reformiert-info.de: Frau Basso, welche Entwicklungen in der Friedensarbeit der Kirchen nehmen Sie in den letzten Jahren wahr, welche davon bei den deutschen Kirchen?
Martina Basso: Seit der „Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001 - 2010“ des Ökumenischen Rates der Kirchen wurde weltweit sehr viel angestoßen und ins Bewusstsein gebracht und realisiert. Manche Formen von Friedensarbeit oder von langfristigem Engagement wurde in der Dekade sichtbar gemacht. Ich denke an die unterschiedlichen Friedens- und Freiwilligendienste, mit denen junge Menschen in einer anderen Region der Welt, oft im globalen Süden, einige Zeit verbringen und ein Gespür für ganz andere Lebenssituationen und Herausforderungen bekommen. Oder die häusliche Gewalt gegen Frauen, die von manchen schon lange thematisiert worden ist, aber oft eher als privates Problem gesehen wurde. Nicht aber als strukturelle Gegebenheit, gegen die manches getan werden kann. In den verschiedenen Landeskirchen der EKD wurde sehr viel getan, um das Friedensengagement auf verschiedenen Ebenen zu unterstützen. „Kirche des gerechten Friedens werden“ ist Leitthema für die Badische Landeskirche, in Hessen-Nassau laufen ähnliche Bestrebungen, und die Bayrische Landessynode macht dies zum Schwerpunktthema. In fast allen Landeskirchen ist die Friedensarbeit breit aufgestellt. In den 80er Jahren gab es wenig Diskurse zwischen Pazifisten und der Militärseelsorge, das ist schon lange anders geworden. Das gegenseitige Misstrauen hat sich verringert, und an manchen Sachthemen zeigt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit.
Was ist für Christen und Christinnen, für Kirchen heute die wichtigste friedensethische Herausforderung?
Die prophetische Stimme wieder mehr zu Gehör zu bringen. Ich nehme eine große Suche nach einer vermeintlichen Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Diskurse wahr, und oft geht dabei der eigentliche Auftrag der Kirche verloren. Viele zivilgesellschaftliche Gruppen sagen viel deutlicher, was dran ist. Dabei müssten die Kirchen sich auf die Propheten besinnen und Recht und Gerechtigkeit einfordern. Statt dessen meinen die Kirchen oft, bunte Events und ein „Wohlfühlklima“ schaffen zu müssen um zu konkurrieren mit vielen kommerziellen Angeboten. Der biblische Auftrag, zu allererst für den Frieden einzutreten, wird dabei verwässert.
Was zeichnet eine Friedenskirche aus? Wie kann eine Volks-Kirche zur „Friedenskirche“ werden? Welche Schritte sind dabei hilfreich? Was heißt „Kirche des gerechten Friedens“ für uns?
Die Friedensethik ist die zentrale ekklesiologische Frage. Sie betrifft das Wesen von Kirche. „Friedensethik“ oder „Friedenstheologie“ wird oft als zusätzliches Arbeitsfeld betrachtet, neben Jugendarbeit oder Gottesdienst oder religionspädagogischer Arbeit in Kindertagesstätten. Dabei ist das ein Querschnittsthema. Jugendliche erleben verschiedene Formen von Gewalt, werden ausgegrenzt oder grenzen selber andere aus, beteiligen sich an rassistischer oder sexistischer Diskriminierung, sind von strukturelle Gewalt betroffen. Es ist notwendig, das bewusst zu machen und damit pädagogisch verantwortlich umzugehen. Kitaeltern erzählen aus ihrem Alltag, dabei wird deutlich, mit welchen gesellschaftlichen Herausforderungen viele konfrontiert sind und wie notwendig es ist, für ein friedliches Zusammenleben aller einzutreten. Das fängt dort an, wo wir fragen, ob die Teilhabe an der Gesellschaft für alle möglich ist oder was dem entgegensteht und welche nächsten Schritte dazu nötig sind. In manchen Gottesdiensten erleben Menschen, dass sie mit ihrer Lebenssituation nicht willkommen sind. Diese Ausgrenzung sichtbar zu machen und zu überwinden ist schon ein erster Schritt hin zu einer „Friedenskirche“. Notwendig ist es, über den Tellerrand zu schauen, sich konstruktiv verunsichern zu lassen. Den globalen Blick nicht zu verlieren, von anderen zu lernen und einander in vermeintlicher Unterschiedlichkeit sich zu begegnen. Und dann zu verstehen, dass mein billiges T-Shirt von Mädchen unter lebensbedrohlichen Bedingungen hergestellt worden ist. Oder dass mein Handy etwas mit dem Krieg im Kongo zu tun hat. Und manche Großkonzerne Menschen buchstäblich „das Wasser abgraben“, sodass Konflikte vorprogrammiert sind.
Wir sind umgeben von einer Gesellschaft, die sich immer säkularer zeigt. Welche Chancen und Gefahren sehen Sie da, wenn Kirchen sich auf den Weg machen, "Kirche des gerechten Friedens" zu werden?
Ich sehe große Chancen darin, über den eigenen Tellerrand zu schauen und Berührungsängste abzubauen. Manches können die Kirchen und Gemeinden ja organisieren, in ökumenischen Gottesdiensten oder in der Begegnung mit Friedensfachkräften oder beim Flüchtlingscafe. Da können die Kirchen zeigen, wofür sie stehen. Zivilgesellschaftliche Koalitionen sind hilfreich, manchmal auch nur punktuell und befristet. Wenn das politische Engagement keinen Bezug zur Spiritualität hat, wenn wir unsere Quellen und Traditionen nicht einbringen können, dann sind wir nicht mehr Kirche. Und wenn wir als Kirche unseren Auftrag für die Welt vergessen, dann werden wir nicht gehört. Manches Friedensengagement überzeugt und steckt an, wie die interreligiöse Chorprojekt aus Sarajevo, bei dem Menschen aus ehemals verfeindeten Gruppen miteinander singen und die Traditionen der jeweils anderen kennenlernen.