In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Osnabrück hat sich Hans-Georg Ulrichs, Mitglied des Moderamens des Reformierten Bundes und Vorsitzender der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus, mit den Calvinismus-Vorlesungen von Abraham Kuyper (1837–1920) aus dem Jahr 1898 beschäftigt. Das soeben im Luther-Verlag Bielefeld erschienene Buch wagt einen neuen Blick auf den Begründer des Neocalvinismus in den Niederlanden. Reformiert-info.de fragte den Autor zu den Hintergründen:
reformiert-info.de: Wie kamen Sie darauf, sich mit Abraham Kuyper zu beschäftigen?
Hans-Georg Ulrichs: Ich habe seit meinem Studium immer wieder die Vorlesungen über den Calvinismus von Abraham Kuyper zur Hand genommen und war jedes Mal davon fasziniert. Als ich im vergangenen Jahr die schöne Aufgabe hatte, meine Lehrtätigkeit in Osnabrück mit einem offiziellen Akt zu beginnen, wollte ich gerne auch etwas Schönes bieten und natürlich etwas Grundlegendes und Zukunftsweisendes. Da Kuyper in unseren Kontexten einigermaßen unbekannt ist, obwohl er in globalgeschichtlicher Perspektive als eine der bedeutendsten christlichen Persönlichkeiten seiner Zeit bezeichnet wird, reizte es mich, für einige Überraschungen zu sorgen.
Kuyper gilt als Begründer des Neocalvinismus, der theologisch und politisch ‚irgendwie‘ konservativ war. Sie lesen ihn anders?
Das wussten schon die Zeitgenossen eigentlich besser. Kuyper hat sich nicht nur die Theologie Calvins und derer, die in dieser Tradition stehen, auf seine eigene Art anverwandelt, also eigenwillig rezipiert, sondern hat darin eine ganze Weltanschauung der Freiheit gelesen. Er hat entschieden auf die frühere Theologie zurückgegriffen, aber selbstständig weitergedacht, er hat tapfer den Mächtigen widersprochen und mutig nach vorne geschaut. Seine Idee war: Der große, souveräne Gott steht nicht im Widerspruch zur Freiheit des Menschen, sondern ist vielmehr der Garant für die Freiheit des Menschen. So hat Kuyper groß von Gott gedacht und hat sich, die Christen und alle Menschen in die Pflicht für die Freiheit genommen.
Ist das nicht alles sehr streng?
Diese Theologie ist nicht im negativen Sinne „gesetzlich“, weil die christliche Aktivität aus Dankbarkeit geschieht. Im übrigen konnte Kuyper herrlich „liberal“ sein, weil er auf Grund der „allgemeinen Gnade“ Gott auch außerhalb der Kirchen überall wirken sehen konnte: in der Natur, in den Gegebenheiten des Lebens, gerade auch in den menschlichen Bemühungen von Kunst und Kultur, in allen Bereichen des Lebens. Deshalb konnte er bei allem optimistisch bleiben. Natürlich kann es Zeiten geben, in denen es gilt, prophetisch oder gar apokalyptisch zu reden. Aber nicht aus Angst, sondern aus Dankbarkeit wird gehandelt. Gerade in den gegenwärtigen Diskussionen ist es wohltuend, ein Wort von Kuyper zu hören: „Diese Erde ist kein verlorener Planet“ – sie ist nämlich die Schöpfung des großen Gottes, der seine Werke nicht preisgeben wird.
Und wie sehen Sie Kuypers vermeintlichen politisch-gesellschaftlichen Konservatismus? Er sei, so manche Kritiker, für die „Versäulung“ der niederländischen Gesellschaft verantwortlich, manche haben ihn sogar mit der Apartheid in Südafrika in Verbindung gebracht.
Natürlich kann man manches, was Kuyper schrieb, kritisch kommentieren – auch wenn es historisch eingeordnet wird. Da lesen wir Paternalistisches, eben auch Theologie und Haltungen eines weißen Mannes aus Mitteleuropa am Ende des 19. Jahrhunderts. Jemand hat formuliert: „Wo Kuyper auftrat, gab es Krach.“ Aber er trat ein für die „kleinen Leute“, für Demokratie, für volle Teilhabe, für Gleichberechtigung und Emanzipation, er protestierte gegen Ausbeutung, gegen Rassismus. Als andere anfingen, Rassismus biologistisch zu begründen, lobte Kuyper die Begegnung über Grenzen hinweg, das Mischen von Kulturen und Völker. Kuyper „prophezeite“ geradezu als Hauptprobleme des 20. Jahrhunderts ungezügelten Kapitalismus und überbordenden Nationalismus. Leider hat er recht behalten. Mit Kuyper konnte man eine selbstbewusste demokratische Mentalität lernen, die die Pluralität der Gesellschaft bejaht.
Sie stellen Ihrem Buch den Satz eines amerikanischen Theologen vorweg, der als einer der Gründer der „öffentlichen Theologie“ gilt: „Wenn Du Gott richtig loben willst, musst Du Karl Barth lesen. Wenn Du als Christ etwas in der Welt bewegen willst, dann lies Abraham Kuyper!“ (Max Stackhouse)
Kuyper sieht in dem von ihm gedeuteten Calvinismus eine weltgestaltende Kraft. Deshalb hat er auch selbst ruhelos und bis zur Erschöpfung gesellschaftlich gewirkt: als Kirchenfunktionär, als Journalist, als Universitätsgründer und Hochschullehrer, als Politiker. „Kein Zentimeter unseres Lebens, den wir nicht vor Christus zu verantworten haben“, so lautet die Botschaft seines wohl bekanntesten Zitats. Das ist die reformierte Idee der Heiligung des Lebens, die integral zum Rechtfertigungsgeschehen dazu gehört. Und kann man darin nicht auch einen Vorausklang der Barmer Theologischen Erklärung hören, in der die Ansicht verworfen wird, „es [gebe] Bereiche unseres Lebens, denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären“?
In Deutschland hat Kuyper keine große Wirkung gehabt, oder?
Die evangelischen Kirchen in Deutschland waren über viele Jahrzehnte „nationalprotestantisch“ geprägt, in den Niederlanden dagegen waren sie konfessionell – und in lange Freiheitstraditionen eingebettet. Die wenigen, die Kuyper in Deutschland wahrnahmen, sahen in ihm denjenigen, der sich als Konfessionalist für die Tradition und gegen den Liberalismus aussprach. Dass er die Tradition vorwärts orientiert interpretierte und sich gegen alles stellte, was Gottes Souveränität nicht wahrhaben wollte, und deshalb politisch sowohl gegen Liberalismus als auch gegen Sozialismus votierte, damit aber auch im ersten Fall gegen die seinerzeit Regierenden, wurde nicht gesehen. Kuyper war im übrigen ein Liebhaber der Vielzahl von Konfessionen. Ein Wettstreit von Theologien und Kirchen könnte zur Ehre Gottes ausgetragen werden. Und keine Konfession – auch nicht diejenige mit dem besten Bekenntnis – wäre im Besitz der religiösen Wahrheit; übrigens auch seine eigene nicht. Erst die Vielzahl der Konfessionen kann die bunte Gnade Gottes abbilden, und sicher auch nur teilweise. Selbst andere Weltreligionen konnte Kuyper positiv würdigen.
Kuyper ist also vom bisherigen Image eines irgendwie konservativen Konfessionalisten zu befreien?
Ja, unbedingt! Kuyper war tatsächlich ein Befreiungstheologe, bevor es dieses Wort gab. Allan Boesak nennt sich beispielsweise einen „geistlichen Sohn Kuypers“, und auch in Nordamerika sind es Repräsentant/inn/en von öffentlichen und politischen Theologien und viele andere Wissenschaftler/innen, die sich intensiv mit Kuyper beschäftigen. In anderen Weltgegenden ist schon lange entdeckt worden, welche befreienden Potentiale in reformierter Theologie im allgemeinen und in Abraham Kuyper im besonderen stecken, wenn man Mut zur Erneuerung auch der eigenen Tradition hat. Sie muss fortgeschrieben werden. Kuyper kann auch in Zukunft Mut dazu machen, mehr Calvinismus zu wagen und in einer zu verteidigenden freiheitlichen Demokratie diese Welt lebensdienlich zu gestalten. Deshalb bin ich froh, dass nun auch bei uns ein kleines Büchlein über diesen großen Theologen vorliegt.
Hans-Georg Ulrichs
Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen
Luther-Verlag 2019
120 Seiten
€ 14,95