Des Predigers Blues vom Altwerden

Predigt zu Kohelet 12. Von Johannes Voigtländer, Köln

"Unser Predigttext könnte sich so unter der Rubrik „Entdeckungen“ in einer unserer Hochglanz-Wellness-Zeitschriften wiederfinden. So ganz dann aber wohl doch nicht. Es fehlt ihm die esoterische Gestimmtheit, die Koketterie mit Wiedergeburt und neuem Leben. Stattdessen sachlich-schmerzliche, eindeutige Bilder vom Zerbrechen, der goldenen Schale, des Eimers, des Schöpfrades. Kein noch so kleiner Lichtblitz von einer Möglichkeit, dass das Leben nun doch nicht mit dem Tod zu Ende sei, keine Auferweckung, kein Leben nach dem Tod, nichts, nichts, nichts! Dafür kehrt er zurück zu seiner einzigen theologischen Gewissheit: Und der Staub, aus dem der Mensch von Gott dem Schöpfer geschaffen ist, kehrt zurück zur Erde, woher er genommen ist und der Atem geht zurück zu Gott, der ihn gab, hauchend."

Predigt in der Antoniterkirche Köln, im Rahmen der Reformierten Predigtreihe zum Thema Weisheit

Kohelet 12:

Gedenke deines Schöpfers

in den Tagen der Jugend,

ehe die Tage des Übels

und die Jahre kommen,

von denen du sagen wirst:

„Sie gefallen mir nicht“

und ehe sich Sonne und Licht,

Mond und Sterne verfinstern

und (Winter-)Wolken nach jedem Regen

erneut wieder aufziehen.

In jenen Tagen dann

zittern die Hüter des Hauses (= die Hände)

und die starken Männer (= die Beine),

sie krümmen sich,

und die mahlenden Mägde (= die Zähne)

hören zu arbeiten auf,

denn zu wenige sinds,

und es verfinstern sich jene,

die aus den Fenstern blicken (= die Augen),

und die doppelten Basartore (= die Ohren)

schließen sich,

und der Laut der Mühle (= die Stimme)

wird wie ein heiserer Vogellaut,

und jeder Mädchengesang (= die Liebe)

entfernt sich,

auch vor Steigungen fürchtet man sich

und vor den Gefahren unterwegs.

Und der Mandelbaum blüht (= die Haare werden weiß),

und schwer trägt die Heuschrecke

an ihrer Last,

und die Kaperfrucht birst,

und der Mensch geht zur letzten Unterkunft,

und Klagende ziehn durch die Gasse,

ehe auch ihr silbernes Zisternenseil reißt

und die goldene Schale zersplittert

und überm Quell der Eimer zerschellt

und das Schöpfrad zerbrochen

hinabstürzt in die Zisterne

und der Staub zurückkehrt zur Erde,

wo er gewesen,

und der Atem zurückkehrt zu Gott,

der ihn gab.

Luft, Hauch, spricht der Weisheitslehrer,

Luft, Hauch!

Alles nur Luft, nur Hauch!

 

Nebstdem, dass der Lehrer ein Weiser war,

lehrte er auch das Volk Erkenntnis.

Er erwog und er forschte

und formte viele Sprüche.

Der Weisheitslehrer war bestrebt,

eingängige Worte zu finden

und diese Wahrheits-Worte

sinngerecht niederzuschreiben.

Die Worte der Weisen

sind Triebstacheln gleich

und wie eingerammte Pflöcke

die gesammelten Meister-Sprüche.

Sie sind uns von einem Hirten gegeben.

 

Nach allem aber:

Lass dich warnen, mein Sohn!

Des vielen Büchermachens ist kein Ende,

und viel studieren ermüdet den Leib.

So höre zum Schluss,

worauf es ankommt:

Fürchte Gott und halte seine Gebote!

Dies gilt für alle Menschen,

denn Gott bringt jedes Tun ins Gericht,

das über alles Verborgene ergeht,

sei es gut oder übel gewesen.

(Kurt Marti)

 

Liebe Gemeinde!

Ein lyrischer, ein ausgesprochen poetischer Text ist es, den uns unsere Predigtreihe zur Weisheit heute vorlegt. Es ist ein tiefer, ein elegischer Blues, der uns hier vorgetragen wird. Ein Blues, I feel blue – ich bin traurig, der doch sehr klar und unaufgeregt und in einigen wenigen und doch irgendwie zerbrechlich wirkenden Gitarrenriffs (12 Akkorde, Tonika, Subdominante, Dominante) die Stimmung und die Haltung des Kohelet-Buches, dieser später Weisheit, zusammenfasst.

Doch der Reihe nach:

Unser Predigttext setzt ein mit einer Mahnung: „Gedenke“, erinnere dich daran, sei eingedenk, dass du ein Geschöpf bist. „Gedenke deines Schöpfers ...“; denn wenn ich seiner gedenke, als des Schöpfers, dann wird mir doch auch bewusst, dass ich ein Geschöpf bin! Ein Pfahl wird hier eingerammt. Alles, was der Weisheitslehrer bisher ausgeführt hat und alles, was noch zu sagen sein wird, hat sich an dieser Setzung, hat sich an dieser Feststellung, hat sich an diesem Grundbekenntnis, ohne das nichts wäre, zu erweisen. Alles ist darauf bezogen! „Gedenke deines Schöpfers ...“ Wir haben hier das theologische Credo des Kohelet vor uns. Mehr zu sagen von Gott, wäre ihm Wortemacherei, weniger eine Unmöglichkeit. Gott ist der Schöpfer! Und das Geschöpf kann sich und die Welt nur begreifen – und das heißt für den Weisheitslehrer eben auch nicht begreifen, weil auch das das Ergebnis des Nachdenkens über die Welt ist – wenn es das nicht vergisst. Du bist sein Geschöpf! Du bist Gottes Geschöpf!

Vielleicht hat der Klang des Wortes Schöpfer heute etwas von seiner alles umspannenden, nichts auslassenden, Bedeutung und Gründung verloren? Wir halten uns selber für Schöpfer und wir schaffen tatsächlich Dinge, Waren – unsre Shopping-Malls sind voll davon –, aber wir gehen achtlos mit ihnen um, verbrauchen, werfen weg, ohne Nachhaltigkeit, da können wir uns manchmal nur schwer vorstellen, dass der Schöpfer, den Kohelet hier bekennt, zu seinen Geschöpfen steht, dass er sie nicht aufgibt, dass sie ihm nicht gleichgültig sind. Für Kohelet ist das Bekenntnis, dass Gott sein Schöpfer ist, eine Alles gründende und begründende Aussage.

Ja, ist es Ihnen aufgefallen, „sein“ Schöpfer, Kohelet spricht nicht mehr von „unser“ Schöpfer. Er kann sich nur noch als ein Einzelgänger, in einer ihm fremd und undurchschaubar gewordenen Welt, verstehen. Es gibt für ihn nicht mehr das Volk Gottes, das aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden ist, mit dem Gott lebt, der sich ihm zuwendet, der es trägt, der sich in der Geschichte als der Gott, als Adonai, erweist. All das, vermag Kohelet nicht mehr zu bekennen. „Gedenke deines Schöpfers ...“ Das ist das Einzige, was ihm geblieben ist. – Da kann man schon den Blues kriegen.

„Gedenke deines Schöpfers ...“ Für jüdische Hörerinnen und Hörer ereignet sich an dieser Stelle des Predigttextes noch etwas Weiteres. „Boräka“ so liest und hört sich auf Hebräisch „dein Schöpfer“ an. Es lautet aber im Hebräischen genauso wie „dein Grab“! Mit diesem Klangspiel gelingt es dem Autor, dem Weisheitslehrer, eine für die Bibel bezeichnende und tiefverwurzelte Verbindung herzustellen: Im Gedenken seines Schöpfers wird sich der Mensch, das Geschöpf, seiner eigenen Endlichkeit bewusst, seiner Sterblichkeit. Das Geschöpf hat einen Anfang und ein Ende. Sich das ohne Ausflüchte, ohne jede Hintertür, ohne jedes Wenn und Aber gesagt sein zulassen, das macht schon den Blues.

Doch auch damit ist noch nicht genug der Irritationen. Der Lehrer der Weisheit empfiehlt uns, dass wir uns schon in unserer Jugend mit eben diesen Gedanken, dass Gott der Schöpfer ist und dass am Ende unseres Lebens der Tod steht, befassen sollen und nicht erst dann, wenn die Tage des Übels, also das Alter da sind. Die Jahre, die dir nicht gefallen, in denen sich Sonne und Licht, Mond und Sterne verfinstern und der Himmel immer wolkenverhangen sein wird. So beschreibt er das Alter. Ist Kohelet depressiv, ist er selbstmordgefährdet? Wo sind der Mut und Hoffnung so vieler anderer biblischer Texte, auch weisheitlicher, geblieben, die das Alter preisen können, die zwar den frühen Tod als Bedrohung sehen, nicht aber den im hohen Alter? So wie wir es in der Lesung aus Hiob 42 gehört haben. Nein, Kohelet ist nicht depressiv und an keiner Stelle erwägt er die Selbsttötung. Nein, aber das, was ihn wach hält und ihn im Leben stehen lässt, ist allein die geglaubte Gewissheit, dass Gott der Schöpfer ist! Das nimmt ihm nicht seine Fragen. Das gibt ihm auch keine schnellen und einfachen Antworten, deshalb der Blues. Aber wie jeder gute Blues nicht in der Verzweiflung endet, so verzweifelt auch Kohelet nicht. Deshalb auch der Rat, sich schon in der Jugend mit diesen Fragen und dem Alter und dem Tod auseinanderzusetzen, damit man dann besser gewappnet ist. Für Kohelet ist und bleibt die einzige Möglichkeit mit den wechselvollen Widerfahrnissen des Lebens umzugehen, sie zu ertragen und auszuhalten, mit der Endlichkeit menschlichen Lebens auszukommen und doch in alledem das Leben zu schätzen und nicht wegzuwerfen, der Glaube, die theologische Einsicht: Gott ist der Schöpfer und ich bin sein Geschöpfe – nicht mehr, vor allem aber auch nicht weniger.

Und dann beginnt er zu singen, seinen Blues vom Altwerden:

In jenen Tagen dann

zittern die Hände

und die Beine,

sie krümmen sich,

und die Zähne

hören zu arbeiten auf,

denn zu wenige sinds,

und es verfinstern sich die Augen,

und die Ohren

schließen sich,

und die Stimme

wird wie ein heiserer Vogellaut,

und die Liebe

entfernt sich,

auch vor Steigungen fürchtet man sich

und vor den Gefahren unterwegs.

Und die Haare werden weiß,

und schwer trägt die Heuschrecke

an ihrer Last,

und die Kaperfrucht birst,

und der Mensch geht zur letzten Unterkunft,

und Klagende ziehn durch die Gasse,

ehe auch ihr silbernes Zisternenseil reißt

und die goldene Schale zersplittert

und überm Quell der Eimer zerschellt

und das Schöpfrad zerbrochen

hinabstürzt in die Zisterne

und der Staub zurückkehrt zur Erde,

wo er gewesen,

und der Atem zurückkehrt zu Gott,

der ihn gab.

Luft, Hauch, spricht der Weisheitslehrer,

Luft, Hauch!

Alles nur Luft, nur Hauch!

 

Ein solches Lied findet sich in der Bibel? Das ist eher überraschend, denn einen solchen Text vermutet man in der Bibel nicht. Auch wenn die einzelnen Bilder aus einer Welt stammen, die uns fremd ist, die Zisterne, die schwertragende Heuschrecke und die aufbrechende Kapernfrucht, so ist doch die Sorge vor dem Alter, die hier ihren beredten Ausdruck findet, fast modern und passt so ins 21. Jahrhundert. Unser Predigttext könnte sich so unter der Rubrik „Entdeckungen“ in einer unserer Hochglanz-Wellness-Zeitschriften wiederfinden. So ganz dann aber wohl doch nicht. Es fehlt ihm die esoterische Gestimmtheit, die Koketterie mit Wiedergeburt und neuem Leben. Stattdessen sachlich-schmerzliche, eindeutige Bilder vom Zerbrechen, der goldenen Schale, des Eimers, des Schöpfrades. Kein noch so kleiner Lichtblitz von einer Möglichkeit, dass das Leben nun doch nicht mit dem Tod zu Ende sei, keine Auferweckung, kein Leben nach dem Tod, nichts, nichts, nichts! Dafür kehrt er zurück zu seiner einzigen theologischen Gewissheit: Und der Staub, aus dem der Mensch von Gott dem Schöpfer geschaffen ist, kehrt zurück zur Erde, woher er genommen ist und der Atem geht zurück zu Gott, der ihn gab, hauchend.

Und so entwirft er zum Schluss ein schönes Bild: Gott schenkte den Menschen den Atem, seinen Atem. Und der Mensch konnte nur so ein lebendiges Wesen werden. So findet am Ende der Atem wieder zu Gott zurück. Alles bleibt bei Gott, der Atem und die Erde, die er geschaffen hat. Leben, Leben gibt es also nur aus Gott und von Gott. Leben ist immer Gemeinschaft mit Gott, in unmittelbarer Beziehung zu ihm, dem Schöpfer. Diese Kommunikation, diese Beziehung ist auch für den Individualisten Kohelet lebensnotwendig – auch wenn am Ende alles nur Luft, nur Hauch ist.

Es ist schon ein völlig anders Selbstverständnis, das uns hier begegnet, etwa im Vergleich zu Hiob, der sich bei allem was geschieht aufgehoben weiß in die Zusammenhänge seiner sozialen Bezüge, seiner Gruppe, seiner Großfamilie. Der es als einen Gewinn des Lebens ansehen kann, im Alter die Kinder und Enkel aufwachsen zu sehen, der alt und lebenssatt sterben kann. So zu vergleichen bringt die Frage hervor. Wer war der Weisheitslehrer?

Nach allem, was wir heute wissen und sagen können, hat Kohelet um 250 vor Christus gelebt. Er war ein sehr wohlhabender, vermögender Aristokrat, der dem Zeitgeschehen als bloßer Beobachter gegenüberstand, resigniert, registrierend, dass alles seine Zeit hat und alles wie Luft und Hauch verweht und vergeht. Das so zu sagen ist ihm Tröstung, in einer Zeit, da keine Rede mehr von Recht und Gerechtigkeit sein kann. Er hat sich von aller Tradition gelöst und sucht seinen Weg als Einzelgänger. Er war kein Toralehrer, kein Ausleger der Schrift, sondern jemand, der für sich in der Anerkenntnis der Unveränderbarkeit der Welt Trost fand. So ist es auch keine wirkliche Überraschung, dass er nur noch sehr distanziert am Ende seines Büchleins von Gott reden kann. Gott hat keinen Namen mehr, er kann ihn nicht mit Adonai ansprechen. Gott ist nur noch die sich im Hintergrund aufhaltende Gottheit Elohim (el-elohim).

Nun ist es wichtig festzuhalten, dass das Buch Kohelet nicht die Bibel ist, aber es ist ein Buch der Bibel. Und in ihm begegnet uns ein Nachdenken über Gott, das irritiert und befremdlich bleibt und eben doch zur Bibel gehört und uns lehren könnte mit unseren Urteilen, mit unseren Antworten vorsichtiger und zurückhaltender zu sein und nicht zu behaupten wir wüssten schon was richtig und falsch ist – gerade auch dann, wenn es um das Leben geht und den Tod und Gott.

Es ist gut zu sehen und zu lesen, dass es wohl den Menschen damals auch nicht so leicht fiel mit Kohelet umzugehen und seinen Blues zu akzeptieren. Denn unser Predigttext bietet noch zwei kurze Ergänzungen im Anhang des Buches an. Da ist einmal der Versuch eines Schülers von Kohelet, der die Autorität des Lehrers herausstellen möchte, weil er vielleicht Sorge hat, das das Buch zu schnell beiseitegelegt werden könnte: „Die Worte der Weisen ...“

Und der zweite Nachtrag ist wohl der eines besorgten Zeitgenossen, der doch noch zum Schluss daran erinnern will, wie wichtig und unverzichtbar die Gottesfurcht und das Halten der Gebote ist – wie wahr, aber das hätte Kohelet auch nicht geholfen.

So bleibt am Ende ein irritierend moderner Text; denn auch wir fühlen uns manchmal in einer globalisierten Welt wie Luft und Hauch - haben wir überhaupt noch unmittelbaren Einfluss, geschehen die Dinge nicht einfach durch den Markt? -. Es ist ein Bibeltext, der uns in unserer Individualität anspricht, der unser Fragen aufnimmt, der trösten kann und tröstet, wenn auch in homöopathischen Dosen.

Amen.


Johannes Voigtländer, Köln, September 2012
Predigten von: Hans Theodor Goebel, Kai Horstmann, Marten Marquardt, Claudia Malzahn, Andreas Pangritz, Johannes Voigtländer

zu: Matthäus 20, 1-16 - Sprüche 22,17-23,11 - Prediger 9,7-10 - Kohelet 12 - Sprüche 20 - Hiob 38-42 - Psalm 73