Führt Gott in Versuchung?

Über die 6. Vaterunserbitte und ein neues Buch zu Hiob


Wie kann man noch einem Gott vertrauen, von dem man annehmen müsste, er setze absichtlich, ja geradezu bewusst und gezielt sein Geschöpf schrecklichen Versuchungen aus? Für die Theologie ist das kein neues Problem. Es ist uralt und schon in der Bibel in kaum zu überbietender Weise im Buch Hiob bearbeitet – wenn auch nicht gelöst.

Seit einem halben Jahr beten Franzosen ein neues Vaterunser. “Ne nous laisse pas entrer en tantation!” statt “Ne nous soumets pas à la tentation!” - “Lass uns nicht in Versuchung geraten!” statt “Führe uns nicht in Versuchung!” Die Franzosen – Katholiken wie Protestanten – folgen einer Anregung von Papst Franziskus. Gott führe niemanden in Versuchung. Es sei der Satan, der das tue, meinte der. Da stimmt der Papst mit Luther überein, der genau das im Kleinen Katechismus festgehalten hat, ohne allerdings eine Änderung im Wortlaut der 6. Vaterunserbitte zu fordern. Denn das aktivere “Und führe uns nicht in Versuchung” ist viel näher am griechischen Vaterunsertext des Neuen Testaments als die passivere Variante, für die sich die christliche Frankofonie entschieden hat.

Dahinter steht weit mehr als ein Übersetzungsproblem. Es ist der Versuch, Gott vor einem Verdacht zu retten, der, wenn man ihn zuließe, den Glauben vergiften würde. Wie kann man noch einem Gott vertrauen, von dem man annehmen müsste, er setze absichtlich, ja geradezu bewusst und gezielt sein Geschöpf schrecklichen Versuchungen aus? Für die Theologie ist das kein neues Problem. Es ist uralt und schon in der Bibel in kaum zu überbietender Weise im Buch Hiob bearbeitet – wenn auch nicht gelöst.

Hiob wird zur Testperson einer satanischen Versuchsreihe. Das biblische Hiobbuch besteht aus zwei Teilen, einer einfach erzählten Rahmengeschichte in Prosa und einer viel größeren Dialogdichtung. Die Rahmenerzählung, eine Folge von knapp erzählten irdischen und himmlischen Szenen, setzt das Setting, und das hat es in sich. „Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse.“ (Hi 1,1) Hiob ist sehr reich und hat eine große Familie. Doch im Himmel braut sich was zusammen. Satan tritt dort auf und Gott weist ihn nicht ohne Stolz auf sein Meisterwerk Hiob hin. Satan will Hiobs Gottvertrauen testen. Gott gibt Hiob in Satans Hand und wir werden Zeuge schrecklicher Hiobsbotschaften: Sein ganzer Besitz ist dahin, seine Kinder alle tot. Doch Hiob nimmt es hin. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn!“, ruft er aus (Hi 1,21). Test bestanden. Satan aber gibt sich nicht geschlagen, wie die zweite Himmelsszene zeigt. Den Verlust des ganzen Besitzes (wozu auch die Kinder zählen) könne einer ertragen, aber nicht den Verlust der Gesundheit. Auch diese teuflische These wird am lebendigen Objekt Hiob erprobt und falsifiziert. Hiob hält es immer noch aus, ohne Gott zu verfluchen.

Es folgt fast 40 Kapitel lang die riesige Dialogdichtung, quälende Redegänge Hiobs mit seinen drei Freuden, später sogar mit einem vierten, in denen sich nichts löst. Am Ende redet sogar Gott selbst und es löst sich immer noch nichts. Dann der Abgesang der Prosadichtung, in dem sich urplötzlich alles in Wohlgefallen auflöst. Hiob wird rehabilitiert und entschädigt. Es ist schon vielen aufgefallen, dass da was nicht stimmt. Aber was ist es?

Christoph Türcke, emeritierter Leipziger Philosophieprofessor, ist dieser Frage nachgegangen. In einem interessanten Bändchen analysiert er das Hiobbuch. (Christoph Türcke, Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob, 2017.) Vieles an der Prosaerzählung hat märchenhafte Züge. Rätsel und Prüfungen kommen im Märchen immer dreimal vor. Von daher erwartet man eine dritte Himmelsszene mit einer nochmaligen Steigerung, aus der dann die Lösung resultiert. Vermutlich gab es diese dritte Szene in der Hioberzählung einmal, aber sie wurde herausgeschnitten, als man an ihrer Stelle die überdimensionierte Dialogdichtung einfügte. Türcke fragt, was diese dritte Szene so brisant machte, dass man sich genötigt sah, sie herauszunehmen, um möglicherweise die gesamt Erzählung noch retten zu können. Er versucht sie zu rekonstruieren. Satan muss von Gott verlangt haben, sich dem Hiob zu offenbaren. Sein Kalkül: Wenn Hiob sieht, was das für ein Gott ist, dann kann er wirklich nicht mehr anders als von seinem Glauben abfallen.

So spekulativ Türckes Rekonstruktion ist, so schlagend ist sie zugleich. Denn sie trifft den Nerv der ganzen Erzählung. So lange Hiob ahnungslos ist, kann er alles ertragen. Sobald er aber Einblick in die himmlischen Vorgänge erhält, sobald er wie die Leser der Hiobserzählung Zuschauer von Himmelsszenen wird, die anmuten, als säßen zwei Prahlhanse im Wirtshaus, ist es aus mit der Treue Hiobs. Die Prahlerei Gottes mit seinem Meisterwerk Hiob, die Fahrlässigkeit, mit der er sich von dem buchstäblich dahergelaufenen Landstreicher Satan dazu hinreißen lässt, mit einem so treuen Geschöpf sein Spielchen zu treiben, alle das entbehrt in einem Maße jeder Göttlichkeit, dass man keinem wünschen kann, Zeuge dieser unwürdigen Szene zu werden. Wer das sieht, verliert seinen Glauben und kündigt die Treue. Das galt es nach Türcke zu verhindern. Schadensbegrenzung war angesagt.

Die Operation am offenen Herzen der Hiobserzählung ist der Versuch, sowohl an dieser Erzählung als auch an Gott selbst noch irgendetwas zu retten. Man hat die dritte Szene entfernt und an ihre Stelle die langen Dialoge eingefügt, die zwar keine Lösungen bringen, aber mitsamt der Gottesrede am Ende die Distanz zwischen Himmel und Erde wieder herstellen wollen, die die Erzählung so skrupellos eingerissen hatte. Am Ende der Dichtung offenbart sich Gott tatsächlich dem Hiob. Aber eben nicht als loser Wirtshauszecher, der mit Satan um Hiobs Treue wettet, koste es, was es wolle, sondern als der erhabene Schöpfer des Universums, dem kein Mensch in die Karten gucken kann.

Einen Text zensieren, um ihn zu retten? Türckes Buch zeigt, wie das beim Hiobbuch möglicherweise vonstattengegangen ist. Das Problem wurde dadurch vielleicht abgemildert oder mit viel Eloquenz über den Haufen geredet, aber nicht wirklich gelöst. Auch die französische Neuformulierung der 6. Vaterunserbitte wird das Problem nicht lösen, sondern es nur beschwichtigen.

Nicht umsonst heißt Türckes Buch über Hiob „Umsonst leiden“. Dass Hiob umsonst leidet, ist die These Satans (Hi 1,9; 2,3). Er glaubt umsonst und er leidet umsonst. Man kann Satan nur Recht geben, andernfalls kommt man in Teufels Küche. Wer sich von seinem Glauben einen Nutzen verhofft, kommt ebenso dorthin wie der, der im Leiden einen Sinn suchen will. Wie kann Gott sich rechtfertigen, wenn Menschen zu Unrecht leiden? Der Verweis auf Satan ist ein schwaches, ja geradezu feiges Alibi. Das Leid andererseits heldenhaft auf die eigene Kappe nehmen, würde Gottes Glaubwürdigkeit kaum weniger beschädigen. Am Ende ist der Rettungsversuch der großen Hiobsdichtung doch die überzeugendste Variante: Die Distanz zwischen Himmel und Erde wahren, Gott in erhabene Ferne rücken. Der Glaube wird belastbarer, wenn er davon absieht, Gott allzu neugierig in die Karten sehen zu wollen. Nur dann kann er seinen frommen Spruch mit voller Überzeugung bekennen: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn!“ Der Glaube muss mit Luther lernen, die Widersprüche in der Differenz zwischen Lehren und Beten auszuhalten. Er muss predigen: Gott führt niemanden in Versuchung. Und muss trotzdem weiter beten: „Und führe uns nicht in Versuchung!“ Theologie ist nicht immer logisch. Aber das Leben ist es ja auch nicht.

Christoph Türcke
Umsonst leiden
Der Schlüssel zu Hiob
1. Aufl., Hardcover, 120 Seiten
zu Klampen Verlag
ISBN 9783866745629


Jürgen Kaiser

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