Über was ich mir so Gedanken mache

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 70. Kapitel


Von Tobias Kriener

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Es gab letztens von ein paar Leuten besorgte Anfragen, als Iran Raketen auf den Golan zu schießen versuchte. Das nehme ich zum Anlass, zwei Gedanken mitzuteilen, die mir in den letzten Tagen so durch den Kopf gegangen sind.

1. Wegen der Sicherheitslage mache ich mir derzeit keine Sorgen. Der Versuch des Iran, israelische Militärstellungen auf dem Golan mit Raketen zu beschießen, war eine Demonstration ihrer Inkompetenz und wohl vor allem auch der Unzulänglichkeit ihres Materials: 20 Raketen sollen abgeschossen worden sein, von denen 4 vom sog. "Iron Dome" - einer Raketenabfangtechnologie Israels, die inzwischen anscheinend sehr effektiv ist - abgefangen wurden. Der Rest ist auf syrischem Gebiet explodiert. In Israel lacht man sich kaputt über diese Demonstration der Unfähigkeit.

Als Antwort hat die israelische Luftwaffe iranische Stellungen in Syrien bombardiert. Als die syrische Luftabwehr versuchte, die israelischen Flugzeuge anzugreifen, hat Israel kurzerhand 5 syrische Luftabwehrstellungen zerstört.

Die israelische militärische Überlegenheit ist total.

Manchmal wird in den Medien hierzulande geunkt, dass Russland irgendwann die Geduld verlieren könnte. Ich glaube eher, dass Putin sehr genau weiß, dass seine Flieger dort zwar in der Lage sind, Städte und Dörfer ungeschützter Zivilisten dem Erdboden gleich zu machen, dass er sich gegen die israelische Luftwaffe aber nur eine blutige Nase holen würde, weshalb er das wohlweislich vermeidet, weil das nämlich sein mühsam gewonnenes standing in der Region gleich wieder gründlich ruinieren würde.

Und ich denke, selbst wenn die Hisbollah im Libanon so suizidal wäre, dass sie einen Raketenbeschuss Israels tatsächlich versuchen würden, würde der "Iron Dome" das allermeiste abfangen - und vom Libanon wäre nachher nicht mehr viel übrig. Ich denke eher, dass sie sich ausrechnen, mehr davon zu haben, ihre Erfolge bei den jüngsten Wahlen in politsches Kapital umzumünzen.

Ich hoffe, dass die Verantwortlichen in Teheran die neueste Demonstration der totalen militärischen Überlegenheit Israels mal dazu nutzen, in sich zu gehen und zu überlegen, ob es nicht an der Zeit ist, ihre Politik zu ändern: Statt eine aussichtslose militärische Konfrontation mit Israel zu suchen, sich lieber um die Entwicklung ihres Landes zu kümmern.

Es gab vor etwa einer Woche eine interessante Notiz in Ha'aretz, die darüber berichtete, dass inzwischen Iran, Saudi Arabien und die Türkei Israel bei der absoluten Zahl der wissenschaftlichen Publikationen überholt haben. Pro Kopf der Bevölkerung liegt Israel zwar immer noch vorne - und auch was die Zahl der Zitate in anderen wissenschaftlichen Publikationen angeht (ein Indikator für die Qualität der Forschung). Es kann also keine Rede davon sein, dass Israel in der Gefahr stünde, wissenschaftlich abgehängt zu werden. Aber die Zahlen zeigen doch an, dass alle drei Länder verstanden haben, dass Bildung der Schlüssel für die Zukunft ist. Wenn sie jetzt noch einsehen würden, dass Krieg und Terror sie nur zurückwerfen, und dass für einen wirklichen Entwicklungssprung Demokratie und Frauenempowerment entscheidende Faktoren sind, könnten sie tatsächlich die Kurve kriegen raus aus dem Teufelskreis von Diktatur und Ignoranz. Es wird noch ein weiter Weg sein. Aber dass viele junge Menschen inzwischen Zugang zu akademische Bildung bekommen - das zeigen die Zahlen an -, lässt hoffen. Denn auf Dauer lässt sich Wissen nicht für die Zwecke der Herrschenden kanalisieren, sondern wird sie herausfordern durch bessere Ideen für die Entwicklung ihrer Gesellschaften.

Dass die Arroganz und die Machtbesoffenheit, die die israelische Politik wie die israelische Öffentlichkeit derzeit an den Tag legen, ihrerseits kein gutes Omen sind, steht auf einem anderen Blatt. Sie sind aber überhaupt kein Argument dagegen, dass auf der anderen Seite endlich die Vernunft einkehrt.

2. Womit ich bei dem zweiten Gedanken wäre, der mich vor allem am Donnerstag beschäftigt hat, als wir Jad VaSchem besucht haben. Wir hatten eine sehr engagierte und gut informierte guide: Hedy, eine aus Schweden stammende Jüdin, die nach ihrer Pensionierung als Lehrerin nun Gruppen wie unsere durch Jad VaASchem führt.

Nachdenklich hat mich gemacht, dass sie - obgleich sie ganz zu Anfang ausdrücklich unterstrich, vor welchen Dilemmata die Menschen im Angesicht des Vernichtsungswahns der Nazis standen, und dass wir von unserer heutigen Warte uns auf alle Fälle hüten sollten, das Verhalten der Menschen damals zu beurteilen oder gar zu verurteilen -, sie dann während der gesamten Führung doch lauter Heldengeschichten aneinander reihte - eine beeindruckender als die andere. Der einzige Punkt, an dem etwas anderes als der Appell zur Zivilcourage aufschien, war der allerletzte Teil der Ausstellung, auf die sie ja hinaus läuft: Die Gründung des Staates Israel als Lebensversicherung in alle Zukunft für die Juden.

Je mehr Beispiele für beispiellosen Mut und Zivilcourage sie aufführte, desto mehr nagte in mir der Gedanke, dass es damals trotz all dieser beeindruckenden Beispiele eben nicht genug Zivilcourage gab - dass man sie ja, wie Hedy selber gesagt hatte, auch gar nicht fordern kann - und dass folglich auch für die Zukunft alle Erziehung zur Zivilcourage nicht helfen wird. Vor allem aus dem Grund, dass dann, wenn nichts mehr bleibt als Zivilcourage, bereits alles zu spät ist: Was sollte Zivilcourage denn auch noch ausrichten gegen das Deutsche Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht 1939 - 41? Sie hat ja nicht einmal am 20. Juli 1944 noch etwas ausrichten können, als die Niederlage Deutschlands schon gewiss war.

Nein - ich denke, die Lehre aus der Geschichte kann nicht sein, Zivilcourage zu fordern und zu fördern - so wichtig und unverzichtbar sie ist. Um so eine Katastrophe zu verhindern, ist meiner Ansicht nach etwas anderes nötig: Demokratische Institutionen, die wetterfest gemacht werden gegen die Machtansprüche von Einzelnen, von Gruppen - ob in Parteien organisiert oder als Lobbygruppen -, und vor allem auch gegen Machtansprüche der Mehrheit. Gerade die Geschichte des Untergangs der Weimarer Republik zeigt für mich, dass das Erringen eines Wahlsieges dem Wahlsieger nicht die Freiheit eröffnen darf, zu tun, was ihm beliebt.

Daher bin ich der Überzeugung, dass zum Schutz der Demokratie an erster Stelle ein Katalog unveräußerlicher Grundrechte notwendig ist, der durch ein starke und nicht auszuhebelnde Legislative gewahrt wird. Und was so besorgniserregend ist an der Entwicklung etlicher Demokratien in den letzten Jahren, ist, dass genau hier die Demokratiefeinde ansetzen - und zwar zum Teil erfolgreich: Beispiele dafür sind Polen und Ungarn; Trumps Wettern gegen die Gerichte ist wohl nicht ganz so aussichtsreich, weil die Verfassung der USA in der politischen Kultur der USA immer noch sakrosankt ist.

Aber in Israel ist der Sturmangriff auf das Oberste Gericht, dass in Ermangelung einer Verfassung die Institution ist, die die grundlegenden Menschenrechte gegen die Machtansprüche der Mehrheit schützt, in vollem Gang. Er wird angeführt von der Justizministerin selber, Ajelet Schaked (für mich die gefährlichste Poltikerin in Israel derzeit - viel schlimmer als der Opportunist Netanjahu, weil sie eine Überzeugungstäterin ist) von der nationalreligiösen Partei "HaBajit HaJehudi", für die zionistische und jüdische Werte über universalen Menschenrechten stehen, und die dabei ist, das Oberste Gericht so umzumodeln, dass es seine Rechtsprechung danach ausrichtet. Demselben Ziel dient die Gesetzesinitiative, nach der die Knesset mit einfacher Mehrheit ein Gesetz, das vom Obersten Gerichtshof abgelehnt wurde, wieder beschließen und damit einem weitern Einspruch des Gerichts einfach entziehen kann. Anlass dafür war die Entscheidung des Obersten Gerichts, das Gesetzt zur Deportation der afrikanischen Flüchtlinge für ungültig zu erklären. Das steckt auch hinter der Polemik gegen Menschenrechtsgruppen wie BeTselem und Breaking the Silence, dene vorgeworfen wird, sie akzeptierten das Ergebnis demokratischer Wahlen nicht und versuchten mit "undemokratischen" Methoden, die von der Mehrheit gewollte (Besatzungs-)Politik der Regierung zu untergraben - ein typisches Argument von Leuten, die den Kern der demokratischen Idee entweder nicht verstanden - oder sehr wohl verstanden haben, aber mit diesem "demokratisch" daher kommenden Argument gerade den Kern der westlichen Demokratie aushöhlen.

Darin sehe ich die größte Gefahr für Israel derzeit: Getragen von der Euphoriewelle über die absolute militärische Überlegenheit Israels würde die derzeitige Regierungskoalition Parlamentswahlen überlegen gewinnen - und speziell Netanjahu persönlich würde davon auch an der Wahlurne profitieren. Und das würden die Demokratiefeinde in der nächsten Legislaturperiode als carte blanche interpretieren, auch ihre innenpolitischen und verfassungspolitischen Vorstellungen ungeniert umzusetzen und eine "Tyrannei der Mehrheit" zu etablieren.

Okay - just my five cent, wie der Amerikaner so sagt ...

Genug für heute.


Tobias Kriener