„Ich habe so schreckliche Angst“, sagt eine Studentin zu mir. „Wie kann ich meine Angst loswerden?“ Ich spüre, wie schlimm das für sie ist. Sie spricht von Angst vor Prüfungen, von der Angst zu versagen, aber auch vom Leben und der Zukunft, die ihr Angst machen. Wer Menschen, die über ihre Ängste sprechen, zuhört, der spürt, wie schlimm das für die Betroffenen ist. Manchmal sind es ganz praktisch konkrete Befürchtungen, die Menschen äußern. Da fürchtet sich ein Mensch vor engen Räumen und sagt dazu: „Ich kann es nicht steuern. Ich habe solche Angst.“ Oft können Menschen aber nicht einmal eine besondere Situation nennen. Bei Erzählen ist es „das Leben“ oder auch „die Zukunft“, die Angst machen. Die das sagen, fühlen sich oft einsam. Denn sie denken, dass die anderen das nicht kennen. Und wünschen sich nur eins: die Angst loszuwerden.
„In der Welt habt ihr Angst“, hat Jesus einmal zu seinen Jüngern gesagt (Joh 16,33). Das klingt wie eine allgemeine Erfahrung. Menschen haben Angst. So ist das. Alle sind mehr oder minder davon betroffen. Und einen Teil dieser Angst brauchen wir auch zum Leben und zum Überleben. Sie schützt uns vor Bedrohung. Aber es gibt auch diese andere Angst. Das Wort Jesu „In der Welt habt ihr Angst“ bestätigt sie in vielfältiger Weise.
Jesus hat den Jüngern noch etwas Weiteres gesagt: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Die Angst ist da. Zum Teil brauchen wir sie. Zum Teil ist sie bedrohlich und engt unser Leben ein. Worauf es aber ankommt, ist dies: Ich bin gebeten und eingeladen, mich mit meiner Angst an Jesus zu halten und ihm zu vertrauen. Solches Vertrauen macht Angst erträglich. Der Prophet Jeremia hörte: „Fürchte dich nicht; denn ich bin bei dir.“ (Jer 1,8; vgl. Jes 41,10) Und Paulus erfuhr durch den Engel das Gleiche (Apg 18,9f.). Beide haben erfahren: Mit ihrer Angst gehören sie Gott. Und mit ihnen wollen auch wir darauf vertrauen: Mit unserer kleinen und großen Angst gehören wir Gott. Er ist größer als meine Angst.
Die Bibel berichtet davon, dass Menschen in manchen Lebenssituationen Angst haben. Sie fühlen sich zutiefst bedroht und sind bedrückt. Dazu ein paar Beispiele:
David betet: „Als mir angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott.“ (2. Sam 22,7)
Hiob spricht: „Ich will reden in der Angst meines Herzens und will klagen in der Betrübnis meiner Seele.“ (Hi 7,11)
„Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit, der du mich tröstest in Angst.“ (Ps 4,2)
„Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.“ (Ps 22,12)
„Die Angst meines Herzens ist groß.“ (Ps 25,17)
„Herr, sei mir gnädig, denn mir ist angst!“ (Ps 31,10)
„Vom Ende der Erde rufe ich zu dir, denn mein Herz ist in Angst.“ (Ps 61,3)
„Angst und Not haben mich getroffen.“ (Ps 119,143)
„Wir werden gedrückt und geplagt mit Schrecken und Angst.“ (Klgl 3,47)
Jesus spricht: „In der Welt habt ihr Angst.“ (Joh 16,33)
Menschen können sich mit ihrer Angst an Gott halten und sich ihm in die Arme werfen. Wenn jemand Gott so vertrauen kann, wird Angst erträglich. Mit ihrer kleinen und großen Angst gehören sie Gott. Er ist größer als ihre Angst und sendet in diese hinein sein Lichtsignal. Auch dazu ein paar Beispiele:
„Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?“ (Ps 27,1)
„Du bist mein Schirm, du wirst mich vor Angst behüten, dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann.“ (Ps 32,7)
„Die dann zum Herrn riefen in ihrer Not und er errettete sie aus ihren Ängsten.“ (Ps 107,6)
„In der Angst rief ich den Herrn an; und der Herr erhörte mich und tröstete mich.“ (Ps 118,5)
„Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir.“ (Jon 2,3)
Jesus spricht: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)
„Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ (Röm 8,35)
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)
„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ (1. Joh 4,18)
Und im Evangelischen Gesangbuch steht das Lied:
„Fürchte dich nicht, / gefangen in deiner Angst, / mit der du lebst.
Fürchte dich nicht, / gefangen in deiner Angst. / Mit ihr lebst du.
Fürchte dich nicht, / getragen von seinem Wort, / von dem du lebst.
Fürchte dich nicht, / getragen von seinem Wort. / Von ihm lebst du.
Fürchte dich nicht, / gesandt in den neuen Tag, / für den du lebst.
Fürchte dich nicht, / gesandt in den neuen Tag. / Für ihn lebst du.“
(EG RWL 656, Text, Melodie und Satz: Fritz Baltruweit 1981)
In einer Predigt über 1. Joh 4,18 vom 6.8.1961 im Basler Gefängnis formuliert der Theologe Karl Barth (Predigten 1954–1967, hg. v. Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. I, Zürich 1979, 193–201, hier 198f.):
„Eben dazu liebte und liebt uns Gott, dazu hat er in seinem Sohn sich selbst dahingegeben: damit wir uns nicht mehr fürchten müssten, damit wir zum Fürchten keinen Anlass und Grund haben sollten. Indem Gott uns liebte und liebt, indem er seinen Sohn für uns dahingab, ist jeder Grund zum Fürchten beseitigt, weggenommen, ausgewischt, zerstört und vernichtet. Was könntest du fürchten? Diesen oder jenen Menschen, von dem du den Eindruck hast, er denke nicht gut von dir, der dir vielleicht auch schon böse Worte gegeben hat, von dem du erwartest, er könnte dir Böses antun wollen? Aber warum fürchtest du ihn? Was kann er gegen Gott tun? Und wenn er nichts gegen Gott tun kann, was dann gegen dich?
Er ist wahrlich kein Grund, dich zu fürchten. Oder du fürchtest dich davor, es könnte dich ein Mensch, den du gern hast, der dir unentbehrlich ist, verlassen, er könnte dir so oder so abhandenkommen? Gott kommt dieser dir werte Mensch ganz bestimmt nicht abhanden. Und weil er ihm nicht abhandenkommt, kommt und wird er auch dir sicher nicht abhandenkommen. Oder du fürchtest deine Vergangenheit, deine Zukunft, deinen Tod? Sieh zu: du bist mit deiner Vergangenheit und mit deiner Zukunft und in deinen Tod hinein der von Gott geliebte Mensch und wirst das auch über deinen Tod hinaus sein. […] Oder du fürchtest dich – und das könnte der stärkste Grund zum Fürchten sein – vor dir selber: vor deiner eigenen Schwachheit und vielleicht Bosheit, vor den Versuchungen, die dir zu stark werden könnten.
Du fürchtest dich vor den Einfällen und Teufeleien, die dir durch den Kopf gehen könnten. Auch dieser Grund zählt nicht. Denn Gott – der Gott, der es mit dir hält – ist größer als dein Herz und als dein Kopf, und weil dem so ist, darfst und sollst du es ruhig wagen, auch dem Bösen, das da aus dir selbst heraufsteigen und dich bedrohen möchte, ein wenig mutig und getrost entgegenzusehen. Ein Grund zur Furcht, eine Erlaubnis oder gar ein Gebot, dich zu fürchten, kann auch das nicht sein. […] Ob es noch andere Gründe geben möchte, sich zu fürchten? Gewiss, noch viele, aber keinen einzigen, welcher im Haus der vollkommenen Liebe Raum und Bestand hätte. Und so gibt es keine Furcht, die wir vor irgendetwas oder irgendjemand haben könnten, die nicht durch die Liebe, die vollkommene Liebe ausgetrieben wäre.“
Und in einer Predigt über Joh 16,33 vom 24.12.1963 im Basler Gefängnis sagt Barth (Predigten 1954–1967, hg. v. Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. I, Zürich 1979, 242–251, hier 248f.):
„Seid getrost! heißt nicht: Denkt eben an etwas anderes! Springt über das, was euch Angst macht, hinweg! Flieht vor eurer Angst – etwa in irgendeine Zerstreuung oder in irgendeine eifrige Beschäftigung oder in irgendein wildes Unternehmen! Ihr könnt und werdet ihr doch nicht entfliehen: so wenig ihr euch selbst entfliehen könnt. Und seht wohl zu: gerade das ganz undurchführbare und also unnütze Fliehenwollen vor der Angst pflegt irgendwie die Ursache alles Bösen und alles neuen Leides zu sein. Seid getrost! heißt: tut die Augen auf und seht empor: zu den Bergen, von denen euch Hilfe kommt [Ps 121,1] – und seht vorwärts: auf die paar nächsten offenen Stufen eures Weges! Und dann tretet fest auf eure Füße: dann fasst Mut! Dann seid sogar ein bisschen fröhlich – das alles genau da, wo ihr seid, und also mitten in der Angst, der großen Lebens- und Todesangst, die ihr zweifellos habt! […]“
Sicher kann niemand von sich aus aus eigener Erfindung, Einsicht und Entschließung getrost sein wollen, geschweige denn getrost sein. Ausnahmslos jeder kann das aber, indem er sich von Dem sagen lässt, dass er es darf und soll, der als wahrer Gottes- und Menschensohn selber in die Welt, in der wir Angst haben, hineingegangen ist, in ihrer Mitte selber die größte Angst gehabt hat – ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ [Mk 15,34] –, der eben damit diese Welt überwunden, sie mit Gott versöhnt und damit der Angst, die wir haben, eine Grenze gesteckt hat.“