Zürcher Wurstessen (1522)

Reformierte Inspirationen durch Zwingli


© Pixabay

Mit dem Wurstessen in der Fastenzeit hat Zwingli ein deutliches Signal gesetzt: Nicht die kirchliche Überlieferung, sondern das Wort Gottes soll für das Leben der Kirche maßgebend sein.

Zwingli in seiner Zeit

Die Schweizer Eidgenossenschaft war schon damals ein Sonderfall in Europa: Der Adel war vertrieben. Die Kantone regierten sich selbst. Es gab keine Fürsten und keine Könige. Nur der Kaiser wurde anerkannt, aber der war weit weg. Zur Zeit Zwinglis waren die Eidgenossen ein kriegerisches Volk. Sie waren für ihre Brutalität berüchtigt und wurden deshalb gerne als Söldner angeworben.

Die Sonderrolle der Schweizer Eidgenossen geht zudem zurück auf zwei Kriege: den Schwabenkrieg von 1499 und die Schlacht von Marignano von 1515. Im ersten Krieg können sich die Eidgenossen gegen Kaiser Maximilian durchsetzen. Sie vergrößern ihre Selbstständigkeit im Reich und erlangen eine gewisse Unabhängigkeit vom Kaiser. 14 Jahre später ziehen die Eidgenossen erneut in den Krieg. Es geht um das Herzogtum Mailand und um Handelsrouten nach Italien. Die Eidgenossen verbünden sich zuerst mit den Franzosen, dann mit dem Papst und erleiden schließlich 1515 eine katastrophale Niederlage. Auf beiden Seiten kämpfen Schweizer Söldner. 10.000 kommen bei der Schlacht von Marignano ums Leben. Trotz dieser Niederlage bekommen die Eidgenossen die Südtäler in den Alpen zugeschlagen und sie erhalten Handelsprivilegien. Festgehalten wird das in einem Friedensvertrag mit dem Französischen König.

Trotz dieses Friedensvertrages hat der Krieg bei den Eidgenossen Spuren hinterlassen. Vor allem bei Zwingli. Er selbst hat als Feldprediger an Feldzügen nach Italien teilgenommen. Aber nach dem blutigen Gemetzel von Marignano macht er eine Kehrtwende in seinem Leben. Er ist zwar weiterhin ein Anhänger der päpstlichen Militärpolitik, aber in ihm rumort es. Er wird bald zu einem entschiedenen Gegner des Söldnerwesens. Und in seiner zweiten Pfarrstelle am berühmten Wallfahrtskloster Maria-Einsiedeln beginnt er 1518, kirchliche Missstände zu kritisieren. Das ist in dem Jahr, in dem sich erste Nachrichten aus Wittenberg ausbreiten, und es ist das Jahr, in dem Luthers Thesen gegen den Ablass einem größeren Publikum bekannt werden.

Zwingli beschließt, 1519 eine Berufung als Leutpriester an das Zürcher Großmünster anzunehmen. Zürich hat damals etwa 60.000 Einwohner und Einwohnerinnen – zwanzigmal so viele wie Wittenberg. Regiert wird die Stadt durch einen ›Großen Rat‹ und durch einen ›Kleinen Rat‹. Zum ›Kleinen Rat‹ gehören die beiden sich abwechselnden Bürgermeister sowie vor allem die Zünfte und wenige Adlige. Der ›Kleine Rat‹ hat eine hohe Machtfülle; er ist gleichzeitig Regierung, Parlament sowie oberster Gerichtshof. Auch bei bestimmten kirchlichen Fragen versucht der Rat, Kompetenzen an sich zu ziehen.

Dies ist dem Rat möglich, weil der zuständige Bischof in Konstanz sitzt. Das Bistum ist das größte Bistum im ganzen Deutschen Reich. Es umfasst 1.800 Pfarreien, 350 Klöster und 15.000 Priester. In dem riesigen Bistum bildet Zürich ein eigenes Archidiakonat. Zürich war in gewisser Weise also eine eigenständige Verwaltungseinheit des Konstanzer Bistums.

Diese politischen und kirchlichen Gegebenheiten im Zürcher Stadtstaat sind Voraussetzungen für die rasche Einführung der Reformation in Zürich.

Zürich ist damals eine aufstrebende Handelsstadt und zugleich ist sie von der traditionellen Frömmigkeit des Spätmittelalters geprägt. Das sieht man schon beim Gang durch die Stadt. Das Stadtbild ist von zahlreichen kirchlichen Institutionen durchzogen: Das Großmünsterstift mit der Pfarrkirche St.Felix und Regula, die Benediktinerinnenabtei am Fraumünster, die Pfarrkirche St. Peter, die Klöster der Prediger, Barfüßer und Augustinereremiten, Dominikaner am Oetenbach und zu St. Verena. Weitere Einrichtungen gab es am Stadtrand und im Umland.

Die zahlreichen kirchlichen Einrichtungen zeugen von einer intensiven Volksfrömmigkeit in Zürich. Diese Frömmigkeit wurde befördert durch die Erfahrung von Tod und Sterben in Kriegs- und Pestzeiten. Aber auch der Reichtum der Stadt spielt eine Rolle. Es gab Bruder- und Schwesternschaften, Prozessionen und Wallfahrten, Ablässe, Heiligen- und Reliquienverehrung sowie kirchliche Kunst und erste Drucke geistiger Literatur.

Mittelpunkt der Frömmigkeit war die Messfeier, die Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz, und die damit verbundene Erlösung des Menschen von Sünde und Schuld. Der tägliche Vollzug des Messopfers war Pflicht eines jeden Priesters.  Die Messe vermittelte den Lebenden, aber auch den Verstorbenen im Fegefeuer, die sichtbare Gnade Gottes. Diese Vorstellung führte zu einer starken Vermehrung der Messen, aber auch zu Vermarktung und Sinnentleerung. Nicht nur dem Volk, auch vielen Priestern waren nicht mehr klar, worum es bei der Messe eigentlich ging.

Neben der Messe gab es auch den Predigtgottesdienst. Er war Sache der Leutpriester oder der Orden. Er diente in erster Linie der Erbauung. Zwingli ist einer von diesen Leutpriestern, als er am 1. Januar 1519 seinen Dienst in Zürich aufnimmt. Er beginnt eine fortlaufende Auslegung des Matthäusevangeliums. Predigt des Evangeliums ist sein Programm auf den Spuren der Reformation in Wittenberg.

Mitten drin statt nur dabei – Resonanz auf gesellschaftliche Prozesse

„Zwingli war ein Lebemann“: Mit diesem Artikel hat vor einiger Zeit die Neue Zürcher Zeitung ihre Leser überrascht. Darin heißt es: „Zwingli war gar kein Zwinglianer. Er war Gourmet, trank mit Genuss und war für weibliche Reize empfänglich. Zum 500-Jahr-Jubiläum [braucht es eine] Rehabilitierung eines vermeintlichen Lustfeindes.“ Ob Zwingli ein Gourmet war, kann man mit einem vorsichtigen Ja beantworten. Er liebte Schweizer Milchsuppe, die beim Ersten Kappeler Landfrieden 1529 als Friedensspeise bekannt wurde. Im ostschweizerischen Wildhaus kann man die Küche seines Elternhauses besichtigen. Sie ist von ähnlichem Ausmaß wie das Arbeitszimmer seines Vaters, des Ortsbürgermeisters. Ob Zwingli mit Genuss trank, kann man mit einem kräftigen Ja beantworten. Der Weingenuss zählt zu den reformatorischen Freiheiten. Und was Zwinglis Empfänglichkeit für weibliche Reize betrifft, kann man klar sagen: Ja, so war er, und das war nicht immer gut so. Zwingli war auch hier mitten drin statt nur dabei.

Wer ist der Mann, der sieben Wochen nach Martin Luther zur Welt kommt und mit diesem mehr teilt, als viele vermuten? Wer ist der Mensch, von dem der Theologe Karl Barth sagte, dass er „wie eine überhängende Wand“ vor ihm stehe. Wer ist der Reformator, der in der dramatischen Situation des Ersten Kappeler Krieges 1529 den Rat von Zürich mahnt, „um Gottes Willen etwas Tapferes“ zu tun und sagt: „Bleibt standhaft in Gott […], bis das Recht durchgesetzt wird.“

Zwingli ist ein Mensch, der beherzt in die Öffentlichkeit tritt und das Öffentliche zu seiner Sache macht. Neben aller religiösen Hingabe an Gott lenkt er seinen Blick auf das soziale Gefüge unter den Menschen – als Pfarrer und als politisch denkender Mensch. Er interessiert sich brennend für die Menschen und ihre soziale Situation in einer Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit.

Das fängt schon früh in seinem Leben an. Als Zwingli im Sommer 1506 Priester in der Stadt Glarus wird, liegt ihm ein Thema besonders am Herzen: das sogenannte Reislaufen, was nichts mit dem Nahrungsmittel Reis zu tun hat. Reisige sind Soldaten. In der Schweiz gab es die Einrichtung des Reislaufens, bei dem Städte und Ortschaften junge Männer als Soldaten für fremde Heere zur Verfügung stellen mussten – etwa für das Haus Habsburg, für Frankreich oder die päpstlichen Truppen. Weil das gut bezahlt wurde, konnten die Orte ihre eigenen Finanzen aufbessern. Ein Fundraisingmodell der besonderen Art!

Zwingli ist das von Anfang an ein Dorn im Auge. Seine Kritik am Dienst von Soldaten in einem fremden Heer wächst im Jahr 1515. Damals wird er Zeuge der schrecklichen Schlacht von Marignano in der italienischen Lombardei, bei der viele Tausend Schweizer Söldner gegen die Franzosen umkommen. Dieses Ereignis schockt Zwingli zutiefst. Später schreibt er: [Folie Banker] „Fragt nun aber jemand: Wie können wir denn wieder zu Einigkeit und Frieden kommen? So hieße die Antwort: Mit der Beseitigung des Eigennutzes.“ Einigkeit und Frieden lassen sich nicht durch Waffen herstellen. Vielmehr sollen die Menschen verstehen, was der Grund für Unfrieden ist – nämlich der Eigennutz und die Unfähigkeit, die Interessen der anderen zu begreifen.

Nun steht Zwinglis Entschluss fest: Er will das Fremdenlegionswesen in Glarus nicht durch seine Anwesenheit unterstützen und quittiert den Dienst als Priester. Hier wird deutlich: Zwingli hat ein Auge nicht nur für den Glauben der Menschen, sondern auch für ihre Lebensbedingungen. Er ist davon überzeugt, dass Kriegsdienst der Stadt schlecht bekommt. Kräftige junge Männer sind für die Stadt und ihre Entwicklung verloren, und wenn sie zurückkommen, bringen sie die Rohheiten des Krieges mit. Das soziale Gefüge der Stadt droht in eine Schieflage zu geraten. Die Menschlichkeit und das Zusammenleben nehmen Schaden.

Auch später, als er 1519 Pfarrer am Zürcher Großmünster wird, ist er brennend daran interessiert, wie der Glaube im Alltag ein Gesicht bekommt. Das Christliche lässt sich nicht auf die religiöse Innerlichkeit beschränken. Es erstreckt sich auf den ganzen Menschen und auf sein Leben – ob im kulturellen, gesellschaftlichen oder politischen Bereich. Wer danach fragt, wie man achtsam mit der Not der Schwachen umgehen kann, der kann sich auf Zwingli berufen. Ihm ist es wichtig, dass Menschen in Not Hilfe und Unterstützung bekommen.

So lebt er auch selber: Als die Pest in Zürich wütet, geht er zu den Kranken und Sterbenden, um sie zu trösten. Dabei steckt er sich an, ist monatelang krank und kommt nur mühsam wieder auf die Beine: „Es ist nicht die Art eines christlichen Menschen, großartig über den christlichen Glauben bloß zu reden, sondern zusammen mit Gott immer Schwieriges zu meistern und Großes zu tun.“ Auf das Tun des Guten kommt es an. So leben Christen wahrhaft christlich, wenn sie selber anpacken, Not lindern und sich öffentlich für ein friedliches Zusammenleben stark machen. Das gilt auch für die Kirche: Wenn sie nah bei den Menschen ist und sich für ihre Situation interessiert, ist sie Kirche im Sinne Zwinglis. Wo immer das geschieht, tun Christen um Gottes Willen etwas Tapferes.

Auf Gott hören und ihn loben – Bibel, Gottesdienst und Spiritualität

Wir haben schon gehört, dass Zwinglis reformatorische Tätigkeit in Zürich ganz wesentlich geleitet und begleitet ist von seiner Auslegung der Heiligen Schrift. Schon in seiner zweiten Pfarrstelle in Einsiedeln studierte er eingehend das Neue Testament. Große Teile des von Erasmus herausgegebenen griechischen Neuen Testaments schreibt er eigenhändig ab und lernt es auswendig. Dies führt Zwingli immer weiter zu Reformgedanken, wie sie auch in humanistischen Kreisen geäußert wurden. So erwarb sich Zwingli den Ruf eines gelehrten und engagierten Priesters, was zu seiner Berufung an das bedeutende Großmünster in Zürich führte. Dort beginnt er 1519 seine Predigttätigkeit mit der Auslegung des Matthäusevangeliums. In den zwölf Zürcher Jahren legt er seiner Gemeinde hintereinander das Neue Testament aus (ohne die Offenbarung des Johannes) und ab 1525 das Alte Testament. Er schafft etwa ein Kapitel pro Woche.

Dass Zwingli sich so intensiv mit dem Alten Testament beschäftigt, hat zwei Gründe. Zum einen entdeckt Zwingli die zentrale Bedeutung des Alten Testaments für das Verständnis des Neuen Testaments. Ja, mehr noch: Zwingli setzt voraus, dass beide Testamente absolut gleichwertig sind und dass es nur einen einzigen Bund gibt. Zwingli ist m.W. damit der erste christliche Theologe, der das so formuliert hat. Über viele Jahrhunderte hinweg ist dieser Gedanke ein Alleinstellungsmerkmal der reformierten Theologie.

Der andere Hintergrund für Zwinglis intensive Beschäftigung mit dem Alten Testament ist eine richtungsweisende Einrichtung in Zürich: 1525 wird die sog. ›Prophezei‹ gegründet. Dabei handelt es sich um eine theologische Arbeitsgemeinschaft aller Pfarrer und Studenten. Fünfmal die Woche kommt die Gruppe morgens um 8 Uhr im Chor des Großmünster zusammen. Nach einleitendem Gebet wird in kontinuierlicher Reihenfolge eine alttestamentliche Textstelle zuerst lateinisch verlesen. Das macht ein Student. Dann wird der Text hebräisch gelesen und von da ins Lateinische zurückübersetzt, erklärt und verglichen. Dafür ist ein eigens eingestellter Hebraischlehrer zuständig. Ebenso verfährt man mit der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes. Das ist anfangs Zwinglis Aufgabe.

Zum Schluss folgt die deutsche Übersetzung mit einer Auslegung. Das besorgt einer der anwesenden Prediger. Dabei sind Einwürfe, Nachfragen und Vorschläge zum besseren Verständnis aus dem Teilnehmerkreis willkommen; es ist also eine Art Seminarbetrieb. Später wird aus der ›Prophezei‹ eine theologische Hochschule und schließlich die 1833 gegründete Universität Zürich.

Zu Zwinglis Lebzeiten werden in der ›Prophezei‹ alle Bücher des Alten Testaments behandelt. In der parallelen Einrichtung im Fraumünster werden die neutestamentlichen Texte durchgearbeitet. Das Ergebnis ist die erste vollständige Bibelübersetzung der Reformation: die Zürcher Bibel von 1531. Sie erscheint damit drei Jahre vor der ersten vollständigen Luther-Bibel. Dass die Zürcher schneller waren, hängt auch damit zusammen, dass man in der Schweiz über die besten Hebraisten verfügte.

Überraschen könnte vielleicht den einen oder die andere, dass die Zürcher Bibel Abbildungen enthält und sogar Gott selbst in menschlicher Gestalt darstellt. Denn die Zürcher Reformation ist bekannt für ihre schlichten Gottesdiensträume. Die Kultbilder sind aus ihnen entfernt und vielfach auch die Kreuze. Regelmäßig wird den Zürchern sogar ein systematischer Bildersturm, die gewaltsame Entfernung und Vernichtung aller gottesdienstlichen Bilder, unterstellt. Zwar hat es 1523 vereinzelt solche Aktionen gegeben. Aber ein allgemeiner Bildersturm fand nicht statt. Vielmehr werden die Bilder 1524 auf Beschluss des Zürcher Rates im Beisein eines Bevollmächtigten fachkundig abgenommen und den Eigentümern und Spendern zurückgegeben.

Zwingli selbst warnt ausdrücklich vor der eigenmächtigen Zerstörung von Bildern. Aber er unterstreicht, dass Bilder an allen Orten, wo sie verehrt werden und damit als Götzen dienen, weggenommen werden sollen. Auf diese Weise sollen sich die Menschen ganz dem lebendigen und wahren Gott zuwenden. Sie sollen alle Hilfe und Trost bei Christus selbst suchen. Anstatt der Kirche Bilder zu stiften, sei es sinnvoller, die Gelder den armen und bedürftigen Menschen zukommen zu lassen. Denn nicht Statuen, sondern diese bedürftigen Menschen seien die wahren (Eben-)Bilder Gottes.

Diese Auffassung Zwinglis schließt keineswegs den Besitz und die Schaffung von bildlichen Darstellungen aus. Nur, wo sie der Verehrung und Anbetung dienen, zieht Zwingli eine Grenze. Die angebliche reformierte Bilderfeindlichkeit ist also eine Kultbilderfeindlichkeit. Sie hat bilderfreie Abendmahlstische zur Folge, nicht aber bilderfreie Städte oder Bibeln.

Und auch eine zweite Maßnahme der Gottesdienstreform irritiert zunächst. Ich meine die Abschaffung von Gesang und Orgeln. Diese Maßnahme Zwinglis richtet sich nicht gegen unsere heutige Form der Kirchenmusik. Die gibt es damals nämlich noch nicht; sie entsteht gerade erst. Zwinglis Maßnahme richtet sich gegen den Priestergesang und den klösterlichen Chordienst. Diese mittelalterliche Praxis könne von dem wahren, inneren, geistigen Gottesdienst ablenken, davon ist Zwingli überzeugt.

In Straßburg dagegen wurden die biblischen Psalmen für den Gemeindegesang entdeckt. Sie wurden neu bereimt und mit eingängigen Melodien versehen. Zwingli starb zu früh, um diese Entwicklung genauer wahrzunehmen und für seine Gottesdienstpraxis aufzunehmen. Trotzdem gibt es im Evangelischen Gesangbuch ein Lied, dass von Zwingli stammt. Zwingli selbst war nämlich hochmusikalisch. Er komponierte für den Hausgebrauch und beherrschte bis zu zwölf Instrumente. Dieses Lied aus dem Ev. Gesangbuch trägt den Titel »Herr, nun selbst den Wagen halt«. Es entstand etwa 1525. Wir wollen es jetzt mit einer anderen Melodie singen.

Ich bin so frei – Ein Eklat und seine Folgen

Vor 500 ½ Jahren wird Zwingli zum Pfarrer am Zürcher Großmünster berufen. Das ist der Auftakt der Zürcher Reformation, die endgültig Anfang 1523 beschlossen wird. Um ein Haar ist Zwinglis Berufung zu Fall gekommen. Damals machen Gerüchte über seine weit gefächerte Zuneigung zum weiblichen Geschlecht die Runde. Es gibt Berichte über sexuelle Verhältnisse zu Prostituierten, und Zwingli räumt offen ein, dass er sich zwar stets darum bemüht habe, als Priester sexuell enthaltsam zu leben – allerdings erfolglos.

In den spannenden Jahren zwischen 1519 und 1524 bringt Zwingli Ordnung in sein Leben – und tut etwas Ungeheuerliches: Er lebt seit 1522 mit Anna Reinhard in geheimer Ehe zusammen und heiratet sie 1524 öffentlich. Das bedeutet nicht nur für ihn, sondern auch für die anderen Pfarrkollegen eine unglaubliche Befreiung. Der Zölibat wird aufgehoben, weil einer – Zwingli – ihn ganz praktisch, rebellisch und entschlossen aufgehoben hat. Zwingli ist so frei, gründet in Zürich die erste evangelische Pfarrfamilie und andere folgen ihm darin.

Auch in anderen Dingen ist Zwingli frei. Auf dem Weg zur Durchsetzung der Reformation macht er die Predigt zu einem entscheidenden Instrument. Durch sie will er einen Wandel im religiösen und kulturellen Selbstverständnis der Bürger Zürichs herbeiführen. Er nimmt sich die Freiheit, die biblischen Schriften in einer fortlaufenden Reihe von Predigten zu erklären. Ein bewusster Bruch mit der Tradition, die andere Vorschriften hatte. Was sich Zwingli davon verspricht? Auf diese Weise will er die großen Zusammenhänge der ganzen Bibel kennenlernen und in der Gemeinde kommunizieren. So predigt er auch über unbekannte Texte und macht auf den Reichtum der Bibel aufmerksam. Manchmal wünsche ich mir, dass heute mehr von dieser Freiheit Zwinglis in unseren Kirchen stattfindet.

Ich bin so frei: Das könnte auch die Überschrift über Zwingli im Frühjahr 1522 sein. In Zürich kommt es zu einem großen Eklat. Es geht um die traditionellen kirchlichen Gebote und besonders um das Fastengebot. Mitten in der Fastenzeit findet im Haus des Buchdruckers Christoph Froschauer ein Wurstessen statt. Wäre das in Dortmund geschehen, hätten sie dort Currywurst mit Pommes gereicht und dazu ein Dortmunder Bier – „Männer wie wir, Dortmunder Bier“.

In Zürich werden die in der Fastenzeit von der Kirche verbotenen Würste unter den Bürgern und Angestellten des Druckers verteilt. Ein riesiger Aufschrei der konservativen Kräfte war die Folge: Wie könnt ihr nur die kirchlichen Gebote übertreten! Ihr begeht Sünde gegen Gott! Er wird euch dafür bestrafen! Ich stelle mir vor, dass mit heutigen Möglichkeiten damals junge Youtuber durch die Froschaugasse gelaufen wären und tolle Clips hergestellt hätten.

Zwingli ist live dabei, sieht sich das an und nimmt sich die Freiheit, über diesen Eklat zu predigen. „Von der Wahl und der Freiheit der Speisen“ nennt er seine Predigt. Und macht in ihr klar: [Keinerlei Speise macht, dass wir Gott wohlgefällig sind.“ Weder das Essen von Wüsten in der Fastenzeit noch der Verzicht auf sie bringen uns bei Gott Punkte. Was wir essen oder worauf wir verzichten, ist Gott letztlich egal. Ob mit Fleisch oder vegetarisch oder vegan: Das ist eine Frage der Lebenseinstellung und sollte nicht religiös überhöht werden. Was übrigens auch heute zu denken geben könnte!

Frei sein, was das Essen betrifft, heißt für Zwingli: Christen sollen auf Gott vertrauen. Das reicht. Seine Gebote, sein Wille zählen, und nicht leblose kirchliche Vorschriften. Diese wollen den Menschen etwas diktieren, was sich nicht auf Gottes Willen berufen kann. Niemand soll meinen, Gott wolle das Fasten, und so sein Gewissen belasten. Eine solche Vorstellung ist Götzendienst. Und ganz entspannt sagt Zwingli dann: „Willst du gerne fasten, dann tue es! Willst du dabei auf Fleisch verzichten, dann iss auch kein Fleisch! Lass den Christen die freie Wahl!“ Was das Essen betrifft, leben Christen à la carte und lassen sich nichts vorschreiben. An anderer Stelle sagt Zwingli das so: „So wenig nun die Korinther und die Appenzeller einer ganzen Christenheit Gebote und Verbote auferlegen können, so wenig kann die päpstliche Kirche anderen Menschen Vorschriften und Gebote aufhalsen.“

Dahinter steckt mehr als nur eine Ernährungsfrage. Zwingli ist so frei, um den Zürchern zu sagen: Ihr seid von willkürlich aufgestellten Ordnungen entlastet. Ihr müsst ihnen nicht gehorchen. Und manchmal dürft ihr es noch nicht mal! Zwingli wirft nämlich auch die Autoritätsfrage auf: Wem sind Christen Gehorsam schuldig? Seine Antwort: Einen letzten Anspruch auf Gehorsam dürfen nicht Menschen, sondern kann nur Gott beanspruchen, weil er unser Vertrauen verdient.

Hier sind wir mitten in der Gegenwart: Wer verdient unser Vertrauen und unseren Gehorsam? Sicherlich nicht Menschen oder politische Kräfte, die mit ihren Parolen den Boden für Hass, Unfrieden und Unmenschlichkeit bereiten. Vielmehr gilt es auf die zu achten, die sich für Menschlichkeit, Menschenwürde und Solidarität mit Menschen in Not einsetzen. Mit Worten und Taten, frei, mutig und ohne Scheu. Christen und die Kirchen verdanken Zwingli ein ideologiekritisches Bewusstsein gegenüber solchen Ideen und Ansprüchen, die Macht über das Innerste ausüben wollen. Von den Influencern bis zu den Demagogen. Wer wie Zwingli frei ist, der dient auch der Liebe und sucht nach dem Bestem für die Menschen.

Gemeinsam Kirche bauen – Änderungen und Aufbrüche

Zwingli hat einige Jahre lang im Sinne der Reformation gepredigt und mit dem Wurstessen in der Fastenzeit ein deutliches Signal gesetzt: Nicht die kirchliche Überlieferung, sondern das Wort Gottes soll fortan für das Leben der Kirche maßgebend sein.

Worte und Würste machen aber noch keine Reformation. Stattdessen wachsen Gegner heran, die Zwingli mit Handgreiflichkeiten und Morddrohungen zusetzten. Der Zürcher Rat muss für die Sicherheit seines Predigers sorgen. Zu den Worten und dem Wurstessen muss etwas anderes hinzukommen, etwas, das bei den Zürchern ›Klick‹ macht. Ein Erlebnis, das den Zürchern vor Augen führt, was Reformation für sie bedeutet. Dass die Reformation kein ›Pastorengezänk‹ ist, sondern die Gemeinde in ihrem Selbstverständnis trifft. Und das kann Zwingli nur an einem zentralen Punkt der Frömmigkeit zeigen.

Genau wie Luther kritisiert Zwingli die römische Messfeier: Dass am Altar erneut geopfert, Brot und Wein gewandelt und der Kelch nicht an die Gläubigen ausgeteilt wird – dafür sehen beide keine Begründung in der Schrift. Doch Zwinglis Kritik geht weit darüber hinaus. Es reicht nicht, einzelne Elemente der Messfeier abzuschaffen. Für Zwingli geht es darum, das Abendmahl neu zu ergründen. Er verfasst eine entsprechende Reformschrift und versucht, den Zürcher Rat zur Abschaffung der Messfeier zu bewegen. Zu Beginn der Karwoche 1525 beschließt dies der Stadtrat dann auch mit knapper Mehrheit.

Doch die Argumente seiner Gegner setzen Zwingli schwer zu. Vor allem das Verständnis der Einsetzungsworte ist umstritten »Das ist mein Leib, der für Euch gegeben wird«, heißt es zu Beginn des Abendmahls. Die Verfechter der römischen Messe sehen darin klar erwiesen, dass mit der geweihten Hostie der gewandelte Leib Christi selbst an die Gläubigen ausgeteilt würde. Für Zwingli aber befindet sich der Auferstandene seit der Himmelfahrt zur Rechten Gottes und kann somit seiner menschlichen Natur nach nicht im Brot sein. Seiner göttlichen Natur nach schon, aber nicht seiner menschlichen Natur nach.

»Das ist mein Leib, der für Euch gegeben wird. Das tut zu meinem Gedächtnis.« Zwingli versteht diese Worte anders – entgegen einer jahrhundertelangen Auslegungstradition. Seine Gegner brandmarken ihn deshalb als gefährlichen Ketzer. Zwingli macht das sehr zu schaffen. Die Auseinandersetzungen verfolgen ihn bis in die Träume. Und genau da kommt ihm der entscheidende Impuls. Im Traum verweist ihn eine mysteriöse Gestalt auf das Passamahl in Ägypten. Man müsse das Abendmahl vom Passamahl her verstehen. Als ein Erinnerungs- und Gemeinschaftsmahl mitten in der Bedrohung. Zwingli wacht aus dem Traum auf und ist befreit. Hören wir ihn selbst:

»Sobald mir diese Erscheinung geworden war, erwachte ich zugleich und springe aus dem Bett. Ich betrachte die Bibelstelle in der griechischen Übersetzung zuerst von allen Seiten her und rede dann über sie vor der ganzen Gemeinde nach Kräften. Diese Rede – hat allen Nebel zerstreut, sodass in jenen drei Tagen des Herrenmahles, des Rüsttages und der Auferstehung das Passa Christi so sehr gefeiert worden ist, wie ich es selbst bisher nie gesehen habe, und die Zahl derer, welche nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurückschauten, über alle Erwartung klein war.«

Das sollten wir uns nun etwas genauer anschauen, was da Ostern 1525 in Zürich passiert ist, wie sich da die reformierte Variante der Reformation ereignet hat. Es ist da fast alles grundgelegt, was ›reformierte Kirche‹ noch heute ausmacht:

  •   ein grundlegender Blick in die Bibel
  •   ein veränderter Kirchenraum
  •   ein neues Miteinander von Pfarrperson und Gemeinde.

Reformation braucht nicht nur Worte, sondern auch diese eine Erfahrung, die ›Klick‹ macht in den Köpfen: »So ist das also gedacht. Ja, dafür lohnt sich der Streit.« Die Zürcher, die in der Karwoche in das Großmünster kommen, machen genau diese Erfahrung: Klick. Sie kennen den Messgottesdienst und staunen, welche Veränderungen Zwingli und sein Team daran vorgenommen haben:

Der Pfarrer tritt bei der Einsetzung des Abendmahls nicht mehr vor den erhöhten Choraltar und kehrt der Gemeinde auch nicht mehr den Rücken zu. Stattdessen steht er auf der Ebene der Gemeinde, wendet sich ihr zu und redet – statt in lateinischer – in verständlicher deutscher Sprache. Im vorderen Kirchenschiff ist ein Tisch aufgestellt, und darauf befinden sich für alle sichtbar Brot und Wein. Die Abendmahlsgeräte sind aus schlichtem Holz, um den Eindruck von äußerer Prachtentfaltung zu vermeiden. Beim Abendmahlsempfang bleibt die Gemeinde in den Bänken sitzen, wohin ›verordnete Diener‹ Brot und Wein bringen. Vom Brot wird ein Bissen abgebrochen und dann weitergereicht, ebenso der Kelch mit dem Wein. Auf diese Weise wird das Abendmahl, das die mittelalterliche Kirche durch den Priester an die einzelnen Gläubigen austeilte, zu einem Mahl, das die Gemeinde auf einer Ebene miteinander teilt. Denn – so die Überzeugung Zwinglis – durch die Taufe und den Glauben ist die Gemeinde bereits in den Leib Christi eingefügt und wird durch die Teilnahme am Abendmahl dieser Einheit mit Christus versichert.

Die Gemeinde, die bisher Zuschauerin eines ihr unverständlichen gottesdienstlichen Aktes war, wird nun zur Mitakteurin der Abendmahlsfeier. Ihr wird der Leib Christi nicht mehr von oben herab gereicht, sondern sie bildet zusammen mit dem Pfarrer die Gemeinschaft des Leibes Christi. Keine Hierarchie mehr zwischen Pfarrer und Gemeinde. Beide sind auf einer Ebene, sind ›unter dem Wort Gottes versammelte Gemeinde‹. Jeder, der in Zürich an diesem Gottesdienst teilnimmt, spürt, dass hier etwas Wegweisendes geschehen ist.


Achim Detmers und Matthias Freudenberg