäre gut."
"Eine Flasche Mineralwasser?"
"Gut."
Ich wende mich ab auf dem Weg in den Keller. Da besinnt sich der Bittsteller eines Besseren: "Eine Flasche Cola wär' mir lieber!"
Hau ab!, denk' ich und sag': "Cola haben wir leider nicht im Haus. Sie können jetzt gehen." Die kalte Schulter ist gezeigt. Diese sublime Form des Bösen, die menschliche Kälte, macht auch vor der Pfarrhaustür nicht halt.
Angenehm ist es nicht gerade, auf das "ganz normale Böse" in mir zu schauen. Da wende ich mich lieber schnell der Frage zu: Was können wir tun, das Böse in der großen weiten Welt zu überwinden?
"Du sollst nicht töten!" - sagt Gottes Gebot, doch dies zu verkünden und im Strafrecht zu verankern, genügt offensichtlich nicht als Abschreckung vor der Tat. "Was will Gott im sechsten Gebot?", fragt der Heidelberger Katechismus. Seine Antwort lässt staunen:
"Ich soll meinen Nächsten
weder mit Gedanken
noch mit Worten oder Gebärden,
erst recht nicht mit der Tat,
auch nicht mit Hilfe anderer,  
schmähen, hassen, beleidigen oder töten.
Ich soll vielmehr
alle Rachgier ablegen ..." (HK 105).

Beleidigungen, Verachtung, Missachtung, kurz: die sublime Gestalt des Bösen im Alltag tötet und macht Menschen zu Mördern: "Was kränkt, macht nicht nur krank, sondern oft auch kriminell" (Haller, 8).
Also, nicht vergessen: "Liebe deinen Nächsten!". Die Aggressionen, die kommen trotzdem. Wohin mit ihnen? In den intellektuellen Wettstreit um die besten Ideen? Ins sportliche Kräftemessen? Ich persönlich bevorzuge das Gesellschaftsspiel am Wohnzimmertisch. Gleich geht's los. Munchkin: "Töte die Monster - Klau den Schatz - Erstich deine Kumpel". Die stille Barbara verwandelt sich in eine fiese Möpp.

Literatur
Haller, Das ganz normale Böse. Warum Menschen morden, Hamburg 2011

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Barbara Schenck, 16. Januar 2013