... "Bekanntlich entsteht Trägheit aus übertriebenem Selbstvertrauen. Das ist auch der Grund dafür, daß viele mitten im Lauf innehalten, als ob sie die Rennstrecke schon hinter sich gebracht hätten. Darum befiehlt Paulus uns (Phil. 3, 13.14), zu vergessen, was dahinten ist, und an das zu denken, was noch vor uns liegt, damit wir uns eifrig zum Laufen antreiben.''
Matthäus 20,1-16
1 Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der früh am Morgen ausging, Arbeiter zu dingen in seinem Weinberg. 2 Und da er mit den Arbeitern eins wurde um einen Silbergroschen zum Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und ging aus um die dritte Stunde und sah andere an dem Markt müßig stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg, ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat gleich also. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand gedingt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Da es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und heb an die letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde gedingt waren, und empfing ein jeglicher seinen Groschen. 10 Da aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeglicher seinen Groschen. 11 Und da sie den empfingen, murrten sie wider den Hausvater 12 und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem unter ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten geben gleichwie dir. 15 Habe ich nicht Macht, zu tun, was ich will, mit dem Meinen? Siehst du darum scheel, daß ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Denn viele sind berufen; aber wenige sind auserwählt.
Dieses Gleichnis ist nichts anderes als die Auslegung des vorangegangenen Satzes: Die Ersten werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein. Wir haben also nur noch zu sehen, wie es zu deuten ist. Einige Ausleger finden folgenden Hauptgedanken heraus: Da das himmlische Erbe nicht durch das Verdienst von Werken erworben, sondern aus Gnade geschenkt wird, wird die Herrlichkeit für alle die gleiche sein. Aber Christus erörtert hier gar nicht die Gleichheit der himmlischen Herrlichkeit, auch nicht die zukünftige Lage der Gläubigen, sondern er erklärt nur, es gebe gar keinen Grund dafür, daß die, die der Zeit nach die Ersten sind, sich rühmen oder auf andere herabsehen. Denn sooft der Herr will, kann er Leute berufen, die er eine Zeitlang zu vergessen schien, und er kann sie den zuerst Berufenen entweder gleichstellen oder sie ihnen sogar vorziehen. Es wäre töricht, wenn man jeden einzelnen Zug des Gleichnisses bis ins kleinste zerpflücken würde. Es ist nur danach zu fragen, was Christus mit diesem Gleichnis ansprechen wollte. Wir haben schon gesagt, daß er nichts anderes im Auge hatte, als die Seinen zum unaufhörlichen Fortschreiten anzutreiben. Bekanntlich entsteht Trägheit aus übertriebenem Selbstvertrauen. Das ist auch der Grund dafür, daß viele mitten im Lauf innehalten, als ob sie die Rennstrecke schon hinter sich gebracht hätten. Darum befiehlt Paulus uns (Phil. 3, 13.14), zu vergessen, was dahinten ist, und an das zu denken, was noch vor uns liegt, damit wir uns eifrig zum Laufen antreiben. Es wird nichts schaden, die Worte einmal durchzugehen, um damit den Gehalt des Gleichnisses um so deutlicher vor Augen zu bekommen.
Matth. 20,1. „Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater.“ Der Sinn ist, daß es bei der himmlischen Berufung genauso zugeht, wie wenn sich jemand frühmorgens zur Bearbeitung seines Weinberges um einen bestimmten Lohn Arbeiter dingt, dann noch andere nachschickt, ohne genaue Abmachung, ihnen aber trotzdem den gleichen Lohn dafür zahlt. Christus redet vom Himmelreich, weil er das geistliche Leben mit dem irdischen vergleicht und die Belohnung des ewigen Lebens mit dem Geld, das Menschen für geleistete Arbeit bezahlen. Einige Ausleger fassen diese Stelle wieder einmal zu scharfsinnig auf, als ob Christus damit die Juden von den Heiden unterscheiden wollte. Die Juden wären dann die um die erste Stunde um einen festen Preis Gedungenen, denn der Herr hatte ihnen das ewige Leben unter der Bedingung versprochen, daß sie das Gesetz erfüllten; bei der Berufung der Heiden wäre jedoch keine Abmachung bezüglich des Lohnes getroffen worden, weil ihnen das Heil in Christus ja umsonst dargeboten wurde. Aber diese scharfsinnigen Unterscheidungen sind alle gar nicht angebracht, weil der Herr keinen Unterschied in der Abmachung herausstellen will, sondern nur einen in der Zeit der Berufung, weil die, die am Abend als letzte den Weinberg betraten, den gleichen Lohn empfangen wie die ersten. Denn obwohl Gott einst den Juden eine Belohnung für die Werke des Gesetzes verheißen hatte, war ja der Erfolg ausgeblieben, da niemand je das Heil durch seine Verdienste erlangt hat. Warum, könnte jetzt einer fragen, spricht Christus bei den ersten ausdrücklich von einer Abmachung, während er bei den anderen nichts dergleichen erwähnt? Christus will damit zeigen, daß den letzten ohne Benachteiligung der anderen ebensoviel Ehre zukommt wie den zu Anfang Berufenen. Denn, um es in nackten Worten auszudrücken, Gott ist niemandem etwas schuldig; mit vollem Recht fordert er von uns, die wir uns ihm zu eigen gegeben haben, allen Gehorsam, den wir aufbringen können. Aber da er uns den Lohn umsonst anbietet, wird es so dargestellt, als ob die Werke, die wir ihm auch sonst schuldig wären, mit dazu beitrügen. So kommt es, daß sogar die Krone, die er uns aus reiner Gnade schenkt, mit dem Wort Lohn bezeichnet wird. Und um zu beweisen, daß keiner von uns Grund hat, sich über Gott zu beschweren, wenn er Leute genauso ehrt wie uns, obwohl sie erst lange nach uns gekommen sind, greift Christus sein Gleichnis aus dem Alltagsleben heraus, wo man auch zuerst über den Lohn verhandelt, bevor man die Arbeiter an die Arbeit schickt. Wer nun hieraus schließen möchte, daß die Menschen dazu geschaffen seien, etwas zu tun, und daß Gott jedem sein besonderes Gebiet zugeteilt habe, damit keiner träge herumsitzt, der bleibt durchaus in den Gedanken Christi. Man darf auch entnehmen, daß unser ganzes Leben unnütz ist und daß wir mit Recht der Trägheit beschuldigt werden, solange wir unser Leben nicht nach Gottes Auftrag und Berufung richten. Daraus folgt, daß alle Geschäftigkeit nichts nützt, wenn man unbesonnen bald diese, bald jene Art zu leben versucht, statt auf die Winke Gottes zu achten, der uns ruft. Darüber hinaus ergibt sich aus Christi Worten auch, daß Gott besonders solche gefallen, die für den Vorteil der Brüder arbeiten. Ein Groschen war wahrscheinlich der herkömmliche Tageslohn. Die dritte, sechste und neunte Stunde wird deshalb ausdrücklich erwähnt, weil man bei den Alten den Tag in zwölf Stunden einzuteilen pflegte, von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang; diese waren wieder in Zeiträumen von jeweils drei Stunden zusammengefaßt. Die Nacht teilte man demgemäß in vier Nachtwachen. Die elfte Stunde bezeichnet demnach das Ende des Tages.
Matth. 20, 8. „Da es nun Abend wurde ...“ Darin, daß der Hausvater den Anfang bei den letzten zu machen befiehlt, liegt noch nichts Besonderes, als ob etwa Gott die als erste krönte, die zeitlich die letzten sind. Denn diese Auffassung würde nicht mit der Lehre des Paulus übereinstimmen. Paulus sagt, daß die, die beim Kommen Christi noch leben, nicht denen vorangestellt werden, die bereits in Christus gestorben sind, sondern daß sie ihnen folgen (vgl. 1. Thess. 4, 15). Christus will mit dieser abweichenden Reihenfolge nur etwas zeigen, was er nicht anders hätte ausdrücken können, daß die ersten gemurrt haben, weil sie nicht mehr bekamen. Er wollte damit nicht sagen, daß sich dieses Gemurre auch am Jüngsten Tag abspielen werde, er will nur klarstellen, daß es keinen Grund zum Murren gibt. Denn das Bild, das er gebraucht, beleuchtet diese Aussage ausgezeichnet, daß Gottes Freigebigkeit nicht der Beschwerde der Menschen ausgesetzt werden kann, auch wenn er Unwürdige mit reicher Belohnung ehrt, ohne daß sie einen Finger gekrümmt haben. Ein paar Ausleger haben sich getäuscht, wenn sie meinen, daß diese Worte gegen die Juden gerichtet sind, weil sie gegenüber den Heiden mißgünstig und neidisch gewesen seien. Denn sie hätten es als unsinnig betrachtet, daß solche Leute den Kindern Gottes an Lohn gleichgestellt würden. Für die Gläubigen jedoch gehöre sich solche Mißgunst nicht, mit der sie Gott nur in den Arm fallen würden. Der einfache Sinn dagegen ist: Gott steht es frei, auch den am Abend Berufenen unverdienten Lohn zu schenken, da er damit niemanden um seinen Lohn bringt.
Matth. 20, 16. „So werden die Letzten die Ersten sein.“ Christus will jetzt nicht zwischen den Juden und den Heiden unterscheiden, wie an der anderen Stelle; auch nicht zwischen den Verworfenen, die vom Glauben abfallen, und den Erwählten, die darin beharren. Darum paßt auch der Satz, den einige Handschriften noch anfügen: „Viele sind berufen, wenige sind auserwählt“, überhaupt nicht. Christus wollte damit nur deutlich machen, jeder, der vor den anderen berufen ist, müsse nur um so schneller laufen. Außerdem will er uns alle zur Bescheidenheit mahnen, damit sich nicht einer besser vorkommt als der andere, sondern daß man sich gegenseitig gern den gemeinsamen Siegespreis gönnt. Die Apostel als die Erstlinge der ganzen Gemeinde schienen für sich etwas Besonderes zu beanspruchen; und Christus bestritt auch gar nicht, daß sie einst als Richter über die zwölf Stämme Israels sitzen würden. Damit aber ja keine Ehrsucht oder ein leeres Selbstvertrauen bei ihnen aufkomme, mußten sie daran erinnert werden, daß auch andere, obwohl sie viel später berufen würden, an der gleichen Herrlichkeit teilnähmen. Denn Gott ist niemandem verpflichtet, sondern er beruft in seiner Gnade die, die er will, und er zahlt den Berufenen auch den Lohn, der ihm gut scheint.