Liebe Gemeinde,
meine eine Großmutter war eine Meisterin der Sprüche. Und wenn es darum ging, wer Spenden bekommen sollte, so sagte sie: Tue Gutes an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen. Das sollte heißen: Nichts an die Katholiken: Nichts an die Malteser! Nichts an die Caritas!
Ich dachte lange Zeit, es sei ein Spruch, den sie sich ausgedacht hatte. Denn ich fand ihn widersprüchlich. Wenn ich jedermann Gutes tun soll, wieso dann eben doch am allermeisten meinen Glaubensgenossen? Die religiöse „Leistung“, die maximale Nächstenliebe, das wäre doch gerade anders herum gewesen.
Tue Gutes an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen. – Das ist das Ende des heutigen Predigttextes.
Hören Sie ihn ganz. Er steht im Brief, den Paulus an die Gemeinden in der Provinz Galatien geschrieben hat; heute ist das die Gegend um Ankara herum. Ich lese Kapitel 5, Vers 25 bis Kapitel 6, Vers 10:
25Wenn wir durch den Geist Gottes das Leben haben, wollen wir auch aus diesem Geist heraus unser Leben führen. 26Wir sollen nicht überheblich auftreten, einander nicht herausfordern und nicht neidisch aufeinander sein.
1Brüder und Schwestern, nun kann es vorkommen, dass jemand bei einer Verfehlung ertappt wird. Dann sollt ihr, die ihr ja vom Geist geleitet werdet, ihn auf den richtigen Weg bringen. Tut dies aber mit der Sanftmut, die der Geist schenkt. Dabei gib auf dich selbst acht, dass du nicht auch auf die Probe gestellt wirst. 2Helft einander, die Lasten zu tragen. So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat.
3Wenn allerdings jemand meint, er sei etwas Besonderes, dann macht er sich etwas vor. Denn das ist er keineswegs. 4Vielmehr soll jeder das eigene Tun überprüfen. Dann hat er etwas, worauf er stolz sein kann, und muss sich nicht mit anderen vergleichen. 5Denn jeder wird seine eigene Last zu tragen haben. 6Anteil an den eigenen Gütern geben aber soll der, der Unterricht in der Lehre von Christus erhält, dem, der ihn unterrichtet.
7Täuscht euch nicht! Gott lässt keinen Spott mit sich treiben. Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten. 8Wer auf den Boden seiner selbstsüchtigen Natur sät, wird von seiner Selbstsucht das Verderben ernten. Aber wer auf den Boden von Gottes Geist sät, wird von diesem Geist das ewige Leben ernten. 9Lasst uns daher nicht müde werden, das Rechte zu tun. Denn wenn die Zeit da ist, werden wir die Ernte einbringen. Wir dürfen nur nicht vorher aufgeben. 10Solange wir also noch Zeit haben, wollen wir allen Menschen Gutes tun – vor allem aber denjenigen, die durch den Glauben mit uns verbunden sind.
Da ist er, der Vers, den meine Großmutter zitierte: Wir wollen allen Menschen Gutes tun, vor allem aber denjenigen, die durch den Glauben mit uns verbunden sind.
So ist es wohl mit jedem Text, den wir lesen, mit jedem Bibeltext, mit jedem Stück Literatur. Wir finden einen Ankerpunkt darin, der mit unserem Leben und unseren Erfahrungen zu tun hat. Oftmals gucken wir dann gar nicht mehr genau hin. Vielmehr bestimmt der Ankerpunkt das Gefühl, mit der wir dem Text begegnen. Bei mir ist es also meine Großmutter. Und da kann Paulus sagen, was er will. Erst mal bin ich positiv gestimmt. Wie mag es Ihnen gehen? Sie haken sicher wo ganz anders ein! Vielleicht bei Säen und Ernten? Was der Mensch sät, wird er ernten. Oder bei Einer trage des anderen Last?
Viele frühere Ausleger haben sich in der Nachfolge Martin Luthers auf die Frage gestürzt: Was sagt Paulus hier über das Gesetz? Das Gesetz Christi? Sofort schnappte der Mechanismus ein: Gesetz gegen Evangelium. Gesetz ist für Luther das sture Befolgen von Regeln, die den Glauben nicht lebendig machen. Evangelium, die gute Botschaft, ist eine existenzielle Erfahrung Luthers: Das, was ihn im Glauben frei werden lässt, ist nicht das Befolgen von Regeln, sondern der Glaube an Jesus Christus. Da weht der Geist Gottes, da winkt das Leben.
Bis in die Beffchen der Pastoren und Pastorinnen hinein hat sich dieses Schema „Gesetz und Evangelium“ in festen Stoff verwandelt. Die geschlitzten Beffchen der Lutheraner symbolisieren diesen Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Die Reformierten, die mit Zwingli und Calvin ein solches Gegensatzpaar nicht in ihrer religiösen Biografie haben, die haben dann eben auch kein geschlitztes Beffchen.
Aber was steht nun im Text? Schieben wir also des Glaubens Genossen beiseite und Gesetz und Evangelium und Säen und Ernten und das Lastentragen auch.
Paulus hat drei Themen:
Erstens und drittens gehört zusammen. Denn für Paulus‘ Gefühl ist seine Zeit schon Endzeit. Solange wir noch Zeit haben, schreibt er. Paulus glaubt, dass das nicht mehr ewig dauern wird, bis zur Wiederkehr Jesu Christi und dem Gericht Gottes. Wir sind nicht gewohnt, so zu denken, weil wir ja wissen: Das dauert nun schon zweitausend Jahre, so schnell wird es uns nicht ereilen.
Wir sollen nicht überheblich auftreten, einander nicht herausfordern und nicht neidisch aufeinander sein. – Das kann ich als moralischen Appell hundertprozentig unterschreiben. Egal, ob Endzeit oder nicht. Paulus benennt gemeinschaftsförderliche Verhaltensweisen. Prahlerei, Provokation und Neid gehören nicht dazu. Jeder Gemeinschaft, jeder Gesellschaft tut das gut, wenn diese Verhaltensweisen moralisch im Zaum gehalten werden.
Interessant wird aber der zweite Punkt. Wie sollen Christinnen und Christen mit unperfekt gelebtem Christentum umgehen? Bei sich und bei anderen? – Brüder und Schwestern, nun kann es vorkommen, dass jemand bei einer Verfehlung ertappt wird. Dann sollt ihr, die ihr ja vom Geist geleitet werdet, ihn auf den richtigen Weg bringen. Tut dies aber mit der Sanftmut, die der Geist schenkt. So weit ist alles klar. Dann folgt: Dabei gib auf dich selbst acht, dass du nicht auch auf die Probe gestellt wirst. Helft einander, die Lasten zu tragen. So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat.
Offenbar ist das mit den sanftmütigen Zurechtweisungen nicht so einfach. Zu leicht wird der Zurechtweisende selbstgerecht dabei. Deshalb soll der, der Kritik äußert, gut aufpassen, dass er selbst ein Vorbild bleibt. Paulus verbindet wohlwollende Kritik mit Selbstkritik. Nicht im Sinne des Kommunismus, wo bei den Schauprozessen in der Stalin-Zeit die Kommunikations-form der Selbstkritik missbraucht wurde, um Menschen zu Geständnissen von Taten zu bewegen, die sie gar nicht begangen hatten, um dann absurde Strafen zu verhängen.
Nein, bei Paulus ist ein Prinzip gemeint: Wenn allerdings einer meint, er sei etwas Besonderes, dann macht er sich etwas vor. Denn das ist er keineswegs. Vielmehr soll jeder das eigene Tun überprüfen. Das ist sein Punkt: Fass dich an die eigene Nase! Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen.
Paulus geht davon aus, dass bei der Überprüfung des eigenen Handelns immer herauskommt, dass es da eine Lücke gibt zwischen dem eigenen Anspruch und dem, was bei guter Beleuchtung an niederen Motiven ans Licht kommt: dass man sich mit fremden Federn schmückt, dass man eben doch gerne ein bisschen angibt oder neidisch ist oder denkt: Na, das kann ich aber besser. Denn jeder wird seine eigene Last zu tragen haben. Diese Art von Lasten muss man gar nicht teilen, sie verbinden einen aber mit den anderen. Wir sitzen alle im selben Boot.
Christentum wie Judentum haben dieses Motiv der Selbstkritik, des In-sich-Gehens verbunden mit dem Gerichtsgedanken.
Gott als Richter, das ist eine Vorstellung, die im heutigen Protestantismus wenig vorkommt. Theologisch ist das Fluch und Segen zugleich. Segen, weil oft Gericht und Gerichtsvorstellungen missbraucht wurden, um über andere Gericht zu halten, sie klein zu machen und Macht auszuüben. Fluch, weil unser Gottesbild dadurch zu niedlich wird. Denn Gericht, das ist zuallererst Selbsterforschung und Selbsterkenntnis. Jeder soll das eigene Tun überprüfen.
Als ich die letzte Untersuchung bei meinem Operateur hatte, der mir vor vielen Jahren mit einer neuen Hüfte wieder zu einem schönen Gang verholfen hat, hatte er viel Zeit. Denn kurz darauf ging er in den Ruhestand und hatte offenbar nicht mehr so viele Patienten. Und so kamen wir ins Plaudern: übers In-den-Ruhestand-Gehen, übers Altwerden und über die Frage, ob die Beichte bei den Katholiken nicht eigentlich eine ziemlich gute Sache sei, weil man danach wieder eine schöne weiße Weste habe. Immer wieder eine neue Chance. Ja, was haben denn die Evangelischen da zu bieten? Ich antwortete: „Die Evangelischen haben das Konzept, dass man immer zugleich Sünder und Gerechter ist. Sie müssen sich von der weißen Weste verabschieden und dauerhaft mit einem etwas schmuddeligen Kittel leben, und mit genau diesem Kittel werden Sie geliebt. – Wenn Sie’s denn glauben.“ Seine Antwort: „Das ist ja auch ein interessantes Konzept!“
Auf meine Frage, zu wem ich gehen solle, wenn er im Ruhestand sei, empfahl er mir seine Kollegin. Die habe außer Fachkenntnissen und Kraft noch einen weiteren Vorteil, wie er neulich in einer Besprechung gemerkt habe. Sie könne nämlich Selbstkritik üben. Und solche Menschen könne man unter Chirurgen mit der Stecknadel suchen. – Nur bei Chirurgen?
Amen.