Worin die bestehen soll, sagt der Titel: Er will nicht ein Christentum ohne Sünde – wer wollte das nicht? – , sondern ein Christentum ohne den Begriff der Sünde. Für die Reformatoren war die Kategorie der Sünde in der Tat zentral. Ohne sie hängt die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnaden in der Luft. Wenn man die Menschen nicht als Sünder sieht, kann man auch nicht einsehen, warum sie gerechtfertigt werden müssen. Huizing meint, all dies sei heute nicht mehr unser Problem. Vielmehr wollen wir wissen, wie unser Leben gelingen kann.
Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen markiert ein Wort, in das Huizing regelrecht verliebt scheint: die „Sündenverbiesterung“. Zu jeder Gelegenheit stellt er es in seinen Text. Leider verrät er nicht, was es bedeutet. Es muss wohl mit einer freudlosen Kindheit zu haben, der er den Stempel „Calvinismus“ aufdrückt. Huizing ist sich nicht zu schade, alle herumliegenden Klischees anzufassen, vom ausgemergelten Konterfei Calvins bis zum feist fröhlichen Luther. Dem allerdings wirft er auch Sündenverbiesterung vor und merkt gar nicht, dass seine Klischees nicht aufgehen. Der große Sündenverbiesterer Luther ist ein Genussmensch? Diese Unstimmigkeit irritiert den klischeeverliebten Autor jedoch nicht so sehr, dass ihm Zweifel an seiner Theorie von der Sündenverbiesterung kämen.
Was Huizing konstatiert, stimmt einfach nicht. Ich habe in keiner der verschiedenen Kirchen und Gemeinden, in denen ich gearbeitet habe, eine Mentalität oder eine Stimmung vorgefunden, die ich als „Sündenverbiesterung“ bezeichnen könnte. Die meisten Menschen in der Kirche sind fröhliche Zeitgenossen. Und die, die traurig sind, sind es sicher nicht deshalb, weil sie sich als arme Sünder fühlten.
Die Doktrin von der Erbsünde – von Augustin in die Welt gebracht und von den Reformatoren unhinterfragt übernommen – findet sich so in der Bibel nicht. Allerdings hat Huizing damit nichts Neues entdeckt. Doch wie viele, die sich großspurig Reformationen auf ihre Druckfahnen schreiben, schüttet Huizing das Kind mit dem Bade aus. Die alte Lehre, wonach die Sünde wie ein Gen-Defekt durch den Geschlechtsverkehr übertragen werde, liegt schon lange in der Mottenkiste des theologischen Kuriositätenkabinetts. Aber die Kategorie der Sünde ist immer noch hoch aktuell, meint sie doch nichts anderes als die Tatsache, dass nicht alles so ist, wie es es sein sollte, und dass daran auch der Menschen in erheblichem Maße schuld ist. Das kann ernsthaft niemand leugnen. Auch Huizing leugnet nicht die Tatsache der Sünde. Er möchte sie nur aus Angst vor Verbiesterung nicht so nennen. Statt von Schuld solle man lieber von Scham sprechen. Schuld neige zu Gewalt, Scham dagegen sei therapierbar. Huinzing spricht menschlicher Existenz jede Form von Tragik ab. Wir machen zwar Fehler, aber was immer die Ursache dieser Fehler ist – sie sei therapierbar. Man muss nur wollen. Selbstbeherrschung ist das neue alte Zauberwort. Die Erzählungen der Bibel sind für Huizing weisheitliche Anleitungen zur Selbstbeherrschung.
Aufgrund einer gänzlich antireformatorischen Anthropologie wird die Bibel zum weisheitlichen Ratgeber für gelingendes Leben. Wer jedoch aus der Bibel alles Eingefleischte rausdestilliert, kann nur noch ein wässrig veganes Süppchen auftischen.
Am Ende des Buches offenbart sich Huizing als veritabler Kulturprotestant. Er lobt die Kunst als Lebenstherapie und „Askesentraining“ und preist einen Film von Kaurismäki als sein eigentliches Evangelium.
Wer aber wie Huizing im Christentum am Ende nichts anderes sieht als ein Selbstbeherrschungsratgeber für Bildungsbürger, macht es zu einer ziemlich elitären Veranstaltung. Wer nicht Kaurismäki guckt, die Stoiker liebt und die Epikureer liest – allesamt Huizings Vorbilder – wird es mit den Segnungen des Christentums schwer haben. Da überzeugt auch kaum mehr, dass Huizing an Luther dessen angstfreies „Eliten-Bashing“ lobt.
Der Glaube, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, gewinnt erst durch die Behauptung des Paulus seine Plausibilität: Vor Gott sind alle Menschen Sünder! (Röm 3,22-23) Es gibt keine stärkere Elitenkritik als die egalitäre Zusammenfassung aller Menschen unter dem Signum der Fehlbarkeit, also auf niedrigstem Niveau. Die unantastbare Würde jedes Menschen bestimmt sich nach reformatorischer Theologie darin, dass alle von Gott aus Gnaden gerechtfertigte Sünder sind. Es gibt keine universalere und gleichzeitig höhere Würdigung des Menschen als diese! Aus diesem Glauben schöpfte Luther den Mut zur Elitenkritik. Und dieser Glaube bietet die beste Grundlage für „gelingendes Leben“: Dass wir uns unser Lebensrecht nicht verdienen müssen und daher ohne Leistungsdruck unseres Lebens froh werden. Wir brauchen keine neue Reformation. Die alte bietet genug gesellschaftlichen Zündstoff und reichlich Lebenshilfe, wenn man den Mut aufbringt, sich auf die Radikalität ihrer Theologie einzulassen.
Schluss mit Sünde! (Gebundene Ausgabe)
Warum wir eine neue Reformation brauchen
Klaas Huizinga
Kreuz Verlag
128 Seiten