Aus vielen Territorien des Reiches waren sie in dieser Kirche zusammengekommen: Theologieprofessoren wie Karl Barth, reformierte, lutherische und unierte Pfarrer, Fabrikanten, Rechtsanwälte wie Gustav Heinemann und ein Landwirt. Kirche stand damals in der Entscheidung, hat sich gegen „die Kirche verwüstende(n) ... Irrtümer“ und für „evangelische(n) Wahrheiten“ entschieden. „Verbum Dei manet in aeternum“ – „Gottes Wort bleibt bis in Ewigkeit“: Dieser Satz markiert den Anspruch, den die eine Mutter und die 138 Väter von Barmen vor 75 Jahren erhoben hatten.
Auch vor bald 500 Jahren stand die Kirche in der Entscheidung. Calvin bewies ein hohes Maß an evangelischer Entschlossenheit, dass er es wagte, inmitten des unvorstellbaren Drucks auf die französischen Protestanten etwa den Gemeinden des Languedoc zuzurufen: „Auch wenn alles zerstört und verloren ist, hat Gott noch unbegreifliche Wege, seine Kirche wieder aufzurichten, gleichsam durch eine Auferweckung von den Toten.“ (Brief vom September 1562). Calvin und die Barmer Synodalen haben nicht von ihrer geschichtlichen Existenz abstrahiert, sondern an ihrem Ort und zu ihrer Zeit gesagt, was theologisch an der Zeit war. Wir begegnen in beiden Ereignissen einer kontextuellen Theologie, der das Ringen um evangelische Wahrheit abzuspüren ist.
Allerdings ist das Merkmal kontextuelle Theologie noch kein hinreichendes Merkmal für gute Theologie. Auf ihre das Fundament des Glaubens zerstörende Weise haben auch die Deutschen Christen ihre Forderungen nach Einführung des Führerprinzips in der Kirche und des Ausschlusses des Alten Testaments aus der Bibel kontextuell verstanden – mit den fatalen Folgen einer Irrlehre, in die allzu viele evangelische Christen sich haben hineinziehen lassen. Wer vom Kontext spricht, darf den Text nicht vernachlässigen.
Da wir Grund zum Glauben haben, bedarf es der Bestimmung dieses Grundes, der in Christus liegt und sich durch die gelesene, gehörte und ausgelegte Schrift erschließt. In unverwechselbarer Weise spiegeln das Wirken Calvins und die Barmer Bekenntnissynode, dass die versammelte Gemeinde von einem Grundtext her lebt, der – soll Kirche Kirche bleiben – nicht zur Disposition steht und unverhandelbar ist: die Heilige Schrift, die eine Ur-Kunde des Glaubens. Unter dem Titel „Leben aus der Schrift. Die befreiende Wirkung biblischen Redens bei Calvin und in Barmen“ möchte ich in vier Abschnitten ein paar Linien aufzeigen, die sich in Calvins Werk und in den Barmer Thesen entdecken lassen.
Warum Calvin lediglich das Hohelied der Liebe und die Apokalypse des Johannes nicht kommentiert hat, lässt sich allenfalls vermuten; dass er aber ansonsten sämtliche biblischen Bücher erklärt hat – in der Versammlung der Genfer Pastoren, in Predigten, später auch in der Genfer Akademie –, ist eine nahezu singuläre theologische Leistung. Calvin liebte die biblische Sprache und konnte sich ihr aufgrund seiner guten philologischen Kenntnisse umso leichter nähern. Er empfand es so, dass nicht er nach den biblischen Texten griff – vielmehr griffen diese nach ihm, forderten ihn heraus und boten ihm Raum, um von ihnen her den Glauben und das Leben zu reflektieren.
Wenn sich die evangelischen Kirchen als Kirchen des Wortes verstehen, so hat das auch mit diesen Basler, Straßburger und Genfer Anfängen zu tun und besonders mit der Weise, in der Calvin die Bibel las. Er machte ernst damit, dass Christinnen und Christen von der Kraft des Wortes leben und ihr Reden und Tun von der biblischen Botschaft bestimmen lassen. Als Pastor und Lehrer der Kirche entwickelte Calvin eine besondere Leidenschaft für die hebräische Bibel und ging dem Wortlaut – der hebräischen und der griechischen Wahrheit, wie er sagte – auf den Grund.
Er wollte sich den Blick auf die Texte nicht durch tradierte Urteile verstellen lassen, sondern Gottes Stimme hinter den von Menschen gesprochenen Worten entdecken. Die Bibel sei der „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet”, ein „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten”, und das „Zeugnis seines guten Willens” (Vorrede für die Genfer Bibeldrucke, 1546). Calvin war davon überzeugt, dass die Bibel die Menschen dazu anleitet, Gott und auch sich selber zu erkennen. Sie hat das Potenzial, die Kirche auf ihren schwierigen Wegen zu begleiten, aber auch von abgründigen Wegen abzuhalten. Konsequenterweise haben sich die von Calvin geprägten Kirchen gegen die Bezeichnung „Calvinisten“ gesperrt und sich stattdessen als „nach Gottes Wort reformierte Kirchen“ bezeichnet.
Calvins Leidenschaft für die biblischen Schriften lässt sich gut am Beispiel seines Verständnisses der Psalmen illustrieren. Calvin erklärt in der Vorrede zur Psalmenauslegung von 1557: „Meine reichlichen Erfahrungen aus den Kämpfen, in denen der Herr mich auf die Probe gestellt hat, haben mir gehörig dabei geholfen, ... die von mir [in den Psalmen] entdeckte Lehre für die Gegenwart nutzbar zu machen.“ Calvin war davon überzeugt, dass seine eigenen Erfahrungen ihn tiefer in den Sinn der Texte blicken lassen. In ihnen erkennt er einen „Schatz“, der dem „Aufbau der Kirche“ zugute kommen soll. Ihre Kraft entfalten die Psalmen, indem sie Menschen eine Sprache leihen, um sich selbst in den Erfahrungen von Lebensgeschenk und Todesnähe zu entdecken.
Besonders das in den Psalmen ausgesprochene Vertrauen, dass Gott tatsächlich bis in die äußersten Winkel der Welt regiert, ließ Calvin nicht mehr los. Er nahm die befreiende Wirkung der Psalmen gerade in dem Gedanken wahr, dass die bedrängten Gemeinden mit ihrer Erfahrung, angefeindet zu sein, allein bei Gott zu Ruhe und zu Frieden kommen. Wie sich Gottes Herrschaft in kosmische Dimensionen hinein erstreckt, so dehnt sie sich auf der ganzen Erde aus – ein Anklang an die ökumenische Sammlung der Gemeinde und ihre Einheit.
In der Moderne wurde an Calvin gelegentlich der Vorwurf herangetragen, dass seine Hervorhebung der Ehre Gottes letztlich ein Triumph über den Menschen sei. Damit aber geschieht Calvin Unrecht. Er wurde nicht müde zu betonen, dass die in der Schrift bezeugte Schöpfermacht Gottes keineswegs im Gegensatz zur menschlichen Freiheit steht. Vielmehr habe Gott „alles so gestaltet, dass alles, was zu seiner Ehre dient, auch für uns heilvoll ist“ (Genfer Katechismus von 1545, Frage 258). „Wo Gott bekannt ist“, so Calvin, „ist auch für die Menschheit gesorgt“ (Kommentar zur Jeremia 22,16). Aus diesem Satz spricht ein Verständnis von Humanität, das Calvin der in Christus sich vergegenwärtigenden Menschlichkeit Gottes abgeschaut hat. Weiter sei die geschaffene Welt der „Schauplatz der Ehre Gottes“ – schließlich spiegele sich Gottes Herrlichkeit „im Bau der Himmel und im Kunstwerk ihrer wunderbaren Ordnung“ (Von der ewigen Erwählung Gottes, 1552; Kommentar zu Psalm 19).
Und noch einmal zeigt sich die befreiende Wirkung der Schrift, wenn Calvin es für eine außergewöhnliche Auszeichnung des Menschen hält, dass er in seiner Menschlichkeit „als Vertreter Gottes so über die Welt herrschen darf, als ob das sein Recht wäre“ (Kommentar zu Psalm 8,7). Schon in seiner Straßburger Zeit traf Calvin die für die Gestalt der Gottesdienste und für die Musikgeschichte folgenreiche Entscheidung, dass die Psalmen nicht nur gelesen werden sollen, sondern dass sie auch gesungen werden können – die Geburtsstunde des Genfer Psalters. Dass das gemeinsame Singen die Seele befreit, wurde Calvin zu einer Gewissheit, die er in der Genfer Gottesdienstordnung dargelegt hat: „Wenn wir [die Psalmen] singen, so sind wir sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge.“ (Genfer Gottesdienstordnung von 1542). Das ist liturgisch angewandte Theologie des Artikels vom Heiligen Geist!
Calvins Grundentscheidung, Lehre als biblisch begründete Schriftauslegung zu verstehen, führte die Barmer Theologische Erklärung fort. Jede These wird eingeleitet durch einen bzw. zwei neutestamentliche Sätze. Das ist weit mehr als nur eine Formalität, durch die der biblische Charakter der Thesen behauptet wird. Die Barmer Erklärung will gerade nicht demonstrieren, dass ihre Sätze biblisch verantwortet sind, sondern zeigt an: Anders als aus der gelesenen und verstandenen Schrift kann es überhaupt nicht zu theologischen Aussagen kommen. Wenn biblische Texte dazu dienen, theologische Sätze aufs Podest zu heben, wäre das kein Akt von Freiheit, sondern von Angst.
Wenn aber biblische Orientierungen den Dienst übernehmen, das anzuleiten, was in der Kirche unbedingt gesagt werden muss, dann setzt das befreiende Wirkungen aus sich heraus. Am Beispiel der zweiten Barmer These gesagt: Eine Kirche, die sich vom Geschenk der Freiheit her versteht, fragt nach dem Grund der Befreiung und entdeckt ihn in der von Jesus Christus gewirkten „frohen Befreiung aus den gottlosen Bindungen der Welt“ (These 2). Von Paulus ließen sich die Synodalen sagen, dass Jesus Christus von Gott zur Erlösung – also zum Befreier – gemacht wurde (1. Korinther 1,30).
Ein solches befreites Leben ist ein ungeteiltes, ein unteilbares Leben. Folglich ist es eine falsche Lehre, Bereiche des Lebens anderen Autoritäten zu unterstellen oder an sie auszuliefern. Mit Calvin gesprochen: Nicht uns selbst oder jemand anderem gehören wir, Gott sind wir zu Eigen. Trennungen in Seele und Leib oder Person und Werk stoßen an diese von Calvin und in Barmen markierte Grenze: Das christliche Leben ist ein ganzes Leben, in dem Gott mehr als nur die Herrschaft über die religiösen Refugien hat.
Calvin und die Barmer Thesen haben die Freiheit inhaltlich – und das heißt: biblisch – bestimmt. Mit dem erwähnten Bild vom Schauplatz deutet Calvin auch sein eigenes Leben als Raum, in dem Gott gleichsam Regie führt. Calvin legt Wert darauf, dass der Vorsehungsgedanke keineswegs die Freiheit behindert oder gar verhindert. Im Gegenteil: Wahre Lebensfreiheit verdankt sich Gott, der selbst das Attribut der Freiheit trägt. Calvin erinnert an den Anfang: die Geschöpflichkeit des Menschen.
Zu den Gaben, die dem menschlichen Geist von Gott beigegeben sind, zählt er die Fähigkeit, die Welt zu durchforschen. Nach Calvin ist der Mensch ein über sich und seinen Ort in der Geschichte nachdenkendes Wesen, versehen mit der Gabe, sein Leben und die ihn umgebende Welt intellektuell und kulturell zu durchdringen. Ihm steht die Vernunft zu Gebote, um Gut und Böse, Recht und Unrecht voneinander zu unterscheiden. Er kann aus dem Vergangenen das Zukünftige zu schließen und aus dem Zukünftigen die Vergangenheit zu deuten. Es zeichnet ihn aus, nicht nur Leben zu empfangen und sich einem Gegenüber – nämlich Gott – zu verdanken, sondern auch zu antworten. Im Unterschied zu den Tieren ist er das zum Antworten geschaffene Wesen. Er existiert als Gleichnis seines Schöpfers und ist der „Spiegel der Herrlichkeit Gottes“ (Institutio I,15,4).
So spitzt Calvin die Geschöpflichkeit des Menschen gemeinsam mit seiner Erlösung auf ihre befreiende Wirkung hin zu: Wie die Freiheit der „Hauptinhalt der Lehre des Evangeliums“ ist, so lässt sich der Freigesprochene in die Pflicht nehmen, sein ganzes Leben auf Gott auszurichten (Institutio III,19,1). In der ihm eröffneten neuen Lebenswirklichkeit lebt er – angeleitet durch die Gebote – wahrhaft menschlich. Eine solche christliche Freiheit löst den Menschen von Angst und Zwang und bringt ihn zum bereitwilligen und fröhlichen Tun „aus freien Stücken“ (Institutio III,19,4). Die befreiende Wirkung der Schrift deckt Calvin übrigens auch in dem entlastenden Gedanken auf, dass das Leben in dieser Freiheit unvollkommen bleibt: Wir sollen keine Scheu haben, Gott „auch angefangene oder halbfertige Werke, an denen noch manches auszusetzen ist, anzubieten“ (Institutio III,19,5). Christliche Freiheit schließt das Fragmentarische ein – auch deshalb, weil am Ende Gott den Menschen vollendet.
In einer solchen dem biblischen Zeugnis abgeschauten Freiheit öffnen sich Räume für die entschlossene Betätigung in der kulturellen, politischen und ökonomischen Welt – und übrigens auch zum Genießen der erfreulichen Seiten des Lebens. Aus der biblischen Bestimmung der Freiheit als Geschenk entwickelt Calvin ein Verständnis von Humanität, die den Menschen nicht nur nach sich, sondern auch nach dem anderen Menschen fragen lässt. So zeichnen sich Konturen eines Lebens ab, das von Gewissensfreiheit, Mündigkeit, Kommunikation und Erbarmen geprägt ist. Bei Calvin schlägt die Geburtsstunde einer protestantischen Ethik, die aus dem Grundsatz heraus, nicht sich selbst, sondern Gott zu gehören, ein Lebenskonzept in Dankbarkeit und Verantwortung entwirft.
An diese Grundlinien hat die Barmer Theologische Erklärung angeknüpft. Schon die Januar-Fassung der Freien reformierten Synode macht „Freiheit“ zum Leitbegriff – sieben Mal ist dort von der „freien Gnade“ die Rede und sodann von einer freien Kirche in einem ebenso freien Staat. Freie Gnade meint zunächst das Faktum, dass Gott sich Israel zu seinem Volk erwählt hat und an dieser Erwählung festhält. Viereinhalb Jahrzehnte später hat man das im Rheinland deutlicher ausgesprochen, was in Barmen erst unscheinbar anklingt.
In der Mai-Fassung heißt es dann: Durch Jesus Christus geschieht „frohe Befreiung ... zu freiem ... Dienst“ (These 2); der Auftrag der Kirche zur Verkündigung begründet ihre Freiheit und hat zum Inhalt, die „Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (These 6). Die Befreiung zum freien Dienst ist also die Konsequenz der in Christus aufgerichteten Erlösung; der die Kirche befreiende Auftrag, Gottes freie Gnade öffentlich zu machen, gründet in der biblischen Wendung, dass Gottes Wort selbst nicht gebunden ist. Die 6. These sagt prägnant, dass die Kirche ihrem Auftrag nachzukommen hat, in ihren Lebensäußerungen die gute Botschaft von der freien Gnade Gottes missionarisch weiterzugeben. Sie nimmt sich die Freiheit zum Wort und richtet öffentlich aus, wovon sie selbst lebt: dass das Evangelium zuerst und zuletzt eine Befreiungsbotschaft ist. Damit werden die Gemeinden ausgerichtet auf ein Zutrauen zum Evangelium, das sich selber Gehör und Geltung verschafft.
Calvin und Barmen erfreuen sich nicht nur einer gemeinsamen Hochschätzung, sondern ziehen auch eine ähnlich motivierte Kritik auf sich. Dass man Calvin und Barmen in einem Atemzug mit dem Wort „Leben“ nennen könnte, scheint denen fremd, die in Calvins Wirken eine „Tyrannei der Tugend“ sehen und Barmen eine autoritäre Dialogfeindlichkeit andichten. Nach meiner Sicht versperren weder Calvin noch Barmen die Wege zum Leben, sondern liefern bleibend gültige Maßstäbe für private und öffentliche Verantwortlichkeit. Aus der Schrift zu leben, heißt bei Calvin und in Barmen, sich über die Gründe des Lebens zu vergewissern. Mit Recht wird die Reformation Calvins als eine Reformation des Lebens gekennzeichnet. Calvin fragte entschlossen nach einer glaubwürdigen Gestalt der Kirche, des öffentlichen Lebens und der individuellen Existenz.
Zunächst gegen seinen Willen in die kirchlichen Aufgaben in Genf eingebunden, stellte er sich der Frage, was ein Christ in der Bedrängnis zu tun hat und wie sich eine Kirche zu verhalten hat, die sich als „Kirche unter dem Kreuz“ sammelt. Man muss sich vor Augen halten, dass Calvin seine berlegungen zur Lebensgestaltung auch solchen Menschen mitgeteilt hat, die von Schikanen und vom Tod bedroht waren. Wie das göttliche Leben mehr ist als das Bild, das von ihm gezeichnet wird – darin liegt der unhintergehbare Sinn des Bilderverbotes –, so weist auch das menschliche Leben über das von ihm entworfene Bild hinaus. Das menschliche Leben gewinnt seine Lebendigkeit von der Gegenwart Gottes her.
Den Schriften des Alten und Neuen Testaments entnahm Calvin sodann Orientierungen für das Leben der Kirche. Er spricht von Christus als dem einen Haupt der Gläubigen, die untereinander Gemeinschaft haben. Als in Gottes erwählendem Handeln begründete Gemeinschaft ist die Kirche ein lebendiger Organismus und – wie Calvin sagt – ein Ort von Gottes Güte, an dem Christinnen und Christen einander Auskunft über ihren Glauben geben, sich gegenseitig in ihrer Hoffnung bestärken und einander in der Liebe dienen. Konsequent interessiert sich Calvin für die Sichtbarkeit der Kirche. In ihr soll erkennbar werden, welchem Herrn die Gemeinde angehört. Ihr Erkennungszeichen ist ihr Umgang mit der Schrift.
Es geht um die Entsprechung der Kirche zu ihrem Grund und Auftrag. Aus dieser Erkenntnis zieht Calvin den kirchenordnenden Schluss, dass es in der Kirche zu einem konzertanten „Zusammenklingen“ der unterschiedlichen Gaben und Dienste kommen muss (CO 51,196). Mit dem vierfachen Dienst der Gemeinde entwickelte er eine kirchliche Handlungstheorie, die den Gaben der Vielen vertraut und diese zusammenführt. Die auf ihn zurückgehende presbyterial-synodale Kirchenstruktur war eine Krisenordnung und bewährte sich fortan in Krisensituationen der Kirche – nicht zuletzt in Barmen. Eine deutliche Erinnerung an Calvin ist der in Barmen laut gewordene „Ruf nach vorwärts“ in kirchlicher Hinsicht: Die Kirche versteht sich als Gemeinde von Geschwistern, „in der Jesus Christus ... gegenwärtig handelt“ (These 3); die mter in der Kirche sind der ganzen Gemeinde anvertraute Dienste.
Die Thesen 3 und 4 geben bis heute den Anstoß dazu, dass sich unsere Gemeinden in ihren Gaben gleichsam neu erfinden. Christinnen und Christen nehmen sich wahr als Subjekte, die ihren Glauben, ihr Leben und ihre Begabungen mit anderen teilen. Das Signal, das Calvin und Barmen bis heute bleibend gültig gesetzt haben, lautet: Gegen die Selbstgefährdung der Kirche, die Vielfalt der mter zur Einfalt verkommen zu lassen, sollen wir den allen anvertrauten Diensten unsere Aufmerksamkeit schenken. Was auch immer Menschen in der Kirche tun: Durch sein Wort und durch seinen Geist versammelt Jesus Christus sie zur Gemeinde und schützt und erhält diese. Und gibt Menschen seinen Geist, damit sie in ihren und auch an ihren Aufgaben wachsen.
Calvin lässt sich nicht nur auf Barmen, sondern auch auf seine Wirkung als Korrektiv für unsere Gegenwart hin befragen. Das geschieht in diesem Jahr anders als noch vor 100 Jahren beim 400. Jubiläum. Die sich über acht Julitage erstreckende zentrale Calvinfeier in Genf mit Vorträgen, Grußworten, Gottesdiensten, Ausflügen und Festumzug hinterließ damals bei manchen Teilnehmern einen zwiespältigen Eindruck. Das Elberfelder Reformierte Wochenblatt kommentierte das so: „Das Festprogramm war derart reichhaltig, daß man es als eine Erleichterung empfand, daß infolge der ungünstigen Witterung nicht alle Teile zur Ausführung gelangen konnten.“ (Jg. 54, 1909, Nr. 29). Unser Festprogramm in diesem Jahr ist bescheidener und unser Interesse an Calvin und Barmen hoffentlich theologisch konzentrierter. Drei kurze berlegungen mögen andeuten, wie wir von Calvin und von Barmen aus weiterdenken können.
Erstens: Calvin und die Barmer Thesen haben auf Grundlage der Schrift verbindlich von Gott gesprochen – nicht konziliant, nicht relativierend, sondern entschieden und bestimmt. Hier wird die theologische Voraussetzung laut, dass erstens Gott nicht schweigt, sondern darin ein Bild von sich macht, indem er redet, und dass zweitens sein Reden zur Stellungnahme und gegebenenfalls zum Bekenntnis herausfordert. Damals wurden Zeichen gesetzt, dass Theologie, Glaube und Kirche einer engagierten Spiritualität der Erkenntnis und des Bekenntnisses bedürfen.
Die Verbindlichkeit der Gottesrede findet ihren hervorgehobenen Ort in der Predigt. Es ist der Mühe wert, der gelegentlichen kirchlichen Selbstbanalisierung eine Predigtkultur entgegenzusetzen, die sich von Calvins Wertschätzung der Bibel als „Schatz“ und vom Barmer Bezug zu den Quellen der Verkündigung anleiten lässt. Die Barmer Thesen hatten ihre Schwäche im Schweigen zum großen Unrecht und unsäglichen Leid, das Juden zugefügt wurde. Aber sie bestärken uns auf indirekte, wirksame Weise darin: Es bleibt richtig, im Hören auf die ganze Bibel nicht nachzulassen und wie Jüdinnen und Juden nach Gottes Bund und Willen zu fragen.
Zweitens: Die Gottesrede, die wir bei Calvin und in den Barmer Thesen erkennen, hat kommunikativen und öffentlichen Charakter. Das gilt zunächst für das evangelische Binnenverhältnis. Calvins Suche nach Wegen, dass die Evangelischen Kirchengemeinschaft haben, ist in Barmen Ereignis geworden: Lutheraner, Reformierte und Unierte sprachen erstmals seit der Reformation mit einer Stimme – zu Recht kommentierte Pfarrer Klugkist Hesse: „Es ist ein Wunder vor unsern Augen.“ (Wochenblatt „Unter dem Wort“, 10.6.1934). Das ökumenische Kirchenmodell, das in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) entwickelt wird, beginnt in Wittenberg, Genf und Barmen. Und es lässt uns das Potential der unterschiedlichen konfessionellen Prägungen wertschätzen, statt sie einzuebnen. Nach außen gilt: Gegen die voranschreitende Privatisierung des Glaubens gehört das Evangelium in eine politische ffentlichkeit, in der gegen alle Gnadenlosigkeit die Botschaft von Gottes freiem Erbarmen stark bleiben muss.
Drittens: Wir würden Calvin und den Barmer Thesen die kritische Spitze abbrechen, wenn wir die Streitbarkeit der Gottesrede außer Acht lassen würden. Der Protestantismus lebt nicht nur von seiner diskursiven, sondern auch von seiner kritischen Kompetenz, um für Klarheit nicht nur innerhalb des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, sondern auch angesichts eines fundamentalistischen Theismus und Atheismus einzustehen. Aus der Schrift zu leben heißt auch, streiten zu können und Gegnerschaft auszuhalten. Weltweit ließen sich Erklärungen und Bekenntnisse auch im Sinne des notwendigen Streites von den Barmer Thesen inspirieren. Es hat auch etwas mit dem Wirken von Gottes Geist zu tun, dass er uns die Anliegen Calvins und der Barmer Thesen durch Bekenntnisse aus der weltweiten kumene ins Gedächtnis ruft.
Gelegentlich ist vom „Erbe Calvins“ und der „Verabschiedung der Barmer Thesen“ die Rede. Das darf aber nicht bedeuten, dass eigentlich schon tote Gedanken in unseren Besitz kommen, um wiederbelebt zu werden, und dass man den Barmer Thesen mit ihrem Beschluss zugleich den Abschied gegeben habe. Faktisch hat es beides gegeben: eine von Klischees verstellte Sicht auf Calvin und eine Barmen-Rezeption, in der die Thesen als modernitätsfeindlich tatsächlich verabschiedet wurden. Dem setze ich die Vermutung entgegen, dass uns Calvin und Barmen voraus sind im Ernst und in der Leidenschaft, die befreiende Wirkung des biblischen Redens in den Dienst des kirchlichen Lebens zu stellen.
Ich schließe mit einer ußerung Calvins und einem Ausruf auf der Barmer Bekenntnissynode. Vier Wochen vor seinem Tod, Ende April 1564, rief Calvin seine Kollegen im Pfarrdienst an sein Kranken- und Sterbebett. „Ich habe viele Schwächen gehabt“, erklärte er, „die Ihr ertragen musstet, und selbst all das, was ich getan habe, ist im Grunde nichts wert. (…) Wenn es aber etwas Gutes gegeben hat, so richtet euch danach und folgt ihm nach.“ Calvin sagt das, weil es zu seinem theologischen Verständnis der Kirche gehört, dass diese in der Spannung von begrenztem Menschenwerk und göttlicher Verheißung existiert. Und er weiß, dass die, die sein Werk fortsetzen, Ermutigung brauchen: „Fasst Mut und bleibt stark, denn Gott wird sich dieser Kirche bedienen und sie am Leben erhalten.“ (Abschiedsrede an die Pfarrer, 28.4.1564) Calvins Abschied hat Stil, denn er versteht die Kunst, das Schöne und das Schwere am Ende gut sein zu lassen.
Letzter Szenenwechsel: Barmen, Gemarker Kirche am Morgen des 31. Mai 1934. Zeitzeugen berichten, dass es durch den Kirchraum hallte: „Es ist geschafft!“ Ein Ausruf der Erleichterung, wohlwissend, dass die Bewährung der in den sechs Thesen zur Sprache gebrachten evangelischen Wahrheiten noch anstand und – auch das gehört zur historischen Wirklichkeit – mit unterschiedlicher Intensität vertreten wurde. Und dann haben sich die Synodalen von ihren Plätzen erhoben und ihre Erleichterung über die Einigung im Choral „Lob, Ehr und Preis sei Gott“ (EG 321,3) zum Ausdruck gebracht. Mit Calvin möchte man sagen: „Wir sind sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge.“ (Genfer Gottesdienstordnung, 1542).