Wenn Kinder groß werden

Predigt über unser Verhältnis zu den Eltern


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Von Stephan Schaar

Liebe Gemeinde,

es ist nicht leicht, warme Gefühle aufzubringen für ein bockiges, kreischendes Kleinkind, das sich auf dem Boden wälzt, um seinen Willen durchzusetzen. Genauso ist es mir persönlich nicht möglich, die Bilder vollkommen abzuschütteln, die im Krieg verstümmelte Kinder oder solche mit Hungerbäuchen ins Wohnzimmer tragen.

So schwer verständlich es auch ist: Selbst vernachlässigte Kinder, die anstelle ihrer alkoholkranken Eltern den Alltag managen müssen, sehnen sich nach ein paar anerkennenden Worten, freuen sich nicht nur über gelegentliche Geschenke, sondern mindestens ebenso über ein Lächeln, eine Zärtlichkeit, einen Tag der Harmonie. Aber es ist alles andere als das natürliche Bedürfnis von Kindern, sich von der Tante mit üppiger Oberweite umarmen zu lassen, bis man ganz in ihr versunken zu sein scheint.

So allgegenwärtig die Liebe ist - überall wird sie besungen, beschrieben, in Szene gesetzt: Es ist bei genauer Betrachtung ziemlich schwierig, das rechte Maß zu finden, und das gilt ganz besonders für den Umgang von Eltern und Kindern miteinander.

In unserer Vorbereitungsbesprechung haben wir am Montag unsere Beobachtungen und eigenen  Erlebnisse miteinander und mit uns bekannten Medienberichten abgeglichen und dabei festgestellt: Gerade weil Liebe so ein fundamentales menschliches Bedürfnis ist, wird sie furchtbar oft missbraucht und enttäuscht.

Wir sind unangenehm berührt, wenn eine Mutter im Wochenbett keine zärtlichen Gefühle  entwickelt für das Neugeborene, das doch ganz und gar von ihr abhängig ist, sich nach Wärme sehnt und nach Nahrung schreit. Und wenn alles gut läuft, dann ist es ja auch - trotz aller Schlaflosigkeit - ein beglückendes Gefühl, wenn das Baby satt und sauber und also zufrieden ist, ein Glucksen hören lässt und irgendwann zu lächeln beginnt.
Wann hört das eigentlich auf, dass man von dem Charme kleiner Kinder geradezu entwaffnet wird? Mit dem Spracherwerb? Damit, dass das Kind einen eigenen Willen entwickelt und diesen durchzusetzen sucht?

Vielleicht fängt es damit an, dass man nach zwei, drei Jahren intensiver Fürsorge ein wenig erschöpft ist und irgendwann erleichtert bemerkt, dass das kleine Wesen nicht mehr in demselben Maße abhängig ist wie ganz zu Beginn, dass es nicht mehr rund um die Uhr in jeder Hinsicht beschützt und gefüttert werden muss und also endlich auch mal wieder Zeit da ist für eigene Bedürfnisse, die hintangestellt wurden - aus Liebe.

Vielleicht kommt Ärger auf, wenn das Kind damit beginnt, sich an anderen Menschen und deren Gepflogenheiten zu orientieren, statt ganz in der Spur seiner Eltern zu laufen, die sich doch redlich bemüht haben, ihrem Kind nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Orientierung zu geben, Werte zu vermitteln.

Und plötzlich steht das in Frage!

Dass Eltern ihre Kinder lieben sollen - und umgekehrt Kinder ihre Eltern - steht meines Wissens nicht in der Bibel. Es wird vorausgesetzt. Und dabei wird nach beiden Seiten der Rat erteilt, es nicht zu übertreiben: Wer zu viel Nachsicht zeigt mit Kindern, die keinen Rat annehmen, trägt die Verantwortung dafür, dass sie mehr und mehr auf die schiefe Bahn geraten. So interpretiere ich die Verse aus dem Buch der Sprüche und andernorts, wo zu einer strengen Erziehung aufgefordert wird.

Das heißt nicht, wie man früher beschönigend sagte, “ein paar Klapse schaden nichts”, sondern: Wer seinem Kind keine Grenzen setzt, sondern womöglich auch noch das Geld beschafft für Drogen, ist ko-abhängig und macht die Sucht nur Tag für Tag schlimmer. Hier ist ein harter Schnitt erforderlich, und der fällt vielen sicherlich schwer; aber besser, diesen Schmerz auf sich zu nehmen, als das Kind in der Gerichtsmedizin identifizieren müssen!

Wenn man sich engagiert und, beispielsweise, die bestmögliche Schule für das Kind finden möchte; wenn man seine freie Zeit investiert, damit das Kind ein Instrument lernen oder einen Sport ausüben kann: Das sind, bis zu einem bestimmten Punkt, lobenswerte Verhaltsensweisen von Vätern und Müttern. Und wenn man zu dem Kind hält, auch wenn der schulische, sportliche, berufliche Erfolg ausbleibt, dann ist das umso mehr ein Zeichen dafür, dass Eltern ihre Kinder lieben, um ihrer selbst willen und nicht, weil diese ihre eigenen verpassten Lebensträume in die Tat umsetzen sollen.

Wer sein Kind liebt, überlässt es weder sich selbst noch unterwirft man es eigenen Bedürfnissen. Das muss gar nicht bis hin zu sexuellem Missbrauch gehen - ein Grund, den wir ernst nehmen sollten, wenn den Opfern solcher Taten das Wort “Vater” nicht über die Lippen kommt, nicht im Gebet und nicht im Glaubensbekenntnis. Es ist schon übergriffig, das heranwachsende Kind zum Partnerersatz machen zu wollen, indem es zu Gesprächen herangezogen wird, die es überfordern.

Aber man tut solche Dinge ja nicht bewusst, um seinem Kind zu schaden - genauso wie es in bester Absicht geschieht, wenn nach einer gescheiterten Beziehung kein neuer Partner gesucht wird, sondern die Mutter oder Vater sich bemüht, allein klarzukommen. Dabei bekommen viele vor lauter Anstrengung gar nicht mit, dass zwar die Versorgung mit materiellen Gütern gewährleistet ist, aber dafür etwas anderes fehlt: Zeit, die man miteinander verbringt, Freude, die man teilt; und das, wo doch schon der andere Elternteil womöglich verstorben, vielleicht auch im Zorn gegangen oder schlicht ebenfalls stark beschäftigt ist, gegebenenfalls in einer anderen Stadt wohnt.

Auf der anderen Seite geschieht es allermeist in bester Absicht, nämlich um der Kinder willen, wenn Paare trotz einer zerrütteten Beziehung beieinander bleiben. Eine erwägenswerte Alternative ist es, um der Kinder willen einen fairen Umgang miteinander zu pflegen und jedenfalls kein Tauziehen um das Sorgerecht zu veranstalten; das bleibt den Kindern in aller Regel nicht verborgen und setzt ihnen noch extra zu.

Ein Mann - ebenso aber heute auch eine Frau - verlässt die Eltern und lebt mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen. Das lesen wir nicht nur auf den ersten Seiten der Bibel, sondern erleben es - ein wenig zeitverzögert mittlerweile - im Alltagsleben. Nicht jede Träne, die bei einer Hochzeit geweint wird, fließt aus Rührung; aber auch hier  gilt: Ein in die Tiefe gehendes Gespräch kann womöglich vor Kurzschlussentscheidungen bewahren, die man möglicherweise irgendwann bereut. Aber erwachsen gewordene Kinder müssen ihre Lebensentscheidungen selber treffen dürfen.

In der Bibel lesen wir außerdem gelegentlich von der Verpflichtung eines Sohnes, die Eltern zu begraben, und es klingt ganz schön schroff, wenn Jesus das nicht als Grund akzeptiert, mit dem Beginn der Jüngerschaft noch ein klein wenig zu warten: “Lass die Toten ihre Toten begraben!”
Nun gut, wo es um religiöse Grundsatzfragen geht, kann es keine Rücksichtnahme geben auf Traditionen und Befindlichkeiten. Das gilt, wie wir hörten, in beide Richtungen.

Aber wenn ein Elternteil in die Jahre gekommen ist und nicht mehr ohne fremde Hilfe auskommt, dann wird es schwierig - vor allem für das mit Erwartungen konfrontierte Kind, das natürlich kein Kind, sondern ein Mensch ist, der mitten im Leben steht, selbst vielleicht noch minderjährige Kinder zu versorgen hat, in einer Partnerschaft lebt und einen Beruf ausübt. Sandwich-Generation nennen das die Soziologen - Leute, die zwischen zweierlei Zwängen stecken.

Ich gehe davon aus, dass da, wo kein Streit herrscht, man sich gern ab und zu Zeit nimmt für einen Besuch, eine gemeinsame Unternehmung; dass man Feste gemeinsam feiert und sich gegenseitig unterstützt: Während es den Älteren zunehmend an Kraft fehlt, sind die Jüngeren vielleicht froh, wenn ihnen finanziell unter die Arme gegriffen wird.

So weit, so gut.

Aber was quälen sich viele in meinem Alter mit der Entscheidung, wie es nun mit ihren hochbetagten Eltern weitergehen soll!
Und umgekehrt, so wird mir öfter erzählt, kostet es alte Menschen eine Menge Überwindung, die eigene Wohnung aufzugeben und sich der Fürsorge fremder Menschen anzuvertrauen.

Doch was sind die Alternativen?

Gewiss, auch heute gibt es generationsübergreifende Lebensgemeinschaften unter einem Dach, nicht nur auf dem Land. Wenn das alle wollen - warum nicht? Die Uroma schält Kartoffeln und behält das Krabbelkind im Auge (solange sie noch gut genug sehen und gegebenfalls aufspringen und einschreiten kann).

Aber wenn Mutter anruft und um Hilfe bei der Gartenarbeit bittet oder dass jemand ihren  Computer wieder zum Laufen bringt, steckt womöglich ein Hilferuf nach Nähe dahinter. Und statt dass man sich mit Tätigkeiten abmüht, die man gut und gern jemanden erledigen lassen könnte, der dafür bezahlt wird, wäre die kostebare gemeinsame Zeit wahrscheinlich weitaus besser genutzt, wenn man sich zusammen hinsetzt und beim Tee erzählt, was einem auf dem Herzen liegt und durch den Sinn geht; die gemeinsame Zeit ist endlich.

Über diese begrenzte Perspektive weist das (einzig positiv formulierte) Gebot, den Vater und die Mutter zu ehren, also sich im Alter um sie zu kümmern und ihre Lebenserfahrung zu respektieren, hinaus, indem es denen, die danach handeln, eine gute Zukunft in Aussicht stellt: Du wirst lange leben.

Natürlich ist das kein Automatismus. Aber eine Chance, ein Konzept, eine Haltung: Wer jetzt stark ist, kümmert sich um jene, die ihre Kraft erschöpft haben, unter anderem für ihre Kinder. Und wenn deine Kinder das an dir erleben und dir darin folgen, wirst du im Alter nicht im Stich gelassen, sondern umsorgt sein.

Amen.


Stephan Schaar