Unser Vater in den Himmeln …
(Und) erlass uns unsere Schulden,
wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Mt 6, (9) 12
1.
Warum sollen wir nach Jesu Lehre unsern Vater in den Himmeln mit dieser Bitte anrufen?
Nicht dass er ohne und vor unserm Bitten die Sünde nicht auch vergebe; denn er hat uns das Evangelium, darin eitel Vergebung ist, geschenkt, eh wir drum gebeten oder jemals darnach gesonnen haben. Es ist aber darum zu tun, dass wir solche Vergebung erkennen und annehmen.
So erklärt Martin Luther im Katechismus.
Damit ist das große Thema von Schuld und Vergebung angeschlagen. Es hat hier die Sprachform der Bitte. Bitten sollen wir: Vergib uns unsre Schuld!
Heute ist in unserm öffentlichen Sprachgebrauch der bestimmte Charakter der Bitte weithin verkommen zu der Redensart: Ich entschuldige mich.
Einer beleidigt einen anderen. Ein Politiker betrügt das Volk. Und dann, wenn er dazu gedrängt wird und nicht anders kann oder auch will, sagt er öffentlich: Ich entschuldige mich.
Andernfalls heißt es in den Medien: Der hat sich noch nicht einmal entschuldigt. Tut er es aber, dann soll es irgendwie gut sein oder wieder gut werden.
Neulich fielen Soldaten eines Landes auf Befehl in ein Nachbarland ein. Menschen wurden getötet. Ein paar Tage später erklärte der Regierungschef: Ich entschuldige mich dafür.
Kann einer sich denn selbst entschuldigen?
Ent – schulden?
Das Vaterunser-Gebet ist uns hier eine Sprachschule: Ihr sollt so beten! Bitten! Wenn ich den andern, an dem ich schuldig geworden bin – es sei Gott oder mein Mitmensch – um Vergebung bitte, überlasse ich es ihm, ob er mir vergibt.
Zu diesem Verständnis der Vaterunser-Bitte gehört: Hier spricht sich einer aus, der Böses an anderen getan hat, und er bekennt seine Schuld: Gott, sei mir Sünder gnädig!
In diesem Sinn erklärt in unsrer reformierten Tradition der Heidelberger Katechismus:
Wollest uns armen Sündern alle unsere Missetat, auch das Böse, das uns noch immerdar anhängt, um des Blutes Christi willen nicht zurechnen.
Auch der heutige Papst legt so aus: Die fünfte Vaterunser-Bitte setzt eine Welt voraus, in der es Schuld gibt …irgendwie eine Verletzung der Wahrheit und der Liebe …
Im breiten Strom christlicher Überlieferung verstehen wir diese Bitte so, wie wir sie schon beim Evangelisten Lukas formuliert finden: Er sagt nicht „Schulden“ wie man das Wort bei Mt übersetzen kann. Lukas sagt „Sünden“. Vergib uns unsere Sünden!
2.
Da höre ich nun die Frage eines meiner theologischen Lehrer (Hans-Georg Geyer): Ist das wirklich der Grundsinn dieser Bitte im Vaterunser? Gestimmt auf die Grundmelodie: Dem Menschen hängt das Böse an – er tut Sünde – er bedarf der Vergebung?
Ich will ein bisschen berichten von den fragenden Überlegungen dieses Lehrers. Sie führen unser Verständnis der Vergebungsbitte in eine größere Weite.
Das Wort „Schulden“ hat seinen Platz in Handel und Geldverkehr. Da werden Darlehen genommen und gegeben. Schuldner haben Schulden bei ihren Gläubigern und müssen zurückzahlen, was sie geliehen haben. Das hat mit „gut und böse“ zunächst nichts zu tun. Das ist ein übliches Geben und Nehmen.
An ein übliches Geben und Nehmen können wir auch im Verhältnis von Gott zu uns Menschen und von uns Menschen untereinander denken. Hier ist Gott der ursprünglich Gebende. Aber er setzt ein gegenseitiges Nehmen und Geben in Gang. Er wartet darauf, dass wir Menschen nehmen und auch geben. Dass wir ihm antworten mit unserem Dank, mit unserer Treue, mit unserer Hingabe, mit unserer Verantwortung, mit unserem Leben. So ein Geben sind wir Gott schuldig. Ein durchaus wechselseitiges Hin und Her. Da sind wir gleichsam Partner, mit denen Gott verkehrt.
Wechselseitiges Geben und Nehmen auch im Verhältnis von Eltern und Kindern.
Ein Kind bekommt von seinen Eltern, was es Tag für Tag braucht: Essen und Trinken, Kleider zum Anziehen und ein Bett im Haus, das es beschützt. Wenn es gut geht: das volle Maß der Zuwendung. Und das Kind soll seine Eltern achten und gegebenenfalls für ihre Versorgung im Alter verantwortliche Entscheidungen treffen.
Vielleicht sagt das Kind, wenn es das sagen kann:
Seht es mir nach, liebe Mutter und lieber Vater, für eure Liebe kann ich nicht genug danken. Ich bleibe mein Leben lang in eurer Schuld, immer im Rest. Das Kind bezeugt seinen Eltern so nur seine Dankbarkeit. Und dass es nicht über sein Können hinaus danken kann.
Klar ist das Verhältnis asymmetrisch. Jedenfalls im Anfang. Was das Kind von seinen Eltern bekommen hat, ist unverhältnismäßig mehr, als es zurückgeben kann. Aber zwischen Eltern und Kindern ist es eben so, wenn es gut läuft. In so einem Verhältnis ist das normal. Das Kind ist nicht böse, wenn es seinen Eltern nicht genug danken kann.
Könnten wir nicht so dem Grundsinn der Vaterunser-Bitte auf die Spur kommen?
Und sagen: Lieber Vater in den Himmeln, du schenkst uns so viel. Du gibst uns das tägliche Brot. Und wir dürfen dich Tag für Tag neu darum bitten. Du nimmst uns ernst als Menschen, die sich selbst an dem beteiligen sollen, was dir am Herzen liegt:
• dass dein Name, in dem du dich uns zugewendet und bekannt gemacht, ja ausgeliefert hast, geheiligt und nicht geschändet werde;
• dass dein Reich, das Reich deiner Gerechtigkeit komme und all die machtlüsternen und menschenverachtenden Regime und Wirtschaftsstrukturen gestürzt werden;
• dass dein Wille geschehe uns zum Heil und uns zum Wohl auch auf dieser Erde.
Du nimmst uns ernst als Kinder, die dich darum bitten sollen. So nimmst du uns ernst als Partner in deinen eigenen Angelegenheiten. Wir sind dir dafür nicht zu gering. Darum sollen und wollen wir darum in erster Linie beten. Wie Jesus es uns gelehrt hat. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass dein Wille geschehe. Und wir wollen dir unsere eigenen Antworten geben. Sieh uns nach, wenn wir dem nicht genug nachkommen. Das können wir nicht. Wir brauchen das ja auch nicht. Wie die Kinder bei ihren Eltern.
In diesem Gebet sollen wir uns nicht zuerst klein und unmündig machen. Vielmehr sollen wir zu unserm himmlischen Vater kommen als erwachsene Töchter und Söhne, die selbst Verantwortung übernehmen und die doch ganz überwältigt sind davon, wie hoch er sie achtet.
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst! Und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst! Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott …
Wenn Jesus uns um Vergebung unsrer Schulden beten lehrt, will er uns wohl auch nicht sagen: Ihr müsst jetzt zuerst mal auf die Knie und müsst das Böse sehen, das euch anhaftet. Erforscht eure Seelen und legt ein Sündenbekenntnis ab.
Die Schuld, die wir bei Gott haben, bemisst sich an seiner Zuwendung, an der Güte unseres himmlischen Vaters. Die ist nämlich unermesslich. Auf die sollen wir schauen und beten: Unser Vater in den Himmeln! Vergib uns! Was wir deiner Güte schuldig sind, können wir dir nie geben. Sie ist uns voraus. Und wir holen sie nie ein.
3.
Jesus verlangt von uns also nicht, dass wir uns mit dem Vaterunsergebet unterschiedslos zu zerknirschten Sündern machen. Nun tun bestimmte Menschen aber bestimmtes Unrecht und unterscheiden sich darin von solchen, die an derselben Stelle das Gerechte tun. Wo bleiben wir, wenn wir nicht nur im Rest bleiben, sondern in bösem Sinn schuldig geworden sind an Gott und unserem Mitmenschen?
Wenn wir beleidigt und verletzt haben. Wenn wir gegen unser Gewissen gehandelt haben.
Oder Menschen haben ihr Gewissen betäubt, weil sie nicht wissen wollten. Weil sie das Schreckliche, das geschah, nicht an sich herankommen lassen wollten. Weil sie das Unrecht nicht wahrhaben wollten. Wie in der NS-Zeit.
Und wir heute? Wollen wir denn wissen, dass wir von eben den Welthandelsstrukturen profitieren, an denen Menschen in den armen Kontinenten umkommen?
Wo bleiben die im bösen Sinn schuldig gewordenen Menschen? Können sie nicht vor Gott treten und beten: Vergib uns unsere Schuld?
Doch! Die so schuldig Gewordenen – gerade sie - sollen hier mitbeten. Zusammen mit denen, die für Gottes Liebe danken und über sie staunen. Die Sünder mit dem Gerechten in einer Gebetsgemeinschaft. Jesus, der Gerechte, in Gebetsgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern. Weil die Liebe unseres Vaters in den Himmeln so reich auf uns überfließt, dass ihr gegenüber nicht nur Gottes liebstes Kind im Rest bleibt, sondern auch der größte Sünder von ihr umfangen wird. Auch ihm wird neues Leben in der Vergebung eröffnet. So unermesslich ist die Liebe Gottes, dass sie immer noch weiter ist als das Böse, was wir getan haben.
In seiner Liebe hat uns Gott ja sein Liebstes gegeben – und darin sich selbst.
Wir können von seiner Liebe nicht groß genug denken. Sie hatte uns schon erreicht, bevor wir Unrecht taten – und sie hat Zukunft für uns über die Vergebung hinaus. Und gewiss auch über unser Bitten und Verstehen hinaus. Darum sollen wir auch als Unrechttäter im Vaterunser getrost beten: Vergib uns unsere Schuld!
4.
Was hat es nun auf sich mit dem Nachsatz der Vergebungsbitte: Wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern?
Dieser Nachsatz sagt uns etwas über die Normalität mitmenschlichen Lebens. So wie uns die Bitte selbst etwas sagte über die Normalität des Lebens der Kinder im Verhältnis zu ihrem himmlischen Vater.
Hier soll es, hier muss es eine Entsprechung geben.
Zum menschlichen Leben mit Gott und mit den Mitmenschen gehört die Asymmetrie im Geben und Nehmen.
Das ist unter bestimmten Umständen schon im Geldverkehr zwischen uns Menschen so.
Da kann ein Schuldner ganz zahlungsunfähig werden und sucht um Schuldenerlass oder doch um Stundung nach. Wenn dann der Gläubiger auf der vollständigen und pünktlichen Zahlung der Schulden besteht und sie mit Gewalt durchsetzt, zerstört er unter Umständen das Existenzminimum und damit das Leben seines Schuldners. Hier hat unser Staat Grenzen gezogen. Schon das Gottesgesetz im alten Israel hat das auf seine Weise getan. Schuldverhältnisse erlöschen im Erlassjahr
(5. Mose 15). Und wenn einer dem anderen etwas leiht und nimmt dafür ein Pfand, nehme er nicht über Nacht den Mantel, mit dem der arme Mann sich zudeckt. Der könnte ihm sonst erfrieren. Und der Schuldner soll seinen Gläubiger doch noch segnen können (5. Mose 24, 10-13). Das Erlassen von Schulden oder Pfändung ist so zu einem Lebenselement im Volk Gottes geworden.
Wird dagegen das Geben und Nehmen zwischen Menschen nach dem Tauschwert berechnet, d. h. nach der Gleichwertigkeit und ist dabei jeder immerzu bestrebt, sein eigenes Kapital zu vermehren – dann herrscht das Prinzip des Marktes. Wenn die Gesetze des Marktes alle Lebensbezüge übergreifen, wird unser Leben marktförmig. Aber auch menschenunwürdig. Dann haben wir die Freiheit des Schenkens und des nicht genug danken Könnens verloren. Die Asymmetrie der Liebe, die sich nicht bezahlen lässt - sie ist dann verloren gegangen. Und das Leben, dem diese Liebe gilt, ist dann zerstört.
Schauen wir auf das Gleichnis Jesu, das wir eben gehört haben. Als böse werden nicht die Riesenschulden bezeichnet, die der Statthalter oder Großknecht bei seinem König gemacht hatte. Böse wird genannt, dass er, dem der König die Schulden erlassen und den er freigegeben hatte, seinen Kollegen und Mitknecht nicht entsprechend behandelt, sondern ihn grausam in Schuldhaft nimmt – und der, sein Kollege, hatte doch nur geringe Schulden bei ihm. Du böser Knecht! Sagt daraufhin der König. Deine ganze Schuld hab ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?
Hier liegt der Skandal in der Geschichte.
Vergib uns unsere Schulden! Wie auch wir vergeben haben unsern Schuldnern.
Der Nachsatz zielt auf unser Leben. Auf unser Miteinanderleben als Kinder des Vaters in den Himmeln. Wo wir nicht so auf der Erde leben, haben wir von der Praxis des Vaters in den Himmeln noch gar nichts begriffen. Das sind wir uns und unserm Beten selbst im Weg.
Es kann sein, dass Menschen, die keine Christen sind, das in ihrer Lebenspraxis viel besser verstanden haben als wir – und schon leben als solche, die ihren Mitmenschen Schulden nachgelassen haben und nachlassen – und nicht aufrechnen. Sie sind nicht weit weg vom Reich Gottes.
Schulden können drücken. Das Rechnen mit Schuld kann bedrücken. Gerade wenn Menschen (in ihrer Not) Lebensbilanz machen.
Der Dichter Robert Gernhardt hat in der letzten Zeit seines Krebsleidens einen „Schuldchoral“ angestimmt. In dem heißt es:
O Robert hoch in Schulden
vor Gott und vor der Welt!
…
Schuld muss der Mensch vergelden
Wann dürfen wir vermelden
Dass auch dein Groschen fällt.
Ach Robert! Muss der Mensch wirklich alle Schuld vergelden? Und wenn sein Geld nicht mehr gold ist und er selbst zahlungsunfähig, kann sein Groschen nur noch fallen?
Gott will nach der Gebetslehre Jesu anders – er will bei der Praxis des Vergebens behaftet werden. Leben wir miteinander nach dieser Praxis des Vergebens, statt des Aufrechnens! Leben wir nach Gottes Praxis der Liebe, die nicht gegenrechnet! Leben wir asymmetrisch! Vielleicht hier und da auch so, dass das Verhältnis von Kindern und Eltern sich umkehrt und die alten Eltern den Kindern ihre Pflege und Zuwendung nicht erstatten können. Leben wir asymmetrisch in all unseren menschlichen Beziehungen! Wir werden uns dann besser darauf verstehen unsern gemeinsamen Vater anzurufen: Vergib uns unsre Schulden!
Amen.