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Weltfrieden und Massenvernichtungswaffen passen nicht zusammen
Die Friedenserklärung des Moderamens in der Diskussion
Im April des Jahres 1982 beauftragte die Hauptversammlung des Reformierten Bundes einen Ausschuß, "unter Zugrundelegung der bisher vorliegenden reformierten Stellungnahmen zur Friedensfrage" eine Vorlage zum Schwerpunktthema "Frieden" für die Vollversammlung des Reformierten Weltbundes in Ottawa (August 1982) vorzulegen. In relativ kurzer Zeit wurde diese Vorlage erarbeitet. Das Manuskript sollte vervielfältigt werden. Doch bot sich in letzter Stunde die Möglichkeit einer Drucklegung an.
Niemand von uns hatte beabsichtigt oder erwartet, daß die Erklärung "Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche" einen so großen Zuspruch und Widerspruch finden würde, wie es im Sommer 1982 geschah. Aus einer Vorlage für die Vollversammlung in Ottawa war plötzlich eine Stellungnahme geworden, mit der sich zahlreiche Gemeinden, Synoden, Pfarrerkonvente und vor allem junge Christen identifizierten, und der zugleich viel Kritik entgegengetragen wurde.
Doch wird niemand behaupten können, diese Erklärung sei ohne jede in den Gemeinden diskutierte Voraussetzung als schöpferisches Produkt einer "radikalen Minorität" herausgebracht worden. Alle Fragen, auch und vor allem die umstrittene Bekenntnisfrage, waren in einem Schreiben vom Oktober 1981 den Mitgliedern des Reformierten Bundes vorgetragen worden (Brief betr. "Diskussion um die Erhaltung des Friedens"). Auch hatte der Landeskirchentag der Nordwestdeutschen Reformierten Kirche klare Aussagen zum Thema "atomare Rüstung" formuliert. Weiter ist hinzuweisen auf die Diskussion in der Reformierten Kirche der Niederlande und auf die seit 1958 bekannten Dokumente (Thesen der Kirchlichen Bruderschaften; Gutachten von dreißig Hochschullehrern), auf die später einzugehen ist.
Vor allem wird von Anfang an festzuhalten sein, daß keiner der Mitverfasser der Thesen des Moderamens beabsichtigt hat, ein Bekenntnis zu formulieren. Das umstrittene Dokument bezeichnet sich selbst als eine "Erklärung" und will auch so und nicht anders verstanden sein. Allerdings weist diese Erklärung auf die Unvereinbarkeit atomarer Rüstung mit dem Bekenntnis der Kirche nachdrücklich hin und stellt damit die Bekenntnisfrage (These 1) - eine Frage also, die nicht individuellem Ermessen anempfohlen ist. Die christliche Kirche ist gefragt, wo und wie sie ihre Sendung und Verantwortung wahrnimmt, "Licht der Welt" und "Salz der Erde" zu sein in einer weltpolitischen Entwicklung, in deren zentralem Spannungsfeld wir leben. Sie ist gefragt, ob sie das Gewissen der Politiker und der politischen Parteien ist, oder der Vollzugsbeistand in einem Geschehen, das in Vancouver 1983 als "Verbrechen gegen die Menschheit" bezeichnet worden ist.
I
Kritik und Widerspruch hat die Feststellung des "status confessionis" hervorgerufen. Mit Besorgnis beobachten wir, daß in der Auseinandersetzung mit der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes der (vieldeutige) Begriff aus dem Kontext seiner inhaltlichen Näherbestimmunge herausgelöst und auf ein Verständnis des "status confessionis" bezogen wird, wie es im 16. Jh. maßgebend war. Auf diese Weise wird nicht nur eine unangemessene Rede vom (konfessionellen) "Bekenntnisstand der Kirche" eingeführt bzw. die kirchenrechtliche Konsequenz der Feststellung eines "status confessionis" hochgespielt, es wird auch und vor allem auf die Bedrohung oder gar Infragestellung der Einheit der Kirche hingewiesen. Zur Klärung der Situation sei folgendes festgestellt:
- Seit dem 16. Jh. stimmen alle Hinweise auf den "status confessionis" darin überein, daß die Unvereinbarkeit von Reden und Handlungen in der Kirche mit dem Bekenntnis des Glaubens deutlich und unausweichlich, vor allem aber in ihren weitreichenden Konsequenzen, angezeigt wird.
- Während jedoch im 16. Jh. der "status confessionis" auf das reformatorische Bekenntnis bezogen war und die Unvereinbarkeit von kirchlichen Riten und kultischen Praktiken mit dem "Bekenntnisstand" herausstellte, damit aber auch eine einschneidende Trennung einleitete, hat sich im 20. Jh. ein neuer Bezug des alten Begriffs und ein solches Verständnis des "status confessionis" herausgebildet, ohne dessen Beachtung die Erklärung des Moderamens in dieser wichtigen Sache nicht angemessen beurteilt werden kann.
- In ihrer Verantwortung für Gottes Schöpfung und das Menschsein des Menschen wird seit 1933 der "status confessionis" im Sinne einer Feststellung der Unvereinbarkeit von Reden und Handlungen (bzw. Unterlassungen) in der Kirche dort erkannt und zur Sprache gebracht, wo z. B. auf die Verfolgung der Juden (D. Bonhoeffer 1933), auf die Bedrohung der Welt durch atomare Massenvernichtungsmittel (K. Barth, Kirchl. Bruderschaften, Gutachten der dreißig Hochschullehrer 1958) oder auf die Apartheid (Luth. Weltkongreß in Daressalam 1977, Reformierter Weltbund 1982) hingewiesen wurde. In allen diesen Fällen handelte es sich um Unvereinbarkeit der angezeigten Ereignisse mit dem Evangelium bzw. dem Bekenntnis des Glaubens an den dreieinigen Gott.
- Wiederholt haben Mitglieder des Moderamens darauf hingewiesen, daß die Rede vom "status confessionis" in der Erklärung aus dem Jahre 1982 bewußt und inhaltlich nachweisbar an die Thesen der Kirchlichen Bruderschaften zu den atomaren Massenvernichtungsmitteln aus dem Jahre 1958 anknüpft und erinnert.
- Das evangelische Verständnis von "status confessionis" in der Frage der atomaren Massenvernichtungsmittel beabsichtigt und erwirkt seit 1958 keine sofortige Trennung ("status separationis") im Sinne der aus dem 16. Jh. stammenden Tradition, sondern eine ernste Mahnung und eine dringende Einladung an alle Christen, die Unvereinbarkeit der die Schöpfung Gottes und die Menschlichkeit des Menschen zerstörenden Massenvernichtungsmittel mit dem Bekenntnis zum dreieinigen Gott, dem Schöpfer und Erlöser, zu erkennen und entsprechend zu handeln. Dabei würde es gelten, in umfassendem Sinn die Bindungen und Bannungen der Kirche in der Welt der Politik wahrzunehmen und unter der befreienden Macht des Evangeliums umzukehren. "Ohne die Erlösung der Kirchen aus ihrer Gebundenheit an die Interessen der herrschenden Klassen, Rassen und Staaten gibt es keine heilbringende Kirche. Ohne Befreiung der Kirchen und der Christen aus der Komplizenschaft mit institutioneller Ungerechtigkeit und Gewalt kann es für die Menschheit keine befreiende Kirche geben ..." (Weltkirchenkonferenz in Bangkok 1972).
- Die Dynamik und Dauer des schon im Jahre 1958 in Gang gesetzten Prozesses der Umkehr und des Umdenkens läßt sich mit dem von W. Huber eingeführten Begriff "processus confessionis" ("Prozeß des Bekennens") angemessen bezeichnen. Wer in der Einführung dieses Begriffs oder den unter 5. dargelegten Vorgängen eine "Erweichung" angeblich härterer Ausgangspositionen in unserer Erklärung sieht, urteilt im Bann eines status-confessionis-Verständnisses des 16. Jh., das der Erklärung des Moderamens nie zugrunde lag. Es sei ausdrücklich hingewiesen auf die Neuauflage des Heftes 70 der "Theol. Existenz heute" durch H. Simon.
- Dem Exekutivausschuß des Reformierten Weltbundes ist zuzustimmen, wenn er definiert: "Unter dem Begriff "status confessionis" verstehen wir, daß in der jeweiligen Frage die Treue zu Jesus Christus eine eindeutige Antwort erfordert; jede Abweichung davon würde das gemeinsame Bekenntnis der reformierten Kirchen ernsthaft gefährden. Es geht nicht um besondere Glaubensbekenntnisse reformierter Tradition, sondern um die grundlegende Glaubensaussage "Jesus Christus ist der Herr". Mit der Benennung des "status confessionis" wird zum Ausdruck gebracht, "daß die Kirchen in dieser Frage eine eindeutige Position beziehen müssen." Hierzu: RKZ 5/1983 S.114.
- Angesichts der getroffenen Feststellung ist es unverständlich, wenn von einer Zerstörung der Einheit der Kirche gesprochen wird und Kategorien und Konsequenzen des 16. Jh. in Ansatz gebracht werden. Vor allem wird zu bedenken sein:
a) daß die allein in Jesus Christus und im Glaubensgehorsam seiner Gemeinde gegründete Einheit der Kirche ständig verwechselt wird mit dem institutionellen Zusammenschluß der Volkskirche bzw. der EKD, die ja doch ihr Kirche-Sein auch noch bestreitet.
b) daß die Feststellung und gewissenhafte Beachtung des "status confessionis" in der Frage der Massenvernichtungsmittel längst quer durch alle Konfessionen in ihrem verschiedenen "Bekenntnisstand" hindurchgeht,
c) daß die ökumenische Erklärung zu den atomaren Massenvernichtungsmitteln (Produktion, Rüstung, Bereitstellung, Drohung, Einsatz) als "Verbrechen gegen die Menschheit" der eigentliche Inhalt der Glauben und Handeln aller Christen betreffenden Herausforderung ist, die mit dem alten Begriff "status confessionis" in ihrem Ernst und in ihrer Tragweite angemessen unterstrichen werden kann.
Zur Erklärung des Moderamens äußerte sich in einer Pressekonferenz vom September 1982 der Versöhnungsbund folgendermaßen: "Diese Thesen sind ... alles andere als eine Belastung der kirchlichen Gemeinschaft. Sie müssen vielmehr als Anlaß verstanden werden, daß auch die anderen Kirchen innerhalb der EKD den bisherigen Kompromiß doppelsinniger und unverbindlicher Äußerungen verlassen, den biblischen Friedensauftrag neu überdenken und zu einem gemeinsamen Nein gegenüber den Massenvernichtungsmitteln kommen."
II
Heftig war die Kritik, die der Erklärung des Moderamens aus dem Rat der EKD und der Kirchenleitung der VELKD entgegengebracht wurde. Da war von "steilen" theologischen Aussagen die Rede, von einem "Mißbrauch des Christusbekenntnisses" zu politischen Zwecken und - immer wieder - von einer Zerstörung der Einheit der Kirche. Schnell wurde deutlich, daß diese Kritik motiviert war durch eine neuzeitlich-dualistisch geprägte Unterscheidung der beiden Reiche, wie sie von Luther eingeführt worden war. Streng voneinander abgehoben werden in solcher Lehrausprägung das geistliche Reich des Evangeliums und der Kirche auf der einen, und das weltliche Reich der Politik und des Staates auf der anderen Seite.
Wird eine solche Unterscheidung eingeführt, dann lautet das Ergebnis im Blick auf die Thesen des Moderamens: "Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen, politische Entscheidungen - selbst solche auf Leben und Tod - zu Bekenntnisfragen der Kirche zu erheben" (These IV der VELKD vom 10. September 1982). Der im Einflußbereich der VELKD stehende Rat der EKD hat sich angeschlossen mit der Formulierung: "Fragen innerweltlichen Überlebens, so wichtig sie sind, dürfen nicht mit den Fragen des Glaubens verwechselt und zu Bekenntnisfragen gemacht werden."
Es kann in diesem Beitrag die Auseinandersetzung mit der neuzeitlich-dualistischen Version der Zwei-Reiche-Lehre nicht geführt werden. Aber es muß doch aufmerksam gemacht werden auf den scharfen Widerspruch, der diese Lehre getroffen hat, und zwar aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes und der politischen Herausforderungen nach dem 2. Weltkrieg. Nicht der reformierte Karl Barth, sondern Hans-Joachim Iwand, der Lutheraner, soll hier zitiert werden. In seinem Aufsatz "Die politische Existenz des Christen unter dem Auftrag und der Verheißung des Evangeliums von Jesus Christus" geht Iwand aus von der unbedingt zu erkennenden Gefahr des Mißbrauchs des Christlichen für die und in der Politik (Um den rechten Glauben, 1959, 183).
Es gibt die Vermischung der beiden Reiche, wie die Reformatoren sagten, und es gibt ein Schwärmertum, welches aus dem Evangelium ein Programm und aus der Freiheit des Glaubensgehorsam ein Gesetz macht. Doch "kann damit nicht gesagt sein, daß wir das Recht und die Freiheit hätten, das Wort Gottes da, wo es mitten hineintrifft in unsere politische Existenz, abzulenken und zum Verstummen zu bringen. Gottes Wort will alle Räume unseres Lebens, in denen wir uns bewegen, mit seinem Gericht und seiner Verheißung treffen. Sobald wir einen Bezirk vor ihm verschließen, kann es auch in allen anderen Bezirken nicht mehr wirken, ist es nicht mehr sein Wort, sondern unser Wort, sind wir nicht mehr von ihm geleitet, sondern haben uns seiner bemächtigt und wenden es an, wo es uns paßt, und unterdrücken seine Mahnung, wo sie uns bedenklich und unseren menschlichen Wünschen und Hoffnungen hinderlich scheint" (183).
Iwand unterschied zwischen der - auf Luther zurückgehenden – "qualitativen Bedeutsamkeit" der Lehre von den beiden Reichen und dem Mißbrauch der Unterscheidung in "quantitative Begrenzungen". Es ist kennzeichnend für den neuzeitlich-dualistischen Ansatz der Zwei-Reiche-Lehre, daß die quantitative Begrenzung bestimmend ist. Dem Wirken des Wortes Gottes wird eine Schranke gesetzt vor dem gesamten Terrain des Politischen. Damit erhalten die weltlichen Ordnungen als Eigengesetzlichkeiten einen besonderen, unangreifbaren Status. Die pragmatischen Verhältnisse im "Raum" des Politischen haben ihre eigene Würde und können allenfalls durch einen kirchlichen Beitrag zur "politischen Kultur" angesprochen werden (vgl. die Denkschrift der EKD "Frieden wahren, fördern und erneuen" 1981).
Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig die als "lutherisch" bezeichneten Äußerungen unserer Tage die Problematik der Zwei-Reiche-Lehre reflektieren. Die ersten Widersprüche gegen die Erklärung des Moderamens zeichneten sich dadurch aus, daß sie formal und emotional verliefen. Die eigentlichen Sachprobleme wurden gar nicht berührt. Kirchenpolitische Erwägungen standen im allgemeinen Raster der Zwei-Reiche-Lehre.
Doch allmählich konkretisierte sich die Kritik. Was zuerst generell "Mißbrauch des Christusbekenntnisses" genannte wurde, bezog sich auf die Versöhnungslehre in der These 1 unserer Erklärung. Von einer unbiblischen, ontologisierenden Versöhnungslehre wurde gesprochen. Man bemängelte - allen Ernstes - den Satz "Gott hat die ganze gottfeindliche Welt mit sich versöhnt", obwohl dieser Satz 2. Kor. 5, 19 bezeugt: "Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst". Die von der Versöhnungslehre Karl Barths deutlich herausgearbeitete Unterscheidung zwischen diesem "de iure" der göttlichen Tat und dem "de facto" der noch nicht vernommenen und noch nicht aufgenommenen Versöhnungsbotschaft wurde von den Kritikern nicht erkannt, obwohl in These 1 auch das andere steht: "Er hat seine Gemeinde in die Welt gesandt, das Wort von der Versöhnung auszurichten" (vgl. 2. Kor. 5, 20). Daß eine Ethik der Versöhnung nur vom "de iure" der göttlichen Tat her entwickelt werden kann, müßte in der Diskussion noch deutlicher als bisher herausgestellt werden. Hier liegen, was die Grundsatzdebatte angeht, noch viele unerledigte Aufgaben.
Dies betrifft auch die stark attackierte "Staatstheorie" der Thesen des Moderamens. Es wurde der Vorwurf erhoben, die Autorität des Staates würde unterminiert, wenn z. B. vom Staat als von einer "widergöttlichen Gewalt" gesprochen werde. Aber der Kontext zeigt deutlich, wie diese Aussage zu verstehen ist. Da wird erklärt, in der noch nicht erlösten Welt sei der Staat - wie die Kirche - von der Macht des Bösen bedroht. Deutlicher: "wo er Massenvernichtungsmittel in seine Machtmittel einbezieht, - da wird er zu einer solchen widergöttlichen Macht" (Zu These V). M.a.W. nicht die Thesen des Moderamens "unterminieren" die Autorität des Staates, sondern der die Massenvernichtungsmittel in sein Machtpotential einbeziehende Staat unterminiert sich selbst. Davon ist frei und deutlich zu sprechen. Wir haben die Schutzgrenze der devoten Staatsanerkennung, die durch Jahrhunderte im Christentum religiös sanktioniert war, zu durchbrechen. Es ist reformiertes Erbe, den Widerspruch gegen einen Staat zu erheben, der seine Kompetenzen überschreitet (Th. Beza, De iure magistratuum).
Doch die Wurzel allen Übels ist die Naivität, mit der die grauenhaften Massenvernichtungsmittel in ein traditionelles Bild von Militärstrategie, von "Schutz" und "Verteidigung", einfach eingefügt werden. "Das Langsamste auf dieser Welt ist die Entwicklung des menschlichen Denkens. Unsere Technik ist uns um große Schritte voraus. Unsere Phantasie, unsere Vorstellungen, unser Vorstellungsvermögen ist zurückgeblieben. Unser Denken verläuft in den Bahnen vergangener Zeiten. Wir reden von Dingen, die es nicht mehr gibt. Wir legen Denkmuster an Vorgänge, die ohne Vorgang sind. Die Wirklichkeit ist stärker als unsere Vorstellungskraft" (Kardinal König, FAZ 3.3.1982 5.10).
Wenn die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen die Herstellung und die Drohung der Massenvernichtungsmittel ein "Verbrechen gegen die Menschheit" nennt, dann geht der Rat der EKD in dieser Einschätzung aus Loyalität gegenüber den Politikern, die sich doch nicht als "Verbrecher" bezeichnen lassen, nicht mit. Doch die Zusammenhänge liegen tiefer und rufen uns alle zu Buße und Umkehr auf. Der Atomphysiker Max Born sagte: "Ich scheue mich nicht, das Wort Verbrechen zu gebrauchen. Und doch will ich keinen einzelnen Verbrecher nennen. Es handelt sich um eine Gesamtschuld, um den Verfall des sittlichen Bewußtseins, an dem wir alle mitschuldig sind. ..." (Spiegel 24.4.1957 S. 15).
III
Gegenstand der Kritik waren und sind diejenigen Passagen in den Thesen des Moderamens, in denen politische Analysen und militär-politische Konsequenzen erkennbar sind. Die Frage nach dem Recht und der Bedeutung der politischen Vernunft wird in diesem Zusammenhang nachdrücklich gestellt. Dabei wird freilich von Beginn an zu bestreiten sein, daß dort, wo politische Macht ist, auch stets politische Vernunft waltet. Es herrscht unter uns eine große Scheu vor dem Eingeständnis, daß gottlose und die Menschheit bedrohende Sachzwänge die sog. politische Macht weitgehend entmächtigt und die "politische Vernunft" entsprechend ausgerodet haben.
In der Einschätzung der politischen Lage können christlicher Glaube und politische Vernunft einander nicht widersprechen, z. B. in der Analyse, die George F. Kennan vorgetragen hat: "Für mich ist die Atombombe die nutzloseste Waffe, die je erfunden wurde. Man kann sie zu keinem vernünftigen Zweck verwenden. Sie ist nicht einmal ein wirksamer Schutz gegen sich selbst. Sie ist nichts als ein Ding, mit dem man in einem Moment der Wut oder der Panik so entsetzliche Vernichtungsschläge führen kann, wie sie kein Mensch, der bei Sinnen ist, je auf dem Gewissen haben möchte."
Und zu den absurden und widersinnigen Mengen "Overkill", der millionenfachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima schreibt Kennan: "Wer nicht begreift, daß die Gefahr nicht darin liegt, daß ein anderer möglicherweise mehr Raketen und Sprengköpfe hat als wir, sondern darin, da ß es unfaßliche Mengen hochgiftiger Sprengkörper überhaupt gibt, zudem in so schwächlichen und zittrigen und unzuverlässigen Händen wie den unseren oder denen unserer Gegner oder denen irgendeines anderen einfachen Menschenwesens: Wer diese Dinge nicht begreift, wird uns niemals hinausführen aus dem immer dunkler und drohender werdenden Wald von Wirrungen, in dem wir uns alle verirrt haben" (Im Schatten der Atombombe, S. 261).
Aber was soll praktisch geschehen? Was kann geraten werden? Niemand kann und wird sich der Illusion hingeben, daß alle atomaren Potentiale auf einen Streich abgeschafft werden können. Was also trägt ein "Nein ohne jedes Ja" aus, wenn z. B. "kalkulierte, einseitige Abrüstungsmaßnahmen" als erste Schritte bezeichnet werden? Haben diejenigen nicht recht, die behaupten, im Grunde unterscheide sich die Erklärung des Moderamens nur in Nuancen von der Denkschrift der EKD, weil in beiden Fällen "erste Schritte" erwogen werden (v. Mutius, J. Fischer).
Doch die Neutralisierungstendenzen dieser Theologen übersehen hinsichtlich der politischen Konsequenzen die Bedeutsamkeit des Vorzeichens vor der Klammer aller praktisch möglichen "ersten Schritte". In der Denkschrift des EKD lautet dieses Vorzeichen: "Die Kirche muß auch heute, 22 Jahre nach den ‚Heidelberger Thesen‘, die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christus noch mögliche Handlungsweise anerkennen." Dies ist ein Ja zu den Massenvernichtungsmitteln mit einem langgestreckten "noch".
Entsprechend wurde in der Bundestagsdebatte um die sog. "Nachrüstung" das Votum der EKD als religiöse Ermächtigung zur Aufstellung der Pershing-II-Raketen zitiert. - Das Vorzeichen der Erklärung des Moderamens aber ist ein "Nein ohne jedes Ja", dessen Kraft und Wucht jeden praktisch möglichen Schritt anleitet und sich nicht - unter der Hand - in ein verdecktes Ja umprägen läßt. Vor allem schafft das "Nein ohne jedes Ja", im Gehorsam des Glaubens gesprochen, eine Ausgangslage, die zu neuen Überlegungen befreit, Phantasie freisetzt und zu Wagnissen der Versöhnung ermutigt. "Eure Rede aber sei: Ja, ja; - nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel" (Mat. 5, 37).
IV
Der frühere Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, W. A. Visser't Hooft, hat schon vor zwei Jahrzehnten den "status confessionis" der Kirchen im Blick auf Hunger und wirtschaftliche Not in der Welt festgestellt. Im Zusammenhang mit der atomaren Aufrüstung sind wir noch einmal neu und nachhaltig darauf hingewiesen worden, daß atomare Rüstung schon jetzt tötet. Denn die Aufhäufung von atomaren Massenvernichtungsmitteln führt mit dem Bestreben, ein Gleichgewicht der Kräfte im Ost-West-Verhältnis herzustellen, in ein Ungleichgewicht hinsichtlich des Nord-Süd-Verhältnisses.
Es wird immer deutlicher, daß der mit ungeheurem Vernichtungspotential erstrebte Weltfrieden durch weltweite Ungerechtigkeit Tag für Tag untergraben wird. Realistisch ist die Einschätzung, daß gegenwärtig in unserer Welt in jeder Stunde ungefähr zweitausend Menschen an Hunger sterben, während in der gleichen Stunde um die zwei Millionen Dollar für die Rüstung ausgegeben werden. Diese Zahl wird sich bis zum Jahr 2000 - wenn in der Hochrüstung fortgefahren wird - noch verdoppeln. Skandal und Schuld des militärischen Sicherungssystem auf Kosten der Armen und Hungernden in unserer Welt sind unfaßlich. Doch ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.
Von Stunde zu Stunde verlieren wir mehr die Chance auf Frieden. Dabei ist noch unkalkulierbar der Vorgang, daß die Ungerechtigkeit zu einem Herd des Aufbruchs, des Aufbegehrens einer mit dauernden Waffenlieferungen an das Netz des Sicherheitssystems angepaßten sog. dritten Welt werden wird, - der dritten Welt, in der der Besitz oder die Entwicklung der atomaren Potentiale bekanntlich durchaus im Bereich der Möglichkeit liegen. Es ist bemerkenswert, daß einer der Erfinder der Atom- und Wasserstoffbombe, Edward Teller, in diesen Konstellationen die große unerkannte und unbeachtete Gefahr der Weltzerstörung sieht.
Doch ist an dieser Stelle vor allem von der Schuld der Kirche zu sprechen, von unser aller Schuld, die wir den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden nicht nachhaltig ins Bewußtsein gerückt und mit entsprechenden konkreten Aktionen sichtbar gemacht haben. Wir reden von der Freiheit, die wir zu schützen und zu sichern haben, meinen aber mit "Freiheit" immer nur die eigene Freiheit zu maßlosem Wachstum; ignorieren jedoch das Minimum in Freiheit zum alltäglichen Existieren, das wir zahllosen Menschen rauben, indem wir mit unserem Sicherheitsdenken den durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung aufgehäuften Wohlstand und unsere Ruhe zu schützen bestrebt sind. Wo immer, in der Phase nach der Aufstellung der Pershing-II-Raketen, Resignation und Verzweiflung sich ausbreiten wollen, da erkenne man die unermeßlichen Aufgaben, die Visser't Hooft mit der Feststellung des "status confessionis" angezeigt hat! Es gilt, in den Gemeinden einen "covenant for peace and justice" zu schließen und einander zu neuen Taten der Gerechtigkeit und des Friedens zu ermutigen.
Was in der Zukunft zu tun ist, zeichnet sich deutlich ab. Zuerst wird das nicht ermüdende Gebet der Gemeinde und jedes einzelnen Christen zu nennen sein, - ein Gebet, das nicht allgemein, sondern sehr konkret und mit genauer Bezeichnung der Not und der Kriege Gott anruft. Doch dieses Gebet kann und darf nicht an Gott delegieren, was die christliche Gemeinde zu sagen und zu tun berufen ist. So muß dem Gebet ein konkretes Handeln entsprechen und folgen. Theorie und Praxis aber sind unlöslich aufeinander bezogen. Die Theologie ist zu neuer Arbeit und neuem Denken herausgefordert. Sie kann und darf sich nicht in den traditionellen Schablonen bewegen.
Den Kritikern unserer Erklärung sind wir dankbar, daß offene Gespräche geführt wurden und auch fortgesetzt werden. Ja, wir bitten herzlich alle, die mit den Thesen des Moderamens nicht einverstanden sind oder in Einzelfragen Korrekturen für geboten halten, den Dialog mit uns nicht abzubrechen.
Aus: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hrsg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, 134-145
Hans-Joachim Kraus