Hausmutter im Predigerseminar

Erinnerungen an Freya Weidner


Freya Weidner © Waltraud Hummerich

geboren am 16. Februar 1924, gestorben am 23. Oktober 2019

Es war einmal – in Wuppertal-Elberfeld in der Mainzer-Straße 16 – ein Predigerseminar, in dem Freya Weidner die Hausmutter war. In diesem Seminar lebten für einige Wochen im Jahr etwa 12 bis 16 Vikarinnen oder Vikare. Sie kamen aus einer Gemeinde, in der sie die Praxis ihres künftigen Berufs als Pastorin, als Pastor kennenlernten. Sie bewohnten im Seminar in Elberfeld ein nicht allzu großes Zimmer, aber groß genug,

... um dort ein Buch zu lesen,
... um ihre Gemeinde-Erfahrungen und ihre Fragen an ihren künftigen Beruf auszutauschen,
... zum Gedankenaustausch zu zweit,
... zum Erfahrungsaustausch über das Nebeneinander von Gemeindeleben und Familienleben – und
... um zur Ruhe zu kommen.

Sie waren im Seminar, um mit-einander und von-einander zu lernen, was es heißt, einmal in einer reformierten oder unierten Kirchengemeinde als ansprech-bereiter Pastor bzw. als menschen-freundliche Pastorin tätig zu sein: sei es in einer Kleinstadt in Westfalen, in einem lippischen oder ostfriesischen Dorf, oder in einer rheinischen Großstadt. Im Seminar wurden Vorträge gehalten mit anschließender Aussprache; wurden Predigtmanuskripte vorgetragen und mit persönlichem Feedback darauf reagiert; wurden Anregungen für das Leben und Arbeiten in der Kirchengemeinde vermittelt; wurde von einer Kirche „geträumt“; wurden Fragen beantwortet, die sich im Pfarrberuf ergeben.

Mittags und abends gab es im Seminar eine gemeinsame Mahlzeit. Vor der Arbeit, die morgens um neun Uhr begann, wurde gefrühstückt. Das Leben und Arbeiten, das Lehren und Lernen im Predigerseminar vollzog sich als Hausgemeinschaft. In der Regel wurde vormittags gearbeitet. Das hieß: Referat und Aussprache, Berichte von Gemeinde-Erfahrungen – zur Diskussion gestellt.

In den Wochen, die die Vikarinnen und Vikare in der Mainzerstraße zubrachten, bestimmten vier große Themen die Arbeit im Haus:

  • die Frage nach der Gestaltung des Gottesdienstes; das Predigen; die singende und hörende Gemeinde; der Kindergottesdienst;
  • der kirchliche Unterricht, der mit einer Konfirmation abschließt;
  • die Seelsorge (Hausbesuch, Krankenbesuch, Gespräch mit Gemeindegliedern, Antwort geben auf Fragen des alltäglichen Lebens);
  • der Aufbau einer Gemeinde mit ihren 300 (oder 3000) Gemeindegliedern; die Frage, was in der Gemeinde getan werden muss – und wer was macht

Anders gesagt: Wer ‚seine’ Gemeinde kennen lernen will, muss wissen, welche Tradition sie prägt, wie sie gewachsen ist; was die Aufgabe der Gemeindeleitung ist; ob es Sinn macht, von einer Kerngemeinde zu reden, von den Kirchentreuen, oder von den Kirchenfernen, die es gut finden, dass es „so etwas wie Kirche gibt“, sich aber sonst im Gemeindeleben zurückhalten. „Gemeinde wahrnehmen“ heißt im Pfarrberuf: Menschen kennen lernen, mit ihnen leben, ihnen zuhören, sich nicht zu schnell ein zu festes Bild von der Gemeinde machen, auch nicht Menschen „erfinden“, die man gern als Gemeindeglied hätte.

Zum Seminar gehörte ein Studiendirektor, auch ein Studieninspektor oder eine -inspektorin (Vikar oder Vikarin), der oder die fähig und bereit war, den Direktor in seiner Arbeit zu unterstützen – und ein Ohr, ein Herz und ein Organisationstalent zu haben für die Interessen der Seminarteilnehmer. Bis 1977 leitet Helmut Tacke das Seminar. Er bewohnte mit seiner Familie im Seminargebäude eine Dienstwohnung, war also den Seminarteilnehmern nah. Familie Tacke und Frau Weidner waren Nachbarn und – wurden gute Freunde. Spätere Seminarleiter haben außerhalb des Seminars gewohnt.

Von 1978 an war ich in der Mainzer Straße tätig, genoss die Zusammenarbeit mit Hildegard Hamdorf (der Studieninspektorin) und Peter Bukowski, der als Dozent zu uns kam (Schwerpunkt: Homiletik) und Sylvia Bukowski, die als Gemeindepastorin mit der Vikarsgruppe ein Wochenende mit Konfirmanden aus ihrer Gemeinde plante und durchführte. Peter Bukowski hat das Leben und Arbeiten im Seminar in besonderer Weise angeregt und bereichert. „Predigt wahrnehmen“ ist der Titel eines seiner Bücher. Nicht primär definieren, was Predigt ist, sondern entdecken, wie Predigen sich vollzieht. Ermutigung zum Predigen war das Ziel: „Predige das Wort Gottes!“

Wer lernen will, wie der wöchentliche Konfirmandenunterricht – die Konfirmandenarbeit – sich gestaltet lässt, sollte sich nicht nur Vorträge anhören und pädagogische Praktiken einüben. Sondern auch eine Freizeit für ein Wochenende mit lebenden Jungendlichen vorbereiten und durchführen – gemeinsam mit der Gemeindepastorin, die „ihre“ Konfirmanden kennt. Und dann im Gespräch mit den Jugendlichen entdecken, wie sie „ticken“, wie überraschend ehrlich sie fragen und ihre Meinung sagen und ihre Bedürfnisse anmelden, wie sie über Gebet und Glauben und Bibel reden und welche Lieder sie gern singen.

Und schließlich muss nicht nur aus Büchern gelernt werden, was „Seelsorge“ bedeutet; was es heißt, einen Menschen in seiner Wohnung zu besuchen; mit ihm am Krankenbett ins Gespräch zu kommen; Verständnis zu zeigen, zu schweigen und danach zu antworten. Seelsorge-Gespräche aus dem Gedächtnis aufzuschreiben und mit einer erfahrenden Seelsorgerin (z.B. mit Frau Damrath) zu befragen, um sich selbst als Vielredner, der das Zuhören nicht ertragen kann, zu entlarven – aber auch, um zu entdecken, wie eine Begegnung gelingt: Das war, das ist immer noch eine geeignete Form, um zu lernen, was es heißt, dem andern zum Seelsorger zu werden, eine Seelsorgerin zu sein. Das Lehren und Lernen im Seminar war ein Austausch von Erfahrungen, vollzog sich durch Frage und Antwort, durch Anregung und Versuch.

Diese Lerngemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft im Predigerseminar vollzog sich in einer Hausgemeinschaft, die nie ganz konfliktfrei war. Dass diese Hausgemeinschaft gelang, lag nicht zuletzt an der Hausmutter. Das war damals und für viele Jahre bis 1989. Frau Weidner sorgte mit einer Mitarbeiterin für die täglichen Mahlzeiten, auch für eine wohltuende Atmosphäre. Wenn’s sein musste beanstandete sie auch in liebenswürdiger Weise, wenn sich jemand unfertig gekleidet zum Frühstück an den gedeckten Tisch setzte. Sie hellte nach anstrengendem Arbeitstag die Stimmung auf, indem sie zu einem Käsefondue oder ähnlichen Genüssen einlud – in einem relativ gemütlich eingerichteten Raum, in dem auch ein Fernseher stand.

Anders gesagt: die Hausmutter trug wesentlich dazu bei, dass das gemeinsame Leben im Seminar zur Hausgemeinschaft wurde, die dann auch als Arbeits- und Lerngemeinschaft erlebt werden konnte. In Ihrer Gegenwart war bei den künftigen Pastoren und Pastorinnen „gutes Benehmen“ kein Fremdwort. Vikar und Vikarin verloren die Lust an unfruchtbarem Streit, ohne deshalb die Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden. Wer vom Predigerseminar in Elberfeld erzählt, wird auch von Frau Weidner erzählen müssen: von der Institution „Hausmutter“.

1987 ging ich nach Leer/ Ostfriesland; Eberhard Mechels wurde mein Nachfolger. Ihm folgte Peter Bukowski. Die Hausmutter blieb bis zu ihrem 65. Lebensjahr. Dann siedelte sie um nach Bochum zu ihrer Familie, und war gern dort. Regelmäßig erhielten meine Frau und ich Post von ihr. Und wir waren nicht die einzigen, zu denen Sie den Kontakt behielt. Sie erzählte von sich, erkundigte sich nach dem Lebensweg unserer Kinder und Enkelkinder, und blieb eine gute Freundin. Ihre Briefe schrieb sie mit der Hand. Ihre Handschrift entsprach ihrem Wesen: gut lesbar, mit dankbaren Erinnerungen an Vergangenes und mit viel Zuversicht.

Am 23. Oktober 2019 ging ihr Leben nach 95 Jahren zu Ende. Am 31. Oktober fand die Trauerfeier statt – in der Matthäuskirche in Bochum-Weitmar. Anschließend erfolgte die Beisetzung auf dem Friedhof. Wir nehmen Abschied von „unserer“ Hausmutter mit großer Dankbarkeit - in der Hoffnung, dass sie geborgen ist – umgeben von der Treue Gottes, der sie vertraut hat.

DANKE Freya Weidner!

Übrigens - das Seminar in der Mainzer Straße 16 gibt es nicht mehr. Doch das Miteinader Leben und Lernen geht weiter – unweit der Kirchlichen Hochschule in Barmen. Aber das ist eine andere, eine neue Geschichte.


Landessuperintendent i.R. Walter Herrenbrück