Seit vielen Jahren analysiert und ediert der amerikanische Historiker Prof. Dr. Robert M. Kingdon die Protokolle. Anhand einzelner Beispiele aus dem Genfer Alltag gibt er einen ersten Einblick in die Arbeit des Konsistoriums.
Der folgende Vortrag wurde von Professor Dr. Kingdon aus Madison (USA) auf dem Internationalen Calvinkongreß in Edinburgh im Jahr 1994 gehalten. Die neu zugänglich gemachten Protokolle zeigen, daß die Genfer Kirchenzucht anders, als bisher angenommen, durchgeführt wurde: Das Konsistorium war Ausgleichsinstanz und nicht Inquisitionsgericht. Die Vernehmung endete mit einem Verweis und, wenn dieser angenommen wurde, mit einer Ermahnung. Der »Fall« war dann erledigt. Kam es zum Ausschluß vom Abendmahl, so betrieb das Konsistorium in gleicher Weise die Wiederzulassung. Neu ist, daß es sich auch um Streitigkeiten z. B. in Familien kümmerte und die Versöhnung in einem gottesdienstlichen Akt besiegelte. W.H. Neuser
Dieser Vortrag ist im Rahmen eines Projektes entstanden, mit dem ich mich seit einigen Jahren befasse, einer Untersuchung nämlich des 1541 auf Anregung Johannes Calvins in Genf eingerichteten Konsistoriums. Dieses sollte das Verhalten der gesamten Bevölkerung kontrollieren und so gewährleisten, daß jeder nicht nur die reformierte Form der christlichen Lehre akzeptierte, sondern auch ein christliches Leben führte. Ein ungewöhnlich detailliert und vollständig erhaltener Satz von Protokollen, aufbewahrt im Genfer Staatsarchiv, überliefert die Entscheidungen dieser Institution. Da in sehr unleserlicher Handschrift geführt, wurden diese Protokolle jedoch bisher nicht ausführlich ausgewertet. Ich habe eine Gruppe von Forschern versammelt, die eine Transkription aller einundzwanzig Bände vorbereitet, und zwar zwischen 1542, dem Jahr, aus dem das erste Register überliefert ist, und 1564, dem Todesjahr Calvins. Eine kommentierte, kritische Edition des ersten Bandes erschien gerade im Verlag Droz in Genf.
Im folgenden möchte ich mich mit der Frage befassen, was diese Register über die Person Johannes Calvins selbst aussagen. Sie werden uns einen überraschend neuen und anregenden Blick auf Calvin eröffenen, nicht auf den Theologen oder Lehrer, sondern auf den Pastor, der sich mit den persönlichen Sorgen der ihm anvertrauten Gemeinde zu befassen hatte.
Das Konsistorium und seine Arbeitsweise
Das Konsistorium bestand aus ungefähr zwei Dutzend Mitgliedern. Den Vorsitz führte einer der vier Syndici oder Bürgermeister, die jedes Jahr von den führenden Mitgliedern der Genfer Regierung gewählt wurden. Während dieser jährlichen Wahl wurde außerdem eine Gruppe von zwölf Laien als Älteste gewählt und dem Konsistorium zugeordnet. Diese Ältesten konnten mehrere Jahre hintereinander immer wiedergewählt werden, was auch häufig geschah. Sie kamen aus den Reihen der drei Genfer Regierungsgremien: zwei aus dem Kleinen Rat, der eigentlichen Exekutivgewalt, vier aus dem Rat der Sechzig, zuständig für zum Beispiel bestimmte außenpolitische Entscheidungen, und sechs aus dem Rat der Zweihundert, befaßt mit anderen politischen Fragen und Berufungen gegen Urteile des Kleinen Rates in Kriminalprozessen. Diese Ältesten wurden außerdem so ausgewählt, daß sie die verschiedenen Nachbarschaften repräsentierten, in die Genf aus verwaltungstechnischen Gründen eingeteilt war. Die übrigen Mitglieder des Konsistoriums waren die städtischen Pfarrer unter dem Vorsitz von Johannes Calvin. Auf der Höhe von Calvins Karriere waren es zwölf an der Zahl, so daß das Verhältnis zwischen Klerikern und Laien relativ ausgeglichen war. Außerdem gehörten zum Konsistorium zwei weitere Amtsträger; ein Sekretär, in der Regel ein professioneller Notar, der auf den wöchentlichen Treffen die Protokolle führte, sowie ein Bote, der diejenigen, die das Konsistorium sprechen wollte, vorlud.
Das Konsistorium traf einmal wöchentlich, immer donnerstags zusammen. Die Sitzungen dauerten in der Zeit um Calvins Tod mehrere Stunden. Die Ältesten, der Sekretär und der Bote des Konsistoriums erhielten für jede Sitzung, an der sie teilnahmen, eine kleinere Summe ausbezahlt. Die Pfarrer wurden hierfür als Amtsträger des Staates nicht gesondert entlohnt. da die Teilnahme an den Sitzungen als normaler Bestandteil ihres Aufgabenbereiches angesehen wurde. Die Personen, die vor das Konsistorium zitiert wurden, kamen aus allen Schichten und Lebensbereichen der Stadt: es waren Adlige, manchmal Exulanten, die in der Stadt lebten; städtische Patrizier, Kauf- und Geschäftsleute. Mitglieder der regierenden Elite; Handwerksmeister. Gesellen und Dienstpersonal. Ein großer Prozentsatz, in manchen Kategorien die Mehrheit, waren Frauen. Ein gewisser Anteil waren Analphabeten. Die Protokolle zeigen uns so einen echten Querschnitt durch die Genfer Gesamtbevölkerung. Sie verschaffen uns faszinierende und detaillierte Informationen über das Verhalten und die Ansichten von Leuten, die oft keine anderen historischen Zeugnisse hinterlassen haben.
Eine typische Eintragung in das Konsistorialprotokoll beginnt mit dem Namen der vorgeladenen Person, es folgen eine kurze Beschreibung der Anschuldigungen, eine etwas ausführlichere Entscheidung des Konsistoriums. Alles zusammen umfaßt meist nur einen kurzen Abschnitt. Längere Eintragungen jedoch waren nichts Außergewöhnliches, einige erstrecken sich über mehrere Seiten oder beziehen sich auf das Erscheinen ein und desselben Beklagten an mehreren Sitzungstagen. Am Ende verhängte das Konsistorium gewöhnlich eine »Ermahnung« oder einen »Verweis«, eine Art öffentlicher Strafpredigt. Akzeptierte der Vorgeladene diesen Tadel willig und zeigte wirkliche Reue, ohne Widerworte oder Protest, war der Fall damit abgeschlossen. Waren in einem Fall mehrere Personen verwickelt. zum Beispiel bei öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern, Geschäftspartnern oder Nachbarn, konnte sich der Ermahnung eine formelle Versöhnung anschließen. In ernsten Fällen wurde diese Versöhnung selbst zu einem öffentlichen Zeremonie. Damit endeten dann die meisten Verhandlungen.
Unser Wissen über die Arbeitsweise des Konsistoriums wurde bisher dadurch verzerrt, daß sich die Geschichtsschreibung in der Vergangenheit auf einige spektakuläre Fälle, in denen Angeklagten heftig Einspruch erhoben und streng bestraft wurden, konzentrierte. So entstand das Bild des Konsistoriums als eine Art Inquisitionsgericht. Proteste gegen dessen Entscheidungen blieben jedoch immer eine Ausnahme. Das Konsistorium war mehr eine Art verbindlicher Ausgleichsinstanz als ein Gericht. Das Recht, Verweise zu erteilen und Aussöhnungen herbeizuführen, war das einzige. das dem Konsistorium von Anfang an von jedermann zugestanden wurde. Francois Bonivard. Verfasser der ersten historische Analyse der Genfer Verfassung nach der Reformation, hat diesen Umstand nachdrücklich betont. (1) Und Bonivard kannte die Verhältnisse aus eigener Anschauung. Er war mehrere Male vor das Konsistorium zitiert worden. erstmals bereits in der Frühzeit der Institution. Einem weltgewandten Adligen wie Bonivard mag eine Ermahnung nicht als besonders ernstzunehmende Strafe erschienen sein. Viele einfache Genfer jedoch fürchteten sich davor, und zwar so sehr, daß manche lieber die Stadt verließen, als einer Vorladung des Konsistoriums Folge zu leisten.
Bald schon beanspruchte das Konsistorium das Recht, diejenigen, die sich größerer Sünden schuldig gemacht hatten oder sich uneinsichtig zeigten, zu exkommunizieren. Die Exkommunikation war eine harte Strafe und konnte zu allgemeiner Ächtung oder gar Verbannung aus der Stadt führen: Das Konsistorium sah sein Exkommunikationsrecht als absolut an; eine einmal verhängte Exkommunikation sei nicht durch Berufung auszusetzen oder rückgängig zu machen. Es kämpfte verbissen für dieses Recht und erreichte die offizielle Anerkennung im Jahre 1555, als die freidenkerischen Anhänger Ami Perrins, der sich der Exkommunikation widersetzt hatte. durch die Fraktion Calvins blitzartig und brutal entmachtet wurden.
Das Konsistorium beanspruchte außerdem von Anfang an das Recht. bestimmte Fälle zwecks weiterer Untersuchung und, wenn nötig. Einberufung einer formellen Gerichtsverhandlung und Verhängung einer Strafe, an den Kleinen Rat, Genfs wirkliche Exekutivmacht, weiterzuleiten. In den ersten Jahren wurden solche Fälle nur hin und wieder tatsächlich im Rat verhandelt, meistens jedoch ignoriert oder gar abgewiesen. Später wurden sie in der Regel, wenn auch nicht immer, berücksichtigt Diese Entwicklung möchte ich hier jedoch nicht weiter verfolgen. Mich interessiert die Praxis der Ermahnung.
Calvins persönlicher Beitrag zur Arbeit des Konsistoriums
Einer der ersten Biographen Calvins berichtet, dieser habe Wert darauf gelegt, an den Konsistoriumssitzungen regelmäßig teilzunehmen, und »habe alle Verweise selbst ausgesprochen« (2). Das ist gewiß eine Übertreibung, enthält aber auch ein wichtiges Körnchen Wahrheit. Die Protokolle verschweigen den Namen der Person, die die abschließende Ermahnung aussprach, zumeist, und weisen nur daraufhin, daß diese in der Tat erfolgte. Das entsprach der Meinung der Genfer und auch Calvins, der zufolge derlei Entscheidungen nie mit dem Namen einer bestimmten Person identifiziert, sondern gemeinsam getroffen werden sollten. In einer Reihe von Fällen wird der Namen desjenigen, der den Verweis erteilte, jedoch genannt. Fast immer übernahm ein Kleriker, nur selten jemand aus den Reihen der Laienältesten diese Aufgabe. Und häufig war dieser Kleriker in der Tat Johannes Calvin. Wenn Calvin selbst die Ermahnung aussprach, betonte er jedoch häufig, nicht für sich selbst zu sprechen, sondern im Namen des gesamten Konsistoriums.
So enttäuschend unvollständig die Protokolle im Hinblick auf die Frage sind, wer jeweils die Verweise erteilte, so unvollständig sind sie bezüglich deren Inhalte. Ich hoffe immer noch, einmal einen solchen Text vollständig vorzufinden, bisher jedoch vergeblich. Einige Eintragungen geben uns aber immerhin eine allgemeine Vorstellung vom Inhalt dieser Vorhaltungen.
Oft enthalten sie Hinweise auf die Bibel. In einem nicht untypischen Fall zum Beispiel übermittelte Calvin Benoite Ameaux, einer Frau, die angeklagt war, ehebrecherische Praktiken zu verteidigen, »schöne Ermahnungen aus der Heiligen Schrift«. Solche Bemerkungen bestätigen den Eindruck, den ich im Verlaufe der Lektüre anderer Quellen gewonnen habe: Eine sehr wichtige Grundlage für Calvins Einfluß in Genf war sein Umgang mit der Bibel. Natürlich kannte er die Bibel sehr gut. Er besaß ein außergewöhnliches Talent, spontan solche Zitate aus dem Wort Gottes in ein Gespräch einzuflechten, die dem jeweiligen Gegenstand der Diskussion besonders angemessen erschienen. Er setzte diese Bibelworte so geschickt ein, daß seine Zuhörer überzeugt waren, er verstehe ihre Bedeutung besser als jeder andere.
Die abschließende Ermahnung
Lassen Sie mich nun meine Argumentation konkret durch einige Beispiele untermauern, wie Calvin während der Konsistoriumssitzungen Ermahnungen aussprach. Die folgenden Fälle stammen aus dem 1548 einsetzenden Register. Zu diesem Zeitpunkt übernahm ein neuer Sekretär die Aktenführung, und während seiner ersten Amtsmonate waren seine Eintragungen etwas ausführlicher als die seiner Vorgänger.
Hier also drei Fälle, alle aus der Sitzung vom 23. Februar:
1. Pierre Tornier war vermutlich ein Bauer aus dem Dorf Peney, das während der politischen Veränderungen, die in die Reformation mündeten, unter Genfer Vorherrschaft geblieben war. Er war von dem für die Regierung des Dorfes verantwortlichen Amtsträger außerehelichen Geschlechtsverkehrs bezichtigt und an das Konsistorium verwiesen worden. In Peney war er bereits vorschriftsmäßig bestraft worden, das heißt vermutlich mit ein paar Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot. Er mußte nun erscheinen, um seine Reue für die begangene Sünde und den dadurch verursachten Skandal zu bekunden. Calvin ermahnte ihn, »ein Christ solle keinen unerlaubten Geschlechtsverkehr haben, sondern Keuschheit in Körper und Geist üben«. Tornier zeigte Anzeichen von Reue und wurde nach Hause geschickt.
2. Jean Frochet, offenbar ein relativ junger Mann, war von dem Vorsitzenden Syndikus vor das Konsistorium geladen worden; er vernachlässigte seine Arbeit als Schneider und verschwende seine Zeit statt dessen in der Gesellschaft von Taugenichtsen. Calvin verwies ihn, »ein junger Mann solle keusch und bescheiden leben, Vater und Mutter dienen und sich nicht zusammen mit Tagedieben dem Alkohol hingeben«. Er riet Frochet, zurück zur Arbeit zu gehen und »mit Vater und Mutter zu leben, wie es sich für einen Christ gehört«.
3. Francoise des Calegny, eine Einwanderin aus Burgund, war ungehörigen Verhaltens mit einem Hund angeklagt. Nachdem ihr Baby gestorben war, hatten sich ihre Brüste fiebrig entzündet. Sie stillte einen kleinen Hund, um die Schmerzen zu bekämpfen. Calvin hielt ihr vor, »es sei ein Skandal und verletze den guten Geschmack, Hunden zu geben, was Kindern gehöre, und sprach noch weitere christliche Ermahnungen aus«. Sie bat das Konsistorium um Verzeihung, gab der Hoffnung Ausdruck, nie wieder vorgeladen zu werden, und zeigte Anzeichen von Reue.
Hier noch ein weiterer Fall, vom 1. März in der drauffolgenden Woche:
Marquet, der Hutmacher, und seine Frau wurden wegen häuslicher Streitigkeiten vorgeladen. Er hatte sie mit einer Peitsche geschlagen zur Strafe dafür, daß sie sein Verbot mißachtet hatte, sich mit einer anderen Frau, der Ehefrau eines Mannes namens Phocasse, zu treffen. Seine Frau hingegen behauptete, daß sie krank geworden sei. Er erklärte, eines Abends auf der Suche nach seiner Frau zum Haus der Phocasse gegangen zu sein, wo ihm jemand Wasser über den Kopf geschüttet habe. Calvin tadelte ihn, »ein Christenmensch behandele seine Frau nicht so«. Und er ermahnte die Frau, sie solle »die Frau des Phocasse nicht gegen den Willen ihres Mannes besuchen«.
Ein anderer Fall betrifft Claude, die Witwe des Andre Dhatena. Sie wurde wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit einem jungen Mann vorgeladen, der die Stadt inzwischen verlassen hatte. Sie war vor Gericht bereits zu acht Tagen Gefängnis verurteilt worden. Calvin ermahnte sie, Gott erwarte, »daß eine Frau die Sünde außerehelichen Geschlechtsverkehrs bereue«. Danach wurde sie entlassen, mit einer abschließenden Warnung, sich nicht noch einmal so verführen zu lassen.
Zwei weitere Fälle betreffen Beleidigungen gegen Pfarrer:
1. Balthasar Shet (= Sept) wurde am 12. April vorgeladen und bezichtigt, den Pfarrer Abel Poupin verspottet zu haben. Er habe gelacht, als Poupin in einer Predigt von der »schrecklichen Trompete des Zornes Gottes« sprach. Calvin verwies ihn, es sei »ungehörig für einen jungen Menschen, das Wort Gottes auf solche Weise zu verspotten«. Sept wandte ein, er habe sich weder über den Prediger noch über das Wort Gottes lustig machen wollen. Er gab jedoch zu, tatsächlich über Poupin gelacht zu haben, und bat Gott und die Regierung um Vergebung.
2. Jean le Bragart wurde am 17. Mai vorgeladen und bezichtigt, den Pfarrer Jean Ferron in betrunkenem Zustand beleidigt zu haben. Als Ferron ihn nicht beachtet habe, habe le Brauart erklärt, es sei für den Pfarrer an der Zeit, die Stadt zu verlassen und woanders hin zu gehen. Er argumentierte auf eine zumal für einen Betrunkenen recht originelle Art und Weise. Unter Berufung auf die letzten Verse des ums, das Gebot Jesu an seine Jünger, hinzugehen und aller Welt das Evangelium zu predigen, teilte er Ferron mit, es sei Zeit für ihn weiterzuziehen und eine andere Gemeinde zu bekehren. Calvin schalt le Bragart, er habe »diesen Abschnitt der Schrift pervertiert«. Le Bragart wurde dann gefragt, ob er mit einem Mädchen namens Lemaz Grisa verlobt sei. Er bestritt die Verlobung, behauptete aber, Ferron gefragt zu haben, ob es für ihn an der Zeit sei, seine Freundin zu heiraten. Ferron habe ihm so lange nicht antworten wollen, wie Bragart betrunken sei. Es folgte eine weitere Untersuchung bezüglich des Verdachts sexueller Kontakte zwischen le Bragart und Grisa.
All diese Fälle bilden einen relativ typischen Ausschnitt aus der Arbeit des Konsistoriums, typischer als einige spektakuläre Fälle, wie sie von bisherigen Forschern wie zum Beispiel Walter Köhler zitiert wurden. (3) Häufig geht es um sexuelles Fehlverhalten oder mangelnden Respekt gegenüber den Autoritäten. Höhepunkt der Anhörung ist jeweils Calvins Ermahnung der Betroffenen vor dem Konsistorium. In der Regel akzeptieren die Angeklagten die Verweise und werden ohne weitere Konsequenzen entlassen. Und das ist das Ende der Angelegenheit. Nur selten geraten die Betroffenen erneut in Schwierigkeiten und werden nochmals angeklagt. Die Vorladung vor das Konsistorium und die Ermahnung scheinen in der Regel heilsam gewesen zu sein und die Beklagten überzeugt zu haben, ihren Lebenswandel zu ändern. Das spricht für die Effizienz der Sanktion des Verweises. Es erinnert uns an die im 16. Jahrhundert zentrale Rolle der öffentlichen Beschämung zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Disziplin. Calvin entwickelte ein sichtliches Talent bei der Übermittlung solcher Die Tatsache, daß man diese Aufgabe so häufig ihm übertrug, zeugt vom Respekt seiner Kollegen vor seinen diesbezüglichen Fähigkeiten.
Die Ermahnung am Schluß einer Verhandlung bildete häufig den Abschluß des jeweiligen Falles. Es bleibt festzuhalten, daß dem oft noch eine säkulare Strafe folgte, wie im Fall der zwei erwähnten Anklagen wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Der Verweis scheint jedoch einen Akt öffentlicher Vergebung mit umfaßt zu haben. Er stand für die formelle Wiedereingliederung des Angeklagten in die christliche Gemeinschaft. Man könnte diesen Akt vergleichen mit der Absolution nach einer katholischen Beichte, und zweifellos erfüllte er eine ähnliche psychologische Funktion.
Die Ermahnung vor der Anhörung
Calvins Verweise standen jedoch nicht immer am Ende einer Anhörung. Manchmal berichten die Register, wie Calvin bereits zu Beginn einer Sitzung einige mahnende Worte äußerte, quasi um die Vorwürfe gegen die Vorgeladenen zusammenzufassen. Lassen Sie mich erneut einige Beispiele vorstellen.
In den frühen Monaten des ersten Jahres der Tätigkeit des Konsistoriums wurde eine Frau namens Janne Pertennaz mehrmals vorgeladen und nach ihren religiösen Überzeugungen befragt. Sie war offensichtlich katholisch geblieben und machte aus ihrer Ablehnung gegen die reformierte Religion keinen Hehl. Ihre zweite Vorladung erfolgte nach ihrer Unterhaltung mit einem deutschen Besucher, bei der sie diesem mitteilte, in Genf wage niemand mehr, zur Jungfrau Maria zu beten. Calvin begann das Gespräch, indem er »Ermahnungen aus dem Wort Gottes« vorbrachte. Was immer diese beinhalteten, sie halfen nichts. Madame Pertennaz stand zu ihren katholischen Überzeugungen und wurde infolgedessen exkommuniziert.
lm folgenden Jahr wurde Nycolas Baud aus Peissy vorgeladen. Man bezichtigte ihn, seinen Besitz schlecht zu verwalten und so viel davon zu verkaufen, daß befürchtet werden mußte, er werde seine Familie nicht mehr ernähren können. Die Anhörung begann mit »einer Ermahnung durch Monsieur Calvin«. Baud erklärte seine Verhaltetisweise und bat Gott und die Regierung um Vergebung. Das Konsistorium entschied, es sei Sache der Regierung, die Angelegenheit weiter zu untersuchen. Baud wurde außerdem aufgefordert, seine Ehefrau künftig besser zu behandeln, die Gottesdienste regelmäßiger zu besuchen, seinen Kindern ein besseres Vorbild zu sein und den Verkauf von Familienbesitz zu beenden. Die Identität der Person, die diesen Verweis aussprach, kennen wir nicht.
In all diesen Fällen erfüllten Calvins Einwürfe offenbar eine gänzlich andere Funktion als die abschließenden Ermahnungen. Sie sollten die Diskussion einleiten, nicht beenden. Sie waren dazu bestimmt, den Vorgeladenen die Art der Anklage deutlich zu machen und zu zeigen, wie ernst das Konsistorium die Anschuldigungen nahm.
Zwei besondere Fälle
Um das Bild zu vervollständigen, lassen Sie uns einige Fälle betrachten, in denen nicht Calvin, sondern jemand anderem die Verantwortung zufiel, einen Tadel auszusprechen.
Eine solche Verhandlung beendete die erste Scheidungsklage von Calvins Bruder Antoine, der seine Frau Anne Le Fert des Ehebruchs beschuldigte. Dieser Fall führte zu einer formellen Untersuchung durch den Kleinen Rat. Man kam zu dem Schluß, daß sich Anne zwar sehr unüberlegt verhalten habe, Beweise für einen Ehebruch jedoch fehlten. Der Rat empfahl, die Angelegenheit mit einer formellen Versöhnungszeremonie vor dem Konsistorium zu beenden. Diese Zeremonie beinhaltete einen Verweis Annes wegen skandalösen Verhaltens und »Heuchelei«. Diesmal jedoch nicht durch Calvin, der in den Fall persönlich verwickelt war; er selbst hatte als erster seine Schwägerin vor dem Konsistorium des Ehebruchs bezichtigt. William Farel, der große alte Mann der Genfer Reformation, der zu der Zeit die reformierte Kirche in Neuchatel leitete, aber gerade auf Besuch in Genf weilte, übernahm diese Aufgabe. Die Anhörung endete damit, daß Anne Le Fert vor ihrem Ehemann auf die Knie fiel und ihn um Gnade um Vergebung bat, um sich danach mit derselben Bitte an ihren Schwager zu wenden. Beide Brüder akzeptierten ihre Entschuldigung und vergaben ihr. Die drei wurden dann in Frieden entlassen mit der abschließenden Aufforderung, nunmehr in Freundschaft (»en bonne dilection«) miteinander zu leben. Es wäre für Calvin unter den gegebenen Umständen selbstverständlich unangemessen gewesen, den Tadel auszusprechen. Übrigens halfen alle mahnenden Worte in diesem Fall nichts. Einige Jahre später stand Anne wieder vor dem Konsistorium unter der erneuten Anklage des Ehebruchs, vorgebracht durch ihren Ehemann und dessen Bruder. Dieses Mal wurde der Klage stattgegeben; die Ehe wurde geschieden und Anne aus der Stadt verbannt.
Ein anderer prominenter Fall, in dem Calvin den Verweis nicht selbst aussprach, war der des Francois Favre, eines älteren Patriziers, dessen Söhne und Schwiegersöhne wichtige Positionen in der städtischen Regierung innehatten. Favre wurde sexueller Beziehungen zu mehreren Dienstmägden beschuldigt. Calvin war auf der für diesen Fall entscheidenden Konsistoriumssitzung am 3. Februar 1547 nicht anwesend. Sein Kollege Abel Poupin wurde gebeten, die übliche Ermahnung auszusprechen. Favre jedoch verkündete, er werde dem Tadel einfach kein Gehör schenken. Er wolle mit keinem der anwesenden Pfarrer etwas zu tun haben und werde eine Zurechtweisung nur durch den Vorsitzenden Syndikus, einen Laien, akzeptieren. Und er werde auch für den Syndikus die gegen ihn vorgebrachte Anklage nicht wiederholen. Er erklärte, die Anklage liege schließlich schriftlich vor, er sehe daher keine Notwendigkeit, sich bloßzustellen, indem er sie mündlich wiederhole. Nach diesen trotzigen Aussagen brach in der Sitzung Chaos aus, mehrere Pfarrer schrien gleichzeitig auf Favre ein. Einer von ihnen, mit ziemlicher Sicherheit Poupin, bemerkte, daß Favre solange nicht als Schaf, sondern allenfalls als Hund der Herde Jesu Christi angesehen werden könne, wie er die Prediger nicht anerkenne, und nannte ihn einen aus der Kirche Ausgestoßenen. (4) Diese Beleidigungen, vor allem die Titulierung als Hund, erbosten Favre und seine Verwandten. Sie reichten eine formelle Beschwerde gegen Poupin vor dem Kleinen Rat ein (5). Als Favres Tochter, Ehefrau des Ami Perrin, wenig später wegen anderer Vorwürfe vor das Konsistorium zitiert wurde, beschimpfte sie die Pfarrer im allgemeinen und Poupin im besonderen, ihren Vater mißhandelt zu haben. Das ganze Durcheinander mündete schließlich in formelle Gerichtsverhandlungen gegen Favre und seine Tochter. Die Angelegenheit endete einige Monate später in einer weiteren Anhörung vor dem Konsistorium. Favre bekannte nun sein Fehlverhalten und bat um Vergebung. Der vorsitzende Syndikus bat Calvin im Namen des ganzen Konsistoriums, Punkt für Punkt die Ermahnung vorzutragen. Calvin bemerkte einleitend, Pfarrer seien durch Unseren Herrn eingesetzt. Teil ihrer Aufgabe sei es, Sein Wort zu verbreiten, und zwar nicht durch Teilnahme an Konsistoriumssitzungen und die Erteilung von Verweisen. Er sprach weiterhin von der Vergebung Gottes für alle, die ihre Sünden bereuen. Er erinnerte Favre, daß er bei seiner Vorladung einen wirklichen Skandal verursacht habe. Favre akzeptierte Calvins tadelnde Worte. Die einzige Erklärung für sein Verhalten sei seine Erregung darüber, wie sein Sohn während einer früheren Sitzung vom Konsistorium behandelt worden sei. Favre meinte, die Dinge wären nie so eskaliert, wenn Calvin bereit früher so verständnisvoll gewesen wäre wie heute. Er gab dann jedem der anwesenden Pfarrer die Hand, und der Fall war damit abgeschlossen.
Dies war nur einer der Fälle, in denen die mächtige Patrizierfamilie der Favres verwickelt war. Sie bereiteten Calvin eine Menge Unannehmlichkeiten. Sie waren verärgert über den wachsenden Einfluß Calvins und seiner Kollegen in der Stadt, eine Gruppe aus Frankreich in die Stadt geholter Pastoren. Sie hatten nichts gegen deren Theologie, fürchteten aber, die Neuankömmlinge würden alle Genfer Gebräuche ausrotten und der Gemeinde den Stempel französischer Kultur aufdrücken. In diesem speziellen Fall jedoch war der Aufruf nicht durch etwas verursacht worden, das Calvin gesagt hatte, sondern durch den Versuch einer Ermahnung durch seinen Kollegen Abel Poupin. Als schließlich Calvin selbst zu Wort kam, hatten sich die Favres alle beruhigt, das Problem konnte gelöst werden. Zu einem erneuten Konflikt kam es nicht zwischen Francois Favre und dem Konsistorium, sein Schwiegersohn Armi Perrin wurde zum Mittelpunkt weiterer Auseinandersetzungen.
Aufgrund dieser Berichte könnte man argumentieren, daß Calvin im Erteilen von Verweisen geschickter war als seine Kollegen. Seine Strafpredigten scheinen, wenn auch oft hart, so doch erfolgreicher gewesen zu sein, wenn es darum ging, bei den Betroffenen Reue zu erwecken. Das mag ein wichtiger Grund gewesen sein, ihn oft zu bitten, diese Aufgabe zu übernehmen, daß am Ende seines Lebens einer seiner Kollegen behaupten konnte, er tue das immer.
Die Aussöhnung im Gottesdienst
Calvin wurde nicht nur häufig die Aufgabe übertragen, den einen Fall abschließenden Verweis auszusprechen. Man bat ihn außerdem, zumindest einigen der Versöhnungszeremonien, die sich dem manchmal anschlossen, vorzustehen. Die Aussöhnung war oft ein Bestandteil der Anhörung vor dem Konsistorium, so auch in zwei Fällen, die wir bereits betrachtet haben. Das wichtigste, wenn auch nur implizit zu erschließende Ziel der Vorladung von Marquet, dem Hutmacher, und seiner Ehefrau war gewesen, den häuslichen Zwist zu beenden und das Ehepaar zu versöhnen. Das explizite Ziel der Anhörung von Antoine Calvin und seiner Frau nach der ersten Ehebruchsanklage war gewesen, eine Ehe zu reparieren und die Eheleute wieder zusammen zu bringen.
Eine solche Aussöhnung konnte jedoch auch stärker formalisiert in einer separaten, auf die Anhörung folgenden Zeremonie stattfinden. Bereits aus den ersten Jahren des Konsistoriums finden sich Beispiele für solche Zeremonien. Das Konsistorium war insbesondere vor den vierteljährlichen Abendmahlsgottesdiensten um die Aussöhnung von Streitenden bemüht. Man war sich einig, daß in einen heftigen Streit verwickelte Personen, mit »Haß in ihren Herzen« auf andere, seien es Familienangehörige, Geschäftspartner oder Nachbarn, nicht am Abendmahl teilnehmen sollten. Tatsächlich befaßte sich unmittelbar vor den Abendmahlsgottesdiensten ein deutlicher Anteil der Konsistoriumssitzungen mit solchen Aussöhnungsversuchen. Nach dem Abendmahlsgottesdienst rückten jeweils die Personen in den Mittelpunkt des konsistorialen Interesses, die auf Grund ihrer Verwicklung in laufende Streitigkeiten vom Abendmahl ausgeschlossen gewesen waren. Man hoffte, einen Versöhnungsprozeß in Gang zu setzen, der es den Betroffenen ermöglichen würde, am nächsten Abendmahl teilzunehmen. Die entsprechende Zeremonie fand jeweils ein bis zwei Tage nach der Anhörung in einer der städtischen Gemeindekirchen statt. Zwei Mitglieder des Konsistoriums, ein Laie und ein Pfarrer, standen ihr vor. Calvin war häufig der Pfarrer, dem diese Aufgabe übertragen wurde.
Ich möchte einmal mehr einige Beispiele vorstellen.
Am 28. August 1543, im Zuge der Vorbereitungen für den nächsten Abendmahlsgottesdienst, wurde die Adlige Barthélemie, Witwe des Claude Richardet und derzeitige Ehefrau des Adligen Jean Achard, wegen »papistischen Aberglaubens« vor das Konsistorium geladen. Sie bestritt die Anschuldigung rundheraus und gab an, niemals irgend jemanden in Papisterei unterrichtet zu haben, ja, sich nicht einmal zu erinnern, mit jemanden darüber gesprochen zu haben. Das Konsistorium fragte sie, ob sie eine Idee habe, wer ihr durch eine solche Anschuldigung eventuell würde Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Sie berichtete von einem Mann namens Hippolyte, mit dem sie in eine Auseinandersetzung verwickelt gewesen sei, weil er einen Teil ihres Geldes unterschlagen habe. Sie sei bereit, ihm um der Liebe Gottes willen zu vergeben, wolle ihm in keiner Weise Schaden zufügen und werde die Vergeltung Gott überlassen.
Drei Tage später erschienen die Adlige Barthélemie und Hippolyte Revit zusammen mit dessen Brüdern in der Magdalenenkirche zur Versöhnungszeremonie. Vorsitzende waren Antoine Chicand, der in diesem Jahr für den Vorsitz im Konsistorium zuständige Syndikus, und Johannes Calvin. Barthélemie und Revit wurden gebeten, ihr Problem vorzutragen. Revit beklagte sich, sie habe ihn offen beleidigt. ihn einen Verräter, schlechten Menschen und Schlimmeres genannt. Sie bestritt, ihn je einen Verräter genannt zu haben, gab aber zu, ihn tatsächlich als bösen Menschen beschimpft zu haben. Er sei nämlich verantwortlich für den Verlust einer Geldsumme, die ihr verstorbener Mann einer anderen bedeutenden Persönlichkeit zur Verfügung gestellt habe, deren Diener oder Verwalter Revit offenbar war. Sie schien sich jedoch des tatsächlichen Verlaufs des Geschehens nicht sicher zu sein Lind war daher geneigt, die Anklage fallen zu lassen. Offenbar lag die vermeintliche Veruntreuung einige Zeit zurück. Die beiden wurden gebeten, »einander zu vergeben, um das Heilige Abendmahl unseres Herrn zu empfangen, und in Frieden und Nächstenliebe miteinander zu leben«. Sie stimmten beide bereitwillig zu und versprachen, über die Angelegenheit nicht mehr zu reden. Revin hat um eine schriftliche Kopie dieser Vereinbarung. Vermutlich wollte er sicher gehen, daß sie die Anklage nicht später noch einmal vorbringen werde. Die Adlige Barthélemie erklärte sich bereit, Revit als einen »homme de bien«, einen Mann von Besitz und guten gesellschaftlichen Ruf, zu akzeptieren und ihn nicht mehr zu beleidigen.
Im Rahmen derselben Zeremonie arrangierten Chicand und Calvin die Versöhnung zweier Schwestern, Claudaz und Jana Dentant, beide inzwischen verheiratet. Claudaz hatte Jana heftig kritisiert wegen des Preises, den sie für Getreide und einige andere Dinge bezahlt hatte. Die beiden vertrugen sich wieder. Infolge von Verweisen und Ermahnungen einigten sie sich, alle harten Wort und Vorwürfe zu begraben.
Kurz vor dem nächsten Abendmahlsgottesdienst, Ende Oktober 1543, arrangierte das Konsistorium eine weitere Versöhnungszeremonie, erneut in der Magdalenenkirche. Sie wurde nach dem täglichen Gottesdienst anberaumt, und zwar wieder unter dem Vorsitz von Chicand und Calvin. Die Mitglieder des Konsistoriums waren offenbar so erfreut über den Erfolg der früheren Zeremonien, daß sie das Gleiche noch einmal versuchen wollten. Dieses Mal kamen die Betroffenen aus einer noch höheren gesellschaftlichen Schicht: Pierre Tissot, zu der Zeit Schatzmeister der Republik, der einige der wichtigsten Positionen innerhalb der städtischen Regierung inne gehabt hatte und auch in Zukunft bekleiden würde, seine Mutter Francoyse, seine Ehefrau, Loyse Favre (eine Tochter jenes Francois Favre, der in späteren Jahren auf eine Art und Weise berüchtigt werden sollte, die wir bereits betrachtet haben); und sein Bruder Jean. Der Fall war dem Konsistorium einen Tag vor der Versöhnungszeremonie bekannt geworden, als Tissots Mutter Francoyse aus nicht genannten Gründen vorgeladen wurde. Sie glaubte, wegen ihrer religiösen Überzeugungen befragt zu werden, und versicherte den Mitgliedern des Konsistoriums, jeden Morgen zur Predigt zu gehen. Sie fügte dann hinzu, ihr berühmter Sohn versäume diese Pflicht. Sie erklärte außerdem, ihr Sohn habe seit Monaten kein Wort mit ihr gewechselt, und sie komme mit seiner Ehefrau nicht gut aus. Sie warf dem Ehepaar vor, die eigenen Kinder schlecht zu behandeln und sie selbst zu ignorieren.
Diesmal blieb die Versöhnungszeremonie wirkungslos, aus dem einfachen Grund, daß Francoyse als einziges Mitglied der Familie Tissot in der Magdalenenkirche erschien. Chicand und Calvin veranlaßten sofort die offizielle Vorladung von Pierre Tissot, seiner Frau Loyse und seinem Bruder Jean zur nächsten Konsistoriumssitzung, damit sie ihr Verhalten dort erklärten. Pierre Tissot und seine Frau erschienen auch pflichtgemäß, und der Fall wurde relativ ausführlich diskutiert; Jean erschien zu einer späteren Sitzung. Zunächst bracht Francoyse erneut ihre Vorwürfe vor, ihr berühmter Sohn mißhandele und ignoriere sie, unterstütze sie nicht in angemessener
Weise, schicke ihr nur schlechten Wein, kümmere sich nicht darum, wenn sie krank werde, und so weiter. Pierre und Loyse widersprachen höflich, aber bestimmt, und versprachen, künftig alles zu tun, um ihr zu helfen. Es scheint, als sei Francoyse nicht nur streitsüchtig, sondern auch vergeßlich gewesen; offensichtlich hatte sie keine klare Vorstellung mehr von dem, was um sie herum vorging. Das Konsistorium erreichte schließlich in dieser Sitzung eine Aussöhnung. Allerdings erhalten wir keine klare Vorstellung über die Rolle Calvins beim Zustandekommen der abschließenden Übereinkunft.
Ich hoffe, diese ausgewählten Beispiele haben einen Eindruck vermittelt von der Rolle Calvins im Konsistoriums, bei der Erteilung von Verweisen und bei der Vermittlung von Versöhnungen. Sie zeigen ihn als einen Pfarrer, der ständig bemüht war, die Beziehungen seiner Gemeindemitglieder sowohl zu ihren Verwandten und Nachbarn als auch zur gesamten christlichen Gemeinde wieder ins Reine zu bringen. Ich hoffe, daß die weitere Arbeit an den Registern des Konsistoriums noch weitere Details zu diesem Wichtigen, aber lange vernachlässigten Aspekt von Calvins Werdegang ans Licht bringen wird.
(1) Francois Bonivard, De 1'ancienne et nouvelle police des Geneve et sources D'icelle, Genf 1847, S. 199f.
(2) Nicolas Colladon, Vie de Calvin, in: Calvini Opera, Bd. 21. col. 66.
(3) Walter Köhler, Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium (=Quellen und Abhandlungen zur Schweizerichen Reformationsgeschichte, Bd. 10), Bd. 2, Leipzig 1942, Kap. 14: »Johann Calvin und Genf«, S. 505-652. Köhler hat für seine detaillierte Untersuchung nicht die Originalregister des Konsistoriums benutzt, sondern eine von Frédéric-Auguste Cramer 1853 zusammengestellte Sammlung von Auszügen.
(4) Calvini Opera, Bd. 21, col. 395f.
(5) Calvini Opera, Bd. 21, col. 399f.
Robert M. Kingdon,
Hilldale Professor of History, Emeritus, at the University of Wisconsin-Madison, former Director and current Member of the Institute for Research in the Humanities, and former editor of the Sixteenth Century Journal. A world authority on the religious, political, and legal history of Calvinist Geneva and France.