Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre sei von ihren Verfassern als „entscheidender Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung“ angesehen worden. Auch nach zehn Jahren bleibe die Frage, ob der behauptete „Konsens in den Grundwahrheiten“ Grundlage für ein weiterführendes theologisches Gespräch zwischen evangelischer und römisch-katholischer Kirche sein könne.
Gleichwohl sieht die Vollkonferenz in der Gemeinsamen Erklärung „eine bedeutsame Annäherung zwischen reformatorischen Kirchen und der Römisch-katholischen Kirche in zentralen Fragen kirchlicher Lehre“. Umso mehr dränge sich die Frage auf, welche Konsequenzen sich aus der Rechtfertigungslehre ergeben. Die Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche evangelische Kirchen nicht als Kirche Jesu Christi anerkenne, sei ein „deutlicher Widerspruch“ zum Konsens in der Rechtfertigungslehre. Nach evangelischem Verständnis werde die Kirche durch die Verkündigung der Rechtfertigungsbotschaft konstituiert.
Weitere Schritte eines „ökumenischen Lernwegs“ seien nötig: „Das eigentliche Ziel muss die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums der Rechtfertigung sein, in dem die Kirchen über die Bestandsaufnahme dessen, was sie gemeinsam sagen können, hinausgehen“, erklärt die Vollkonferenz.
Es gebe keine Alternative dazu, die in Jesus Christus gründende Einheit der Kirche „zu suchen und sichtbar zu machen“, so erklärt die UEK-Vollkonferenz zum Schluss. Der ökumenische Dialog müsse weitergeführt werden, nicht nur in theologischen Lehrgesprächen, sondern auch in den Gemeinden und auf Kirchentagen: „Evangelische und katholische Kirchengemeinden, die seit Langem miteinander in guter und verbindlicher Nachbarschaft leben, gemeinsam Gottesdienst feiern und sich um ein gemeinsames Zeugnis im Alltag bemühen, warten darauf, dass unsere Kirchen weitere Schritte hin ‚zu voller Kirchengemeinschaft‘, zu einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit tun.“
Ulm, 24.Oktober 2009
Pressestelle der EKD und der UEK
Reinhard Mawick
Die Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) arbeitet als Zusammenschluss evangelischer Kirchen mit Sitz Hannover im Kirchenamt der EKD. Die Union der 13 Mitgliedskirchen hat den Rechtsstatus einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Die Vollkonferenz, das Präsidium, die Ausschüsse und das Amt der UEK sind die handelnden Organe der UEK.
Stellungnahme der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen (UEK)
zum 10. Jahrestag der Unterzeichnung
der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre
In diesen Wochen wird daran erinnert, dass der Lutherische Weltbund und die römisch-katholische Kirche vor zehn Jahren – am 31. Oktober 1999 – in Augsburg die „Gemeinsame Offizielle Feststellung“ (GOF) unterzeichnet haben. Mit dieser Unterschrift bestätigten die Unterzeichner die zuvor im Auftrag beider Seiten erarbeitete und im Jahr 1997 veröffentlichte „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) in ihrer Gesamtheit. Da auch die Mitgliedskirchen der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD zu einem erheblichen Teil Kirchen der lutherischen Reformation sind, und darüber hinaus die Rechtfertigungslehre für alle Kirchen der Reformation von grundlegender Bedeutung ist, sieht die UEK in diesem Jubiläum ein auch für sie und ihre Mitgliedskirchen wichtiges Ereignis.
Die Gemeinsame Erklärung sollte die Ergebnisse der Dialoge über die Rechtfertigung zusammenfassen und ihren Ertrag sichtbar machen (vgl. GER 4). Sie stellte fest, dass die Gesprächspartner vor allem in folgenden Punkten Einigkeit erzielt hätten:
Beide Seiten seien nunmehr imstande, ein gemeinsames Verständnis der „Rechtfertigung durch Gottes Gnade im Glauben an Christus zu vertreten“ (GER 5). Obwohl sie nicht alles enthalte, was in jeder der Kirchen über die Rechtfertigungslehre gelehrt werde, umfasse die Gemeinsame Erklärung einen „Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“. Sie zeige, dass die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen des gemeinsamen Verständnisses der Rechtfertigungslehre nicht länger Anlass für Lehrverurteilungen sind (vgl. GER 5). Die gegenseitigen Verwerfungen aus dem 16. Jahrhundert träfen demnach nicht die in der Gemeinsamen Erklärung vorgelegte Lehre der beiden Partner.
Die Unterzeichner haben ihren Konsens als einen „entscheidenden Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung“ (GER 44) betrachtet und der Erwartung Ausdruck gegeben, durch einen weiteren Dialog „zu voller Kirchengemeinschaft, zu einer Einheit in Verschiedenheit zu gelangen, in der verbleibende Unterschiede miteinander ‚versöhnt’ würden und keine trennende Kraft mehr hätten“ (GOF 3).
Weit über die kirchliche Öffentlichkeit hinaus ist damals lebhaft erörtert worden, ob es sich bei der Gemeinsamen Erklärung tatsächlich um diesen entscheidenden Schritt handele. Vor allem wurde gefragt, ob das zu begrüßende Ziel erreichbar sei, wenn neben der Anerkennung gemeinsamer „Grundwahrheiten“ an deren unterschiedlichen Entfaltungen festgehalten werde.
Der Vorstand der Arnoldshainer Konferenz, deren Anliegen heute von der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD weitergetragen werden, hatte sich schon 1997 zur Gemeinsamen Erklärung geäußert: Er begrüßte sie als „einen wichtigen gemeinsamen Schritt der lutherischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche zu einem ‚Konsens in den Grundwahrheiten‘ der Lehre von der Rechtfertigung“. Zugleich bedauerte er aber, dass die Gemeinsame Erklärung die mit dem Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ (1985) erreichten Übereinstimmungen nicht ausdrücklich aufgenommen hat. Er stellte die Frage, wie theologische Argumente künftig zu behandeln seien, die sich aus dem reformatorischen Verständnis der Rechtfertigungslehre ergeben, aber außerhalb des erklärten „Konsenses in Grundwahrheiten“ stehen.
Anlässlich der Unterzeichnung hat der Vorstand der Arnoldshainer Konferenz gemeinsam mit dem Rat der EKD und der Kirchenleitung der VELKD die Gemeinsame Erklärung als eine bedeutsame Annäherung zwischen reformatorischen Kirchen und der Römisch-katholischen Kirche in zentralen Fragen der kirchlichen Lehre gewürdigt. Zum ersten Mal seit der Reformation hätten die seit damals getrennten Kirchen gemeinsame Aussagen zu jener Lehre gemacht, die einst Ausgangspunkt für das Zerbrechen der Einheit der abendländischen Kirche gewesen sei.
Die Vollkonferenz der UEK bekräftigt diese Würdigung: Jede Annäherung im Verständnis der Rechtfertigungslehre ist ein wichtiger Schritt zum gemeinsamen Verständnis des Evangeliums und zur Überwindung der konfessionellen Gegensätze, die das gemeinsame Zeugnis der Kirchen verdunkeln. Entsprechend der klarstellenden Aussage im Annex zur Gemeinsamen Offiziellen Feststellung unterstreicht die Vollkonferenz, dass mit der Rechtfertigungslehre ein Kriterium gegeben ist, dem keine Lehre widersprechen darf (GOF, Annex 3).
Von daher drängt sich erneut die schon damals erörterte Frage auf, welche Folgerungen sich aus der Rechtfertigungslehre für das Verständnis des Kircheseins und die wechselseitige Anerkennung als Kirche Jesu Christi ergeben. Das Problem wird deutlich in Verlautbarungen der römisch-katholischen Kirche wie der Erklärung „Dominus Iesus“ vom 6. August 2000 und der Bekräftigung des Selbstverständnisses der römisch-katholischen Kirche in den „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ durch die Kongregation für die Glaubenslehre vom 29. Juni 2007. Beide Verlautbarungen verweigern den evangelischen Kirchen die Anerkennung als Kirche Jesu Christi.
Die Vollkonferenz der UEK sieht hier einen deutlichen Widerspruch zum erreichten Konsens in der Rechtfertigungslehre. Nach evangelischem Verständnis wird die Kirche als Werk des Heiligen Geistes durch die Verkündigung des Evangeliums von der Rechtfertigung konstituiert.
Die Funktion der Rechtfertigungslehre als Maßstab, dem keine Lehre widersprechen darf, wirft auch die Frage nach einer Revision der römisch-katholischen Ablasslehre auf. Bekanntlich hat sich die Kritik Luthers und der Reformatoren an der Ablasslehre und dem ihr zugrunde liegenden Gnadenverständnis entzündet. Die Gemeinsame Erklärung und die Offizielle Feststellung haben die Aussagen des Konzils von Trient, mit denen die reformatorische Kritik des Ablasses verworfen wurde, nicht zurückgenommen, sondern lediglich den Raum abgesteckt, in dem eine solche Lehrverurteilung den anderen nicht mehr trifft. So konnte im Jahr der Unterzeichnung der Offiziellen Feststellung ein Jubiläumsablass für das Jahr 2000 verkündet werden, was auf evangelischer Seite verständlicherweise Irritationen auslösen musste.
An solchen Punkten werden die Grenzen der Methode des differenzierten Konsenses sichtbar. Solange die Verwerfungsaussagen des 16. Jahrhunderts von den Einsichten der heutigen Lehrgespräche unberührt bleiben und die Einschränkungen ihrer heutigen Geltung nicht ausdrücklich thematisiert werden, können sich immer wieder Spannungen und Konflikte zwischen den erreichten Konsensaussagen und den überlieferten Lehrpositionen ergeben. Offensichtlich ist das gesehen worden, als sich die Unterzeichner der Offiziellen Feststellung dazu verpflichteten, das Studium der biblischen Grundlagen der Lehre von der Rechtfertigung vertiefend fortzuführen und sich um ein „weiterreichendes gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungslehre“ zu bemühen (GOF 3). Das eigentliche Ziel muss die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums der Rechtfertigung sein, in dem die Kirchen über die Bestandsaufnahme dessen, was sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt gemeinsam sagen können, hinausgehen. Diese Aufgabe ist bisher noch nicht eingelöst worden.
Für die Kirchen der UEK sind die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre und die Gemeinsame Offizielle Feststellung wichtige, aber nicht abschließende gemeinsame Lehräußerungen zur Rechtfertigungslehre. Sie sind Stadien eines weiter zu führenden gemeinsamen Studiums, Schritte eines ökumenischen Lernwegs, der für neue gemeinsame Erkenntnisse offen ist. Die Kirchen der UEK werden einen solchen Lernweg immer unterstützen und mitgehen.
Die Einheit der Kirche gründet in Jesus Christus. Sie ist uns damit als Verheißung vorgegeben und als Auftrag aufgegeben. Gerade in schwierigen Zeiten gibt es keine Alternative dazu, die so verstandene Einheit zu suchen und sichtbar zu machen. Dazu bedarf es des gegenseitigen Respekts, der auch die Bereitschaft einschließt, „wahrhaftig zu sein in der Liebe“ (Eph. 4,15).
Der Dialog über ein gemeinsames Verständnis der Fragen von der Rechtfertigung aus Glauben und der Heiligung des Lebens muss weitergeführt werden. Dieser Dialog vollzieht sich nicht nur in offiziellen Lehrgesprächen, er beginnt vielmehr im gemeinsamen Hören auf die Heilige Schrift in den Gemeinden, auf Kirchentagen und an anderen Orten ökumenischer Begegnung. Eine Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums von der Rechtfertigung des Gottlosen durch Gottes freie Gnade hat unmittelbar Konsequenzen auch für die Lehre von der Kirche und das Verständnis des kirchlichen Amtes. Je mehr Übereinstimmung wir in der Rechtfertigungslehre und in der schriftgemäßen Darreichung der Sakramente entdecken, desto eher können wir trotz unserer konfessionellen Verschiedenheiten Kirchengemeinschaft leben. Die verbleibenden Unterschiede zwischen unseren Kirchen sind dann als Reichtum jener „vielfältigen Gnade Gottes“ (1. Petr. 4,10) zu entdecken, die uns miteinander verbindet und uns erkennen lässt, dass wir aufeinander angewiesen sind. Aufgetragen ist uns nicht nur eine weitergehende Verständigung in der theologischen Lehre, sondern auch das Streben nach einem gemeinsamen Zeugnis und gemeinsamen Dienst der Kirche Jesu Christi in der Welt.
Evangelische und katholische Kirchengemeinden, die seit Langem miteinander in guter und verbindlicher Nachbarschaft leben, gemeinsam Gottesdienst feiern und sich um ein gemeinsames Zeugnis im Alltag bemühen, warten darauf, dass unsere Kirchen weitere Schritte hin „zu voller Kirchengemeinschaft“, zu einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit (vgl. GOF 3) tun.
Ulm, den 24. Oktober 2009