V. 16. „Da überantwortete er ihnen Jesus ...“ Zwar sah Pilatus sich durch die Unverschämtheit jener Leute dazu gezwungen, Christus auszuliefern, doch war diese Auslieferung nicht mit Unruhen verbunden. Vielmehr wurde Christus feierlich verurteilt; denn gleichzeitig wurden zwei Mörder nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren zum Kreuzestod verdammt. Jedoch sollen die Worte des Johannes nur noch deutlicher hervorheben, daß Christus dem von unversöhnlicher Wut getriebenen Volk übergeben wurde, obwohl er keines Vergehens überführt war.
Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, welche heißt auf hebräisch Golgatha. 18 Allda kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber mitten inne. 19 Pilatus schrieb eine Überschrift und setzte sie auf das Kreuz; und war geschrieben: Jesus von Nazaret, der König der Juden. 20 Diese Überschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, da Jesus gekreuzigt ward, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohepriester zu Pilatus: Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern daß er gesagt habe: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
V. 17. „Und er trug sein Kreuz ...“ Die hier erwähnten Umstände sind nicht nur für die Zuverlässigkeit dieses Berichtes, sondern auch für unseren Glauben von größter Bedeutung. Gerechtigkeit können wir nur in der von Christus vollzogenen Sühne finden. Um daher zu beweisen, er sei das Sühnopfer für unsere Sünden, wollte er aus der Stadt herausgeführt und auch noch am Kreuz aufgehängt werden. Denn Opfertiere, deren Blut für die Sünde vergossen wurde, führte man gewöhnlich, wie das Gesetz es vorschrieb, aus dem Lager heraus, und dasselbe Gesetz erklärt einen jeden für verflucht, der am Holze hängt (3. Mose 6,30; 16,27; 5. Mose 21,33). Beides ist in Christus erfüllt, damit wir ganz sicher sein können: unsere Sünden sind durch das Opfer seines Todes gesühnt; er wurde der Verfluchung preisgegeben, um uns vom Fluch des Gesetzes zu erlösen (Gal. 3,13); er wurde zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes seien (2. Kor. 5,21); er wurde aus der Stadt geführt, um zugleich mit sich selbst auch all unseren Unrat zu beseitigen, der auf ihn gelegt wurde (Hebr. 13,12). Dahin gehört auch, was später von den Mördern berichtet wird. Als genüge diese gräßliche Hinrichtung noch nicht, wird Christus ja zwischen zwei Mördern aufgehängt, als sei er nicht ein Verbrecher unter anderen, sondern der allerschändlichste. Man rufe sich immer wieder ins Gedächtnis: die gottlosen Henker Christi taten nichts, was Gottes Hand und Ratschluß nicht festgesetzt hatte. Denn Gott hat seinen Sohn nicht der Willkür jener Leute ausgesetzt, sondern es war sein eigener, unabänderlicher Wille, Christus solle ihm wie ein Opfertier geopfert werden. Nun hat Gott alle diese Leiden, die sein Sohn nach seinem Willen erdulden sollte, nicht ohne guten Grund verhängt. Dann müssen wir aus diesem Leiden aber zweierlei entnehmen: einmal, wie unerbittlich sein Zorn gegen die Sünde ist; andererseits aber auch, wie unermeßlich groß seine Güte gegen uns ist. Anders ließ sich unser aller Schuld nicht lügen, als daß Gott uns alle reinigte. Wir sehen, wie man ihn, als sei er mit allen möglichen Verbrechen befleckt, an einen Ort der Schande führt, damit er dort vor Gott und den Menschen als Verfluchter dastehe. Es überschritte sicher jedes Maß, wenn wir in jenem Spiegel nicht sähen, wie sehr Gott Sünden verabscheut. Unser Herz wäre wahrhaftig härter als Stein, erbebte es nicht bei diesem Urteil Gottes. Auf der anderen Seite aber erklärt Gott, unser Heil sei ihm so wichtig gewesen, daß er seinen einzigen Sohn nicht geschont habe. Welch eine verschwenderische Fülle von Güte und Gnade wird uns da sichtbar! Wir sollen also eingehend die Ursachen von Christi Tod und den Nutzen erwägen, der uns aus ihm erwächst. Dann wird die Lehre niemandem eine Torheit sein - wie den Griechen - noch ein Ärgernis - wie den Juden (1.Kor. 1,23) -, sondern vielmehr ein unschätzbares Beispiel göttlicher Kraft, Weisheit, Gerechtigkeit und Güte. - Wenn Johannes den Namen des Ortes mit Golgatha angibt, so entnimmt er diese Bezeichnung der chaldäischen oder syrischen Sprache (dem Aramäischen). Dieser Name ist von einem Wort abgeleitet, das „rollen" bedeutet; ein Schädel ist ja rund wie ein Ball oder eine Kugel.
V. 19. „Pilatus aber schrieb eine Überschrift .. .“ Der Evangelist teilt hier einen bemerkenswerten Vorgang mit, der sich nach der Verurteilung Jesu durch Pilatus zugetragen hat. Zwar brachte man gewöhnlich eine Inschrift an, wenn Übeltäter bestraft wurden, um zur Abschreckung den Grund der Bestrafung allen bekanntzumachen. Bei Christus aber hat es damit etwas Besonderes auf sich: die angebrachte Inschrift enthält keine Beschimpfung. Pilatus verfolgte nämlich einen Plan, mit dem er sich versteckt an den Juden rächen wollte, die ihm mit ihrer Hartnäckigkeit ein ungerechtes Todesurteil gegen einen Unschuldigen abgerungen hatten: in der Person Christi wollte er dessen ganzes Volk verurteilen. So nimmt er davon Abstand, Christus das Schandmal einer von ihm persönlich begangenen Untat aufzuprägen. Viel weiter in die Zukunft aber blickte die Vorsehung Gottes, die dem Pilatus den Griffel führte. Pilatus kam es nicht in den Sinn, Christus zu verherrlichen als den Urheber des Heils, den Nazarener Gottes und den König des erwählten Volkes. Trotzdem hat Gott ihm diese Verkündigung des Evangeliums diktiert, ohne daß Pilatus wußte, was er schrieb. Ebenso bewirkte der verborgene Einfluß des Geistes, daß er die Inschrift in drei Sprachen schreiben ließ. Davon ist nämlich nicht anzunehmen, es sei allgemein üblich gewesen. Vielmehr deutete der Herr durch dieses Vorspiel an, die Zeit sei nahe, in der der Name seines Sohnes überall bekannt werden sollte.
V. 21. „Da sprachen die Hohenpriester . ..“ Diese Inschrift, sie spüren es, stellt einen heftigen Angriff auf sie dar. Deshalb wünschen sie sie derart geändert, daß sie nicht mehr das Volk verhöhnt, sondern nur Christus beschuldigt. Daneben aber lassen sie deutlich erkennen, wie tief ihr Haß gegen die Wahrheit ist: nicht einmal die geringste Spur davon können sie ertragen. So ist der Satan stets dabei, seine Diener anzuspornen: sobald auch nur ein Funke göttlichen Lichtes aufleuchtet, müssen sie versuchen, ihn mit ihrer Finsternis zu bedecken oder gänzlich einzudämmen. Die Festigkeit des Pilatus aber ist göttlicher Eingebung zuzuschreiben. Denn zweifellos versuchten sie manches, um ihn gefügig zu machen. Seien wir also überzeugt, daß Gott ihn festhielt, so daß er unbeugsam blieb. Pilatus gab den Bitten der Priester nicht nach und ließ sich nicht von ihnen verführen; vielmehr hat durch seinen Mund Gott bezeugt, wie unerschütterlich die Herrschaft seines Sohnes sei. Die Inschrift des Pilatus zeigte also, die Herrschaft Christi sei fester, als daß die Machenschaften seiner Feinde sie erschüttern könnten. Wie muß man dann erst von dem Zeugnis der Propheten denken, deren Mund und Hände Gott sich geheiligt hatte? Das Beispiel des Pilatus erinnert uns auch an unsere Aufgabe, im Kampfe für die Wahrheit nicht wankend zu werden. Der Heide nimmt nicht zurück, was er wahrheitsgemäß, wenn auch unbewußt und unbeabsichtigt, von Christus schrieb. Welche Schande ist es da für uns, wenn wir uns von Drohungen und Gefahren schrecken lassen und die Lehre nicht bekennen, die Gott durch seinen Geist in unser Herz geschrieben hat!
23 Die Kriegsknechte aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, einem jeglichen Kriegsknecht einen Teil, dazu auch den Rock. Der Rock aber war ungenäht, von obenan gewebt durch und durch. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasset uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wes er sein soll, - auf daß erfüllt würde die Schrift (Psalm 22, Vers 19): Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und über meinen Rock das Los geworfen. Solches taten die Kriegsknechte.
V. 23. „Die Kriegsknechte aber ...“ Die Aufteilung der Kleider Christi unter die Soldaten erwähnen auch die anderen Evangelisten. Vier Soldaten waren es, die die Kleider unter sich teilten, die noch vorhanden waren. Nun war nur noch der ungenähte Rock da, der sich nicht teilen ließ und den man darum verloste. Unablässig lenken die Evangelisten unsere Aufmerksamkeit auf den Ratschluß Gottes; darum erwähnen sie auch bei dieser Gelegenheit, die Schrift sei erfüllt worden. Doch scheint die angeführte Stelle, Ps. 22,19, im vorliegenden Fall gar nicht zu passen. Denn dort klagt David, er sei Feinden in die Hände gefallen, und will, wenn er in übertragenem Sinn Kleider sagt, darunter seine ganze Habe verstanden wissen. Dafür hätte er ganz kurz sagen können, Übeltäter hätten ihn bis aufs Hemd ausgeplündert. Diese bildliche Ausdrucksweise berücksichtigen die Evangelisten nicht und entfernen sich dadurch vom ursprünglichen Sinn der Psalmstelle. Hier ist nun aber zunächst einmal zu beachten: die Aussagen des Psalms dürfen nicht allein auf David bezogen werden. Das geht aus mehr als einem Satz hervor, besonders aber aus diesem: Ich werde deinen Namen verherrlichen unter den Heiden. Das kann doch nur im Blick auf Christus gesagt sein. Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn sich in David nur undeutlich ankündigte, was in Christus dann deutlicher zu erkennen ist: muß doch die Wahrheit klarer sein als ihr schattenhaftes Vorbild! - Noch eine weitere Erkenntnis wollen wir aus dieser Stelle gewinnen: Christus wurden seine Kleider genommen, damit er uns mit seiner Gerechtigkeit bekleiden könnte; sein nackter Leib wurde den Beschimpfungen der Leute preisgegeben, damit wir mit Ruhm bedeckt vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen könnten. Einige Ausleger beziehen diese Stelle in allegorischer Deutung gewaltsam auf die Schrift, die von den Häretikern zerfleischt werde. Diese Auslegung ist aber allzu gezwungen. Doch ist der Vergleich ganz treffend: wie einst heidnische Soldaten Christi Kleider zerteilten, so sind heute böse Menschen dabei, durch Einführung fremder, erdichteter Lehren die ganze Schrift zu zerstückeln, mit der Christus sich bekleidet, um sich uns sichtbar anzubieten.
25 Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, des Kleophas Frau, und Maria Magdalena. 26 Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
V. 25. „Es stand ...“ Hier erzählt der Evangelist nebenbei, Christus habe bei seinem Gehorsam gegen Gott den Vater doch auch die Menschenpflicht der Ehrerbietung gegenüber seiner Mutter nicht vernachlässigt. Auf sich selbst zwar nahm er keine Rücksicht und ebensowenig auf alles andere, sofern es nötig war, wenn er seinem Vater gehorsam sein wollte; aber als er diesen Gehorsam geleistet hatte, wollte er auch die Pflicht erfüllen, die er seiner Mutter gegenüber hatte. So lernen wir, wie man Frömmigkeit gegen Gott und Ehrerbietung gegen Menschen miteinander verbinden soll. Oft ruft Gott in eine Richtung und rufen Eltern, Weib und Kind uns in eine andere, so daß wir nicht imstande sind, allen gleichmäßig zu gehorchen. Stellen wir dann die Menschen auf eine Stufe mir Gott, so handeln wir verkehrt. Gottes Gebot und seine Verehrung müssen den Vorrang haben; erst in zweiter Linie sollen wir auch die Menschen zu ihrem Rechte kommen lassen. Doch treten die Gebote der ersten und zweiten Tafel des Gesetzes niemals in Gegensatz zueinander, wie es auf den ersten Klick erscheint; vielmehr müssen wir mit der Verehrung Gottes anfangen, erst dann dürfen wir an unsere Pflichten gegenüber Menschen denken. Darauf beziehen sich Aussprudle wie dieser: Wer nicht haßt seinen Vater und seine Mutter um meinetwillen, ist mein nicht wert (Mt. 10, 37; Luk. 14,26). Auf unsere Pflichten gegen Menschen dürfen wir also nur dann Rücksicht nehmen, wenn sie uns auch nicht im geringsten an der Verehrung Gottes und am Gehorsam gegen ihn hindern. Wenn wir Gott gehorsam sind, denken wir auch richtig über Eltern, Weib und Kind. So sorgt Christus zwar für seine Mutter, aber vom Kreuze aus, an das der Wille des Vaters ihn gerufen hatte. Übrigens verdient Christi ehrerbietige Liebe zu seiner Mutter Bewunderung, wenn wir Ort und Zeit in Betracht ziehen. Ich will gar nicht von den entsetzlichen Qualen und den Schmähungen reden. Aber gräßliche Gotteslästerungen erfüllten ihn mit unsäglicher Trauer, und er mußte einen grauenvollen Kampf mit dem ewigen Tod und dem Teufel bestehen; doch hält das alles ihn nicht davon ab, sich Sorgen um seine Mutter zu machen. Auch aus dieser Stelle kann man ersehen, welcher Art die Ehre ist, die wir nach Gottes Gesetz den Eltern erweisen sollen. Christus setzt einen Jünger an seine Stelle und überträgt ihm die Fürsorge für seine Mutter. Daraus geht hervor: die den Eltern geschuldete Ehre besteht nicht in Äußerlichkeiten, sondern darin, daß man alles für sie tut, was nötig ist. - Nun müssen wir aber auch über die Treue der Frauen nachdenken. Es war freilich keine gewöhnliche Liebe, die sie Christus bis zum Kreuz folgen ließ; vielmehr wären sie nie imstande gewesen, einem solchen Schauspiel beizuwohnen, wenn sie nicht geglaubt hätten. Über Johannes selbst können wir aus dieser Stelle entnehmen, daß sein Glaube für kurze Zeit geschwächt, aber nicht völlig erloschen war. Wir heute sollten uns schämen, wenn die Furcht vor dem Kreuz uns davon abhält, Christus zu folgen. Denn wir haben doch auch noch die Herrlichkeit der Auferstehung vor Augen, während jene Frauen nur Fluch und Schande erblickten. - Jene Maria ist nach den Worten des Evangelisten des Kleophas Frau oder „Tochter"; das letztere ist mir wahrscheinlicher. Diese Frau nennt er „Schwester der Mutter Jesu". Das entspricht hebräischem Sprachgebrauch, wonach alle Blutsverwandten als Brüder bezeichnet werden. Maria Magdalena wurde, wie wir sehen, nicht umsonst von den sieben bösen Geistern befreit; bis ans Ende erwies sie sich als eine treue Jüngerin Christi.
V. 26. „Da nun Jesus seine Mutter sah . .. spricht er ... siehe, das ist dein Sohn!“ Er sagt mit andern Worten: Von nun an werde ich nicht mehr auf der Erde weilen und die Pflichten des Sohnes gegen dich erfüllen können. Darum soll dieser Mann meine Stelle einnehmen und mich vertreten. - Dieselbe Bedeutung hat es, daß er zu Johannes sagt: Siehe, das ist deine Mutter! (V. 27) Damit gibt er ihm den Auftrag, sie als seine Mutter anzusehen und für sie zu sorgen wie für eine Mutter. Er sagt Weib, statt die Anrede „Mutter" zu gebrauchen. Einige Ausleger führen das darauf zurück, daß er ihren Schmerz nicht noch größer machen wollte, und ich habe gegen diese Erklärung nichts einzuwenden. Doch hat eine andere Vermutung ebensoviel für sich: Christus wollte zeigen, er habe die Bahn des menschlichen Lebens durchmessen; nun streife er die Bedingungen ab, unter denen er gelebt habe, und gehe ins Himmelreich ein, wo er über Engel und Menschen herrschen solle. Wie wir wissen, hielt Christus nämlich die Menschen stets dazu an, nicht auf sein Fleisch zu schauen. Das aber war bei seinem Tode besonders nötig.
V. 27. „Danach spricht er . . . Siehe, das ist deine Mutter! . . .“ Der Gehorsam des Jüngers gegen den Meister zeigt sich darin, daß Johannes dem Befehl Christi Folge leistet. Wie aus dieser Stelle außerdem deutlich wird, hatten die Apostel Familien. Johannes hätte ja Christi Mutter weder bei sich aufnehmen noch behalten können, wenn er nicht ein Haus gehabt und ein geregeltes Leben geführt hätte. Darum ist es albern zu glauben, die Apostel hätten ihren früheren Lebensstand aufgegeben und seien mit leeren Händen zu Christus gekommen. Aber nicht nur töricht, sondern verrückt wäre es, im Betteln den Gipfel der Vollkommenheit zu sehen.
28 Danach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, auf daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet! 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf einen Ysop und hielten es ihm dar zum Munde. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.
V. 28. „Danach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war ...“ Johannes übergeht mit Absicht vieles, was die drei andern Evangelisten berichten. Jetzt beschreibt er das letzte Geschehnis, das von großer Bedeutung war. Er sagt, man habe dort ein Gefäß bereitgestellt, und nach der Art, wie er davon spricht, ist daraus zu schließen, es sei so üblich gewesen. Ich nehme an, die Darreichung dieses Trankes sollte den Tod schneller herbeiführen, wenn die Unglücklichen sich lange genug gequält hatten. Doch verlangte Christus den Trank nicht eher, als bis alles erfüllt war. Damit machte er seine übergroße Liebe zu uns sichtbar und den unfaßlichen Eifer, mit dem er sich für unser Heil einsetzte. Kein Wort vermag es auszusprechen, wie bittere Schmerzen er erduldete; trotzdem will er sich davon nicht freikaufen, bevor nicht Gottes Richterspruch Genüge geschehen und die Sühne voll und ganz geleistet ist. Was soll aber heißen, alles sei vollbracht? Die Hauptsache, der Tod nämlich, fehlte doch noch! Und trägt nicht weiterhin auch die Auferstehung dazu bei, unser Heil zu vollenden? Ich antworte: Johannes faßt hier zusammen, was wenig später folgen sollte. Noch war Christus nicht gestorben, noch war er nicht auferstanden; aber er sah, daß nichts mehr seinem Tode und seiner Auferstehung im Wege stehe. So lehrt Christus uns durch sein eigenes Beispiel unerschütterlichen Gehorsam; es darf uns nicht schwerfallen, nach seinem Willen zu leben, auch wenn wir kraftlos die größten Schmerzen erdulden müßten.
„Auf daß die Schrift erfüllt würde ...“ Aus den andern Evangelisten läßt sich ohne weiteres entnehmen, daß Ps. 69,22 gemeint ist: ,Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst.' Dies ist allerdings eine bildliche Ausdrucksweise. David gibt damit zu verstehen, man verweigere ihm nicht nur die nötige Hilfe, sondern verdoppele voller Grausamkeit seine Leiden. Jedoch ist es keineswegs unpassend, wenn bei Christus deutlicher sichtbar wird, was sich bei David erst ganz schwach andeutete; denn der Unterschied zwischen vorläufigem Bild und endgültiger Wahrheit wird uns deutlicher, wenn an Christus offen und untrüglich sichtbar wird, was David nur andeutungsweise erlitt. Christus wollte also zeigen, er sei derjenige, dessen Rolle David übernommen hatte. Deshalb wollte er sich mit Essig tränken lassen, und zwar sollte das zur Stärkung unseres Glaubens dienen. - Manche Ausleger verstehen dürsten in übertragenem Sinne. Die sind aber mehr auf Spitzfindigkeiten als auf wahre Erbauung bedacht. Auch werden sie durch den Evangelisten offen widerlegt. Denn seinem Bericht zufolge bat Christus um den Essig, als er dem Tode zueilte. - Wenn Johannes sagt, ein Schwamm sei um einen Ysop gelegt worden, dann ist das so zu verstehen: aus einem Gebüsch holte man einen Stock; daran befestigte man den Schwamm, um ihn Christus zum Munde führen zu können.
V. 30. „Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht ...“ Er gebraucht hier noch einmal das Wort, das schon vorher gefallen war. Übrigens ist dieser Ausruf Christi besonders bemerkenswert; denn er lehrt, in seinem Tode sei die ganze Fülle unseres Heils in jeder Hinsicht beschlossen. Wir sagten schon, die Auferstehung sei nicht vom Tode zu trennen. Aber Christus beabsichtigt einzig dies: er will unsern Glauben bei sich allein festhalten, damit er sich nicht bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand richtet. Der Sinn ist also: alles, was zum Heil der Menschen beiträgt, ist in Christus allein zu finden und nirgends sonst. Oder, was dasselbe ist: das vollkommene Heil liegt in ihm beschlossen. Diese Worte richten sich nun aber, ohne daß es ausgesprochen ist, gegen eine bestimmte Anschauung. Christus stellt seinen Tod ja allen früheren Opfern und hindeutenden Vorbildern entgegen. Insofern ist der Sinn seiner Worte: alles, was unter dem Gesetz üblich war, hatte für sich genommen keine Kraft, die Sünden zu sühnen, Gottes Zorn zu beschwichtigen und Gerechtigkeit zu erlangen. Erst jetzt ist der Welt das wahre Heil offenbart worden. Mit dieser Lehre verbunden ist die Abschaffung aller äußerlichen Bräuche, die das Gesetz vorschrieb, denn es wäre unangebracht, noch Schattenbildern nachzujagen, seit wir in Christus die leibhaftige Wirklichkeit haben. Finden wir aber in diesem Ausruf Christi unsere Ruhe, dann muß uns auch sein Tod zum Heil genug sein, dann dürfen wir uns nirgendwo sonst Hilfe holen. Gerade das aber ist das Merkmal, das der ganzen Religion des Papsttums ihr eigentliches Gepräge gibt: Menschen ersinnen zahllose Möglichkeiten, das Heil zu finden.
Und neigte das Haupt und verschied (gab seinen Geist auf). Alle Evangelisten berichten mit Nachdruck von Christi Tod. Das hat seinen guten Grund: daraufhin können wir auf Leben hoffen, daraufhin können wir auch ohne Sorge uns dem Tode gegenüber rühmen, weil Gottes Sohn ihn an unserer Stelle auf sich genommen hat und im Kampfe mit ihm Sieger geblieben ist. Bemerkenswert ist aber die Art, wie Johannes sich ausdrückt. Daraus lernen wir: alle Frommen, die mit Christus sterben, können ihre Seele ohne Sorge unter Gottes Schutz stellen. Denn Gott ist treu und läßt nichts zugrunde gehen, was er in seine Obhut genommen hat. Der Tod der Kinder Gottes unterscheidet sich also von dem der Verworfenen: diese lassen ihre Seele von sich, ohne ihr weiteres Schicksal zu kennen; jene aber vertrauen sie wie einen Gegenstand von hohem Wert dem Schutze Gottes an, der sie treu bewahren wird bis zum Tage der Auferstehung. Geist bedeutet hier - es bedarf wohl kaum eines Wortes - „die unsterbliche Seele".
Aus: Johannes Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift. Bd. 13. Die Evangelienharmonie, 2. Teil, hrg. Otto Weber, Neukirchener Verlag, 1974, S. 450-457.