I. Abschied von Modellen der Trialog-Verhinderung
II.Der Gott Abrahams — der Gott Isaaks, Ismaels und der Völker
III. Jesus Christus bringt den Segen Abrahams in die Völkerwelt
IV. Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch
V. Die Ethik der Nachfolge Abrahams
VI. Epilog: Das Dialog-Modell der Nachbarschaft und WEG-Gemeinschaft
Drei kurze Vorbemerkungen sollen am Anfang stehen:
Erstens: Ich möchte zunächst die Formulierung des Themas ein wenig abändern. Statt »Abraham eint und scheidet« möchte ich lieber formulieren: Abraham eint und (unter)scheidet.
Zweitens: Ich fühle mich dem sachlich sehr nahe, was Prof. Dr. A. Falaturi, Köln, referiert hat [2], und werde selber in diese Richtung weitergehen und am Ende meiner Ausführungen nicht zufällig auf Falaturis »Appell« zurückkommen: Die Rückkehr zu den Quellen gibt uns einen größeren Freiraum. Auch ich möchte zu diesen zurückführen und fragen, ob von diesen Quellen her — nicht biblizistisch-fundamentalistisch, aber von einem biblischen Fundament her — Perspektiven neu zu entdecken sind, die wir bisher nicht gesehen und übersehen haben.
Drittens: Mir ist an dem Korreferat meines Freundes Rabbiner Prof. Dr. Jonathan Magonet, London, klar geworden, welchen Verlust an Spiritualität wir ohne eine lebendige liturgische Abraham-Tradition zu beklagen haben, auch an liturgischer Spiritualität, und wie kalt und apathisch wir Christen und Christinnen mit der Abraham-Tradition meistens umgehen.
Der bekannte Dichter und Pfarrer Jörg Zink aus Süddeutschland hat aus Anlaß seines 70. Geburtstags zu dem konfessionellen Gott der Lutheraner, Katholiken und innerchristlichen Konfessionen gesagt: Der Gott nur der Lutheraner und nur der Katholiken und nur der Protestanten ist ein Götze. Und er hat dann im Hinblick auf die großen sog. Weltreligionen hinzugefügt:
»Der Gott, der nur für das Christentum zuständig ist, ist ein Götze.« Deshalb brauchen wir den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen. »Wir müssen heute von dem Gott sprechen, der für die ganze Welt und ihre ganze Geschichte und Schöpfung zuständig ist [3].« Ist doch Gott kein Partikulargott von Partikularinteressen, sondem der an der ganzen Menschheit, der ganzen Geschichte und der ganzen Schöpfung interessierte und mit ihren Leiden und Hoffnungen mitgehende Gott.
In ähnlicher Weise hat sich auch die 1991 erstmalig erschienene Evangelische Zeitschrift »Dialog der Religionen« ausgesprochen: »Zum Dialog mit den Religionen gibt es heute keine Alternative. Die Gefährlichkeit von religiösem Fanatismus, Mißverstehen und Arroganz wird in diesen Monaten (es ist die Zeit des Golfkrieges mit ihrem Verkennen der realen Israelbedrohung und der Stilisierung des Golfkrieges zu einer epochalen Auseinandersetzung zwischen der christlichen Welt und dem angeblich aggressiven Islam) überdeutlich bewußt. Spannungen und Haß zwischen den Religionen entladen sich auch in politischen Konflikten und umgekehrt«.
Die Herausgeber stellen sodann die Frage: »Können die Religionen überhaupt etwas zum Frieden beitragen?«. Und antworten: »Trotz der fast unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten ist der Dialog lebensnotwendig. Dies gilt um so mehr, da sich gleichzeitig mit den religiösen und politischen Konflikten die Menschheit ihrer Einheit bewußt wird. Das ist eine befreiende Erfahrung, die unser individuelles und kulturelles Selbstbewußtsein bereits verändert hat. Angesichts der Probleme unserer Zeit wird diese Erfahrung aber auch immer wieder angefochten [4].« Aber wo finden wir den Punkt, von dem aus wir diesen Dialog führen oder weiterführen können? Denn dieser Ausgangspunkt entscheidet bereits über das Ziel, das wir anstreben.
Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Köln hat gut daran getan, mit dem Thema einen Einsatzpunkt vorzugeben, dem wir uns zu stellen haben und dem ich mich als christlicher Theologe stellen möchte: »Abraham eint — Abraham (unter)scheidet.«
Ist die Existenz von drei Weltreligionen, die sich auf Abraham berufen, eine Erfüllung dieses Segens? "Ich will segnen, die dich segnen!" Daß die Juden die Treue zu Abraham bewahrt haben, ist bis in die Gegenwart erkennbar. Aber wir Christen haben kein Fest, das sich auf Abraham bezieht, kennen keine liturgischen Formen, die ihn präsent machen, kennen keinen liturgischen Gruß, der auch Abraham einbezieht. Die Muslime aber beziehen sich auf Abraham, wenn sie auf ihrer großen mekkanischen Pilgerreise nicht in die Stadt Mohammeds, das wäre Medina, sondern in die Stadt Abrahams ziehen, um dort seiner zu gedenken und den letzten übrig gebliebenen Stein des Gotteshauses zu küssen, das Abraham einst — nach ihrer Tradition — errichtete. Sie gedenken in einer großen Feier der verhinderten Opferung des einzigen geliebten Sohnes und laden, wie es in der Türkei heißt, zum Bayram-Fest ein. Zu diesem Fest laden sie nämlich die armen Nachbarn ein, um mit ihnen zufeiern und Abrahams zu gedenken [5].«
Wir Christinnen und Christen lassen uns demgegenüber — sagt Sundermeier weiter — nur eben noch von einem Liedvers des Joachim Neander in unserem Gesangbuch an Abraham erinnern: »Lob' ihn mit Abrahams Samen« (EKG 234,5). Und dieser Liedvers wird im katholischen Gesangbuch »Gotteslob« (258,4) unter Ausschaltung des Abraham-Bezuges und des Abraham-Namens so abgewandelt: »Lobt ihn (Gott) mit allen, die seine Verheißung bekamen« (Gotteslob 258,4). Über Sundermeier hinaus habe ich nur zwei weitere Belege in unserem Gesangbuch über Abraham gefunden: Und zwar zunächst aus reformierter Tradition, wo es heißt: »Der Bund, der Abrahams Hoffnung war, steht jetzt noch da unwandelbar« (Genf 1562, EKG 462,4). Sodann in dem bekannten Lied »Herzlich lieb hab ich dich o Herr«, wo es heißt: »Ach Herr, laß dein lieb Engelein / an meinem End die Seele mein / in Abrahams Schoß tragen« (EKG, 247,3).
Unser Thema ist keine akademische Spielwiese: »Anläßlich der Tagung "Juden-Christen-Muslime in einer Welt" am 1. und 2. Dezember 1992 in Köln wurde von vierhundertzwanzig TeilnehmerInnen zum Abschluß eine Resolution gegen den Krieg im früheren Jugoslawien verabschiedet. Die Anwesenden verurteilen die Gewalttaten und fordern eine sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen. Sie äußern ihr Entsetzen und ihren Abscheu angesichts der Not und des Elends der betroffenen Menschen, besonders in Bosnien-Herzegowina.
»Wir appellieren an die kriegführenden Parteien und die Politiker, die moralischen Werte ihrer jeweiligen Religionen höher zu achten als alle nationalen und ethnischen Unterschiede und den Haßgefühlen nicht nachzugehen.
Mit Erschütterung haben wir von den Schandtaten gegenüber den muslimischen Mädchen und Frauen erfahren. Wir erklären unseren Abscheu. Die Lehren von Auschwitz verpflichten uns, gegenüber diesen Verbrechen nicht zu schweigen. Wir werden auch zukünftig nicht aufhören, die Verantwortlichen öffentlich anzuklagen und unsere Regierung zu schärfsten Protesten und Sanktionen gegenüber den Tätern, ihren Auftraggebern und Sympathisanten aufzurufen.
Alltäglich betrifft es uns, die wir mit Juden in ein und derselben Stadt zusammenleben und deren Synagoge wir besuchen dürfen: So waren meine Frau und ich im November 1992 zwei Tage nach der Schändung des jüdischen Friedhofes in Wuppertal-Barmen von dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde eingeladen. Herr Bleicher hat uns an dem Abend gesagt: »Ich habe mich immer als Deutscher Jude gefühlt. Seit den Vorfällen der letzten Jahre fange ich wieder an, mich als Jude in Deutschland zu fühlen.« Und er sagte dann: »Ich habe mein Grab auf dem Elberfelder Friedhof, und ich hoffe, daß ich dort begraben werden kann, neben meiner ersten schon verstorbenen Frau, die mit mir den Weg durch viele KZs gegangen und frühzeitig verstorben ist. Ich fürchte aber, daß ich im Ausland begraben werden muß. Ich bin damals unter dem Gejohle der Menge zum Bahnhof abtransportiert worden. Wenn ich das Gejohle der Neonazis heute höre, dann werde ich wieder daran erinnert [6].«
Hier geht es aber auch um eine praktische gesellschaftliche Herausforderung. Ich verfolge mit großem Interesse seit Jahren ein konkretes Projekt des CVJM Hagen. Dieser CVJM versucht, muslimische Jugendliche, Jugendgruppen, ja auch einen Fußballclub in seine Gemeinschaft zu integrieren: ein deutliches Zeichen, daß hier eine Solidarität bis in ganz konkrete praktische Modelle des öffentlichen Lebens hinein besteht [7]. Und sie haben nun als Christen und Christinnen mich gefragt: »Wir tun das aus Humanität und Gastfreundschaft. Kannst Du uns eigentlich von der Theologie her sagen, warum wir das nicht nur als Menschen tun, sondern warum wir es als Christinnen und Christen tun sollen?« Meine Ausführungen sind auch darauf der Versuch einer Antwort.
Der ägyptisch-islamische Gelehrte Fuad Kandil sagt: »Davon, daß die Muslime hier in der Bundesrepublik ... als gleichwertige Partner im Glauben an den einen Gott, an den Gott Abrahams, betrachtet und eingestuft werden, kann wirklich keine Rede sein. Daher meine Frage an die Christen: Sehen Sie eine Möglichkeit, die Muslime im Rahmen Ihres 'religiösen Systems' oder Ihres 'religiösen Paradigmas'... einzustufen? [8].«
These 1: Die Exklusivitätsansprüche und Überlegenheitsideologien der Religionen werden keine Zukunft haben. Weder (1) ein Judentum und Islam ausschließender christlicher Fundamentalismus noch (2) das Verständnis des Christentums als absoluter Religion, aber (3) auch nicht das Stufendenken der Aufklärung (Lessing), einer Humanität ohne jüdische, christliche und muslimische Identität (E. Simon). — Zukunft wird nur haben die Rückkehr zu einem identischen Judentum, Christentum und Islam, die sich gemeinsam den sozialen und humanen Herausforderungen der Gegenwart stellen — im gemeinsamen Zusammenleben und Eintreten füreinander.
Ich habe in meiner Schrift »Israel und die Kirche« (1980) die Modelle für die Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel dargestellt und kann mich deshalb hier kurz fassen. Da hieß es: Die Kirche ersetze die Synagoge, weil das Neue Testament die Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen sei. Oder: die Kirche als das wahre Israel integriere die Judenchristen. Das Judentum aber selber bleibe außerhalb. Oder: die Kirche repräsentiere das Heil endgültig, das lediglich auf einer Vorstufe von Israel dargestellt worden sei. Und schließlich: die Synagoge, das Judentum, sei die Negativ-Folie der Kirche, von der sich die christliche Kirche positiv abhebe. Das Judentum repräsentiere das Gericht und die Gerechtigkeit, die Kirche die Gnade; dem Judentum gelten die Gerichtsanklagen der Propheten, die Kirche lebe von den Verheißungen der Vergebung. Die Synagoge sei mit Blindheit geschlagen, die gekrönte Kirche mit dem Sehen der Wahrheit und des Lichtes begabt [9] Herr Falaturi hat aus Schülerbefragungen zu Islam und Christentum über entsprechende Stereotype anschaulich berichtet.
Dieses Modell ist erstmals von den Apologeten im 2. Jahrhundert, sodann noch einmal von E. Troeltsch in seinem Buch »Die Absolutheit des Christentums und die Religionen« (1902) und zuletzt in umfassender Weise von dem Münchener Systematiker Wolfhart Pannenberg entfaltet worden. Dieses Modell erscheint auf den ersten Blick sehr dialogfreundlich, weil es das Christentum zunächst als Religion im Rahmen der Religionen betrachtet. Theologie wird verstanden als eine alle Religionen und die ganze Philosophie umgreifende Denkbemühung. Theologie unterzieht sich der Mühe, alle Religionen nach dem ihnen zugrunde liegenden Wahrheitsanspruch zu befragen. Und Theologie ist darin offen für die Wahrheitsmomente in den anderen Religionen.
Aber: Diese Theologie der Religionen dient schließlich doch nur dem Ziel, das Christentum bzw. die christliche Offenbarung als absolut und als allen anderen Religionen überlegen zu erweisen, d.h. aufzuzeigen, wie die christliche Offenbarung die Wahrheitsmomente der anderen Religionen in einem umfassenderen Rahmen zu inkludieren und zu integrieren vermag.
»Ich kann die Verdienste eines anderen und meinen Wunsch, von ihnen zu lernen, noch so hoch stellen — wenn ich von vornherein davon überzeugt bin, daß seine Wahrheit letztlich nur insoweit verdienstvoll ist, als sie in meiner eingeschlossen und enthalten ist und von ihr erst voll zur Geltung und Erfüllung gebracht wird, dann kann solch ein Dialog ... nur noch wie ein Gespräch zwischen Katz und Maus enden. Wie fein und gefällig ich es auch umkleide, entweder mein 'letztes Wort' verneint das Wort des anderen, oder es weist ihm eine mindere Bedeutung zu. Noch einmal bildlich ausgedrückt: Voll zu ihrer Erfüllung kommt die Maus erst, wenn sie im Bauch der Katze eingeschlossen ist [15].«
Das Modell der Toleranz ohne Identität ist das Modell der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Es ist das Modell Gotthold Ephraim Lessings. Die Abgrenzung auch von diesem Modell der Aufklärung muß zunächst überraschen. Denn die Aufklärung soll im folgenden nicht etwa diskreditiert werden. Im Gegenteil! Sie hat eher eine bestimmte zu benennende Grenze, die uns nach Auschwitz zum Bewußtsein gekommen ist. Nur um das Benennen dieser Grenze, nicht etwa um die Diskreditierung der Aufklärung als solcher, kann es hier gehen.
In der Zeit des Golfkrieges, d.h. der Zeit der Existenzbedrohung des Staates Israel und des Wiederauflebens eines weltgeschichtlichen Gegensatzes zwischen dem angeblich zurückgebliebenen, konservativen islamischen Morgenland und dem angeblich so christlich-freiheitlichen, friedensbewegten Abendland, habe ich im Jahre 1992 in mehreren Theateraufführungen von Lessings »Nathan« die Bedeutung und Faszination der Aufklärung für den Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen miterleben können. Ich habe die Aufführungen in Frankfurt und Wuppertal vergleichen können.
In Wuppertal noch auf dem besonderen Hintergrund, daß mit Beginn des Golfkrieges die Schauspieler und Schauspielerinnen Tag und Nacht, immer abwechselnd, von verschiedenen Podesten Stücke aus der Hebräischen Bibel, dem Neuen Testament und dem Koran vorgetragen haben — unter großer Beteiligung und Präsenz von Menschen, die hier Bibel und Koran erstmalig nacheinander und miteinander bewußt hören konnten. Ein wirklich ökumenischer Beitrag zur Friedensfrage von außerhalb der Kirchen, auf dem Forum der Bühne und des Theaters. Auch das ist eine Fernwirkung von Lessings »Nathan«.
Ich hebe drei Punkte heraus:
Der Leo-Baeck-Schüler Ernst Simon, Mitarbeiter beim jüdisch-christlichen Dialog auf dem Kirchentag damals hier in Köln, hat 1929 einen kleinen Aufsatz geschrieben: »Lessing und die jüdische Geschichte«. Sein Fazit zu Lessings »Nathan« ist im ganzen kritisch: Nicht einmal die Ringparabel hätte Mendelssohn von sich aus verwendet. Aus dem Munde eines Nichtjuden hätte er sie vielleicht gelten lassen. Nach Auschwitz, nach der Shoah, gilt um so mehr:
In einer viel beachteten Vorlesung über das Janusbild der Aufklärung unter dem Titel »Nathan der Weise aus der Sicht nach Auschwitz« hat Walter Jens 1991 in Tübingen geurteilt:
»Folge der Emanzipation, die mit Moses Mendelssohns Wirksamkeit einsetzte, war letztlich die Preisgabe der jüdischen Identität zugunsten der deutschen. In Anbetracht dessen stellt sich dann aber die Frage..., ob denn überhaupt eine deutsch-jüdische Symbiose bestand, eine Gemeinschaft im Sinne des Gebens und Nehmens [20]«
Deshalb ist es nicht überraschend, daß Lessing schon ein Jahr nach der Schrift »Nathan der Weise« im Jahr 1780 die Schrift »Erziehung des Menschengeschlechts« veröffentlichte.
Für Lessing sind hier die Schriften der Hebräischen Bibel lediglich die erste Stufe der Erziehung, ein Elementarbuch für Kinder, für das rohe und im Denken ungeübte israelitische Volk. Dieses Elementarbuch, also die Hebräische Bibel, gilt vornehmlich nur für ein gewisses Alter der Menschheit. Das diesem Kindesalter entwachsene Kind länger dabei verweilen zu lassen, ist schädlich. Und nun höre man die Fortsetzung ein Jahr nach dem »Nathan«: Das Kind länger als nötig bei der Hebräischen Bibel verweilen zu lassen, »das gibt dem Kind einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand. Die nämliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten. Der nämliche (schiefe, spitzfindige) Charakter, den sie dem Geist ihres Volkes dadurch erteilten [21]«
Auf das Judentum folgt als die zweite Stufe der sittlichen Erziehung das Christentum: »Ein besserer Pädagoge mußte kommen, um dem Kinde das erschöpfte (alttestamentliche) Elementarbuch aus den Händen zu reißen: Christus kam «[22]. Aber auch dieses Elementarbuch wird einmal überflüssig werden. Denn dieses zweite Zeitalter, das des Christentums, wird abgelöst werden durch ein drittes Zeitalter, nämlich »die Zeit der Vollendung, da der Mensch das Gute tun wird, weil es das Gute ist« [23]. Der Diffamierung des Talmud als spitzfindig-kleinlich steht das Schweigen dem Koran gegenüber zur Seite. Fazit: Die Religionen — Judentum, Christentum und Islam — sind nach Lessings »Erziehung des Menschengeschlechtes« nur Durchgangsstufen zur wahren Humanität des Menschengeschlechtes. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung vom sinnlichen Juden über den geistigen Christen hin zum humanen, aufgeklärten Menschen [24].
Was wir von Lessing bewahren sollten, ist erstens sein Hinweis auf die drei Epochen der Offenbarung. Versteht man die drei Epochen der Offenbarung nicht so, wie Lessing sie verstanden hat, daß nämlich die nächsthöhere Stufe die vorherige als die niedrigere Stufe überwindet. Versteht man sie vielmehr als Weg der Offenbarungsgeschichte Gottes, in der alle Momente und Elemente weiterhin gegenwärtig bleiben, so könnte sich für das Verständnis von Juden, Christen und Muslimen aus diesen Periodisierungen heraus Wichtiges ergeben: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs — das Judentum; Jesus Christus als der Abrahamsohn — das Christentum; und die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch — der Islam als Abraham-Gemeinschaft. Von dieser Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch redet Lessing im Anschluß an Joachim von Fiore. Ich komme auch auf diesen Punkt später zurück.
Wir wollen zweitens Lessings Plädoyer für Aufklärung und Humanität nicht in Vergessenheit geraten lassen. Lessing könnte über den Hinweis auf den Gott Abrahams und über die Periodisierung der Offenbarungsgeschichte Gottes hinaus an ein Element erinnert haben, das die lutherisch-orthodoxe Christenheit seiner Zeit vergessen hatte und das Hans Joachim Iwand, Theologe aus der Bekennenden Kirche und Liebhaber der Aufklärung, als notwendig zu erinnerndes Erbe Lessings in die folgenden Worte gekleidet hat:
»Müßte nicht die Kirche heute die im Bereich des Politischen bedrohte oder auch verlorene und geschändete Toleranz neu begründen? Müßte sie nicht lebendige Zeugnisse einer solchen Toleranz aufrichten? Müßte es nicht etwas bedeuten, auch im Bereich des Politischen, daß Christus [als der Abrahamsohn] für alle Menschen gestorben ist?« Weiter: »Kam die Intoleranz der Reformationskirchen vielleicht daher, daß sie nur eine begrenzte Versöhnung des Menschengeschlechts [nur wenig Erwählte, die Mehrheit verworfen] lehrten, und mußte darum die Aufklärung eingreifen, indem sie einen universalen Begriff des Menschen und seiner Würde aufstellte [25]?« Fazit: Wir werden die Aufklärung und Lessings Plädoyer für die eine ungeteilte Menschheit nicht aufgeben dürfen. Wir werden aber auch den jüdischen Einspruch von Ernst Simon — und ich frage: Gibt es auch einen islamischen Einspruch gegenüber dem »Nathan«? — erinnern müssen, einen Einspruch nicht gegen die Humanität und Toleranz, sondern gegen eine Humanität und Toleranz ohne jüdische, ohne christliche und ohne muslimische Identität.
These 2: An die Stelle der ausschließenden Kategorien von absoluter »Erfüllung«, »Vollendung« und »definitiver Endgültigkeit« muß als kategorialer Bezugspunkt von Judentum, Christentum und Islam die Gestalt und Geschichte Abrahams treten und damit die ihm geschenkte Segensverheißung: (1) für Isaak, den Ersterwählten (Judentum), (2) für Ismael, den Erstbeschnittenen und im Bund Gesegneten (Islam), (3) für die Christenheit aus den Völkern als die durch Jesus Christus Hinzuerwählten und Mitgesegneten (Christentum). — Der Gott Abrahams und der Sarah ist auch der Gott Ismaels und der Hagar und ist auch der Vater Jesu Christi und der Maria. — Die Mehrdimensionalität der Segensverheißung an Abraham schließt einen Rückgang auf Abraham unter Verneinung der anderen Verheißungsadressaten aus. Ein exklusiver Rückgang auf Abraham verstümmelt uns alle religiös, ja wir drohen uns selber von der Abrahamverheißung auszuschließen. — Der mehrdimensionale Abrahamsegen kann von Juden, Christen und Muslimen nur gemeinsam ergriffen und im gemeinsamen Dienst an der einen Menschheit weitergegeben werden.
Das Vaticanum II hat im Jahr 1965 grundlegend formuliert:
»Auch auf die Muslime blickt die Kirche mit Wertschätzung, denn sie verehren den einen Gott, der lebt und bleibt, der barmherzig und allmächtig ist, den Schöpfer des Himmels und der Erde und Sprecher zu den Menschen. Sie (die Muslime) streben danach, sich von ganzem Herzen sogar seinen unerforschlichen Befehlen zu unterwerfen, so wie es Abraham tat, mit dem sich der islamische Glaube besonders verbunden fühlt [26].«
Smail Balic hat über diese Erklärung sehr positiv geurteilt: »Diese von kompetenter kirchlicher Seite erstellte Islam-Darstellung (des Vaticanum II) hat in der katholischen Welt einen wahrhaft revolutionären Gemütswandel in bezug auf die Beurteilung des Islam herbeigeführt. Sie hat eine fremde Religion dem christlichen Menschen näher gebracht«. Balic folgert: »Mir scheint, daß der Dialog — von islamischer Seite her gesehen — dann eine [36] ökumenische Dimension hat, wenn er mit anderen monotheistischen Gemeinschaften geführt wird. Der Islam ist von Haus aus dem Judentum und dem Christentum gegenüber offen [27].«
Ich möchte die Aussagen des Vaticanum II aufgreifen, sie aber weiterführen, weil im Vaticanum II die Frage, ob Muslime und Christen zu demselben Gott beten, nicht beantwortet wird und weil auch im Vaticanum II eine Aussage über den Koran und Mohammed fehlt.
Der Gott Abrahams ist der Gott Isaaks, Ismaels und der Völkerwelt: In Gen 12 kommt es zu einer umfassenden Segensaussage für die Nachkommen Abrahams, für das Volk Israel. Aber über Isaak, d.h. Israel hinaus, ist auch Ismael Teilhaber der Segensverheißungen Abrahams: »Und ich will dich zu einem großen Volk machen [28].«
Die dritte Dimension der Segensverheißung gilt der Völkerwelt: »In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde [29].« Auf dem Hintergrund der Fluchgeschichte bis zum Turmbau von Babel verheißt Gott durch Abraham über Israel und Ismael hinaus eine Segensgeschichte auch für die Völkerwelt. Nach Gen 12, 1ff ist Gott nicht nur der Schöpfer (wie im Vaticanum II), sondem der Gott Abrahams, der die Teilhabe an dem Segen Abrahams in drei zu unterscheidenden, aber nicht trennbaren Dimensionen verheißt. Ja wir müssen noch einen Schritt weitergehen: die Hebräische Bibel spricht nicht nur von einer Beziehung Ismaels zum Schöpfergott, wie sie für alle Völker besteht, sondem viel intensiver von der Beziehung Ismaels zum Gott des ungekündigten Bundes.
Die katholischen Theologen Norbert Lohfink und Erich Zenger haben in ihren Arbeiten zur Hebräischen Bibel überzeugend und nachdrücklich von dem niemals gekündigten Bund Gottes mit Israel gesprochen. Damit haben sie Martin Bubers 1933 wehrlos ausgesprochenes, dennoch richtiges und überlegenes Plädoyer für das Wissen Israels um den ungekündigten Bund Gottes mit Israel aufgenommen und weitergeführt: Der Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt. Das ist ein Essential und die Basis des heutigen christlich-jüdischen Dialogs.
Aber nach dem 1. Mosebuch ist nicht nur Isaak/Israel, sondem ist,,auch Ismael/Islam Teilhaber dieses niemals gekündigten Bundes und seiner Bundesverheißung. Ismael ist nach Kapitel 17 in den Bund Gottes mit Abraham hineingenommen, ja er ist sogar vor Isaak beschnitten worden:
»Das ist aber der Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen. Alles was männlich ist, soll beschnitten werden. Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und beschnitt ihn, noch am selben Tage, wie Gott ihm befohlen hatte. Sein Sohn Ismael war 13 Jahre alt [30].« Am selben Tag wurden Abraham und sein Sohn Ismael beschnitten, erst danach erfolgt die Verheißung der Geburt Isaaks.
Michael Wyschogrod (USA) hat auf der Berliner Sommeruniversität 1991 von der Sympathie der Genesis-Texte für Hagar und Ismael gesprochen. Der Gott Abrahams hört das Schreien der unterdrückten Hagar, die heute in Gestalt der vergewaltigten muslimischen Frauen in Bosnien schreit. Der Israel erwählende Gott ist zugleich der Parteigänger für Ismael und Hagar, auch wenn dies die bleibende Ersterwählung Israels nicht aufhebt. Die Ersterwählung läuft — der Hebräischen Bibel zufolge — nicht über Hagar und Ismael, sondern über Sara und Isaak. Die Abraham-Gemeinschaft des Islam aber wird über Ismael, den Erstbeschnittenen, teilhaben an der Segensgeschichte dieses Abrahambundes, wie auch die Völkerwelt durch Jesus Christus teilhaben wird an der Segensgeschichte dieses Bundes.
Wenn die Hebräische Bibel in dieser umfassenden Weise Ismael an den Segensverheißungen für Abraham beteiligt sein läßt, ihn in den Bund Gottes mit Abraham sogar als Ersten und Erstbeschnittenen einbezieht, und wenn der Gott Abrahams in dieser Sympathie, d.h. in diesem das Schreien der Hagar erhörenden Mitleiden sich Ismael und Hagar offenbart, dann wäre zu fragen: Warum bekennen wir uns heute in unseren Gottesdiensten — den richtigen Hinweisen der feministischen Theologie folgend — zwar zum Gott Abrahams und Saras, zum Gott Isaaks und Rebekkas, nicht aber auch in gleicher Weise zum Gott Ismaels und Hagars? Denn der Gott Abrahams und Saras ist immer auch der Gott Ismaels und Hagars. Die Selbigkeit dieses Gottes Abrahams, des Gottes Isaaks und Ismaels, kann von der Hebräischen Bibel her nicht offen gelassen werden, wie es das Vaticanum II und die Ökumene in Genf leider noch tun.
In dem heute angezeigten Rückbezug von Juden, Muslimen und Christen auf Abraham steckt ein Problem, das aus der Mehrdimensionalität der Segensverheißung Gottes an Abraham folgt: (1) aus der Segensverheißung an Isaak, (2) aus der Segensverheißung an Ismael und Hagar und (3) aus der Segensverheißung an die Völkerwelt, aus der wir Christinnen und Christen stammen. Das Problem ist das folgende: Wir gehen sehr oft — und die verschiedenen Adressaten der Segensverheißungen an Abraham haben das meistens getan und tun es weitgehend bis heute — auf Abraham zurück, indem wir zugleich die anderen Segensadressaten, die anderen Segensträger und deren andere Segensgeschichte ausdrücklich oder heimlich übergehen: Abraham ist dann nur Isaaks Vater und also nur der Juden Gott. Abraham ist dann nur der erste und urbildliche Muslim, und Abraham ist dann — und darauf komme ich gleich zu sprechen — nur der erste Christ, der — reformatorisch gesprochen — allein von der Rechtfertigung des Gottlosen lebt.
Die Mehrdimensionalität der Segensverheißung Gottes an Abraham (Gen 12, 1ff) hält uns aber dabei fest, daß ein Rückgang auf Abraham bzw. den Gott Abrahams unter Umgehung der anderen Verheißungsadressaten legitimerweise nicht unternommen werden darf. Die Segensverheißung an Abraham kann nur in ihrer Dreidimensionalität erkannt werden, oder sie wird überhaupt nicht erkannt. Die exklusive Begrenzung auf nur eine Dimension verstümmelt uns religiös und schließt uns am Ende von der Abrahams-Verheißung aus. Der Abraham-Segen kann in dieser Mehrdimensionalität nur gemeinsam von Juden, Muslimen und Christen ergriffen und heute nur gemeinsam an die Menschheit weitergegeben werden.
These 3: Die Sendung Jesu Christi und sein Isaak-Weg bis zum Kreuz (AQEDA) geschieht im Rahmen der Abrahamverheißung. Durch Christus wird Abraham auch zum Vater der Glaubenden aus allen Völkern (Röm 4,16). — Die Christenheit aus den Völkern nimmt teil am Segen Abrahams durch Jesus, den Juden, den David- und Abrahamsohn (Mt 1, 1), der als der verheißene Messias des Gottes Israels, als Prophet und Knecht Gottes den Isaak-Weg geht (Mk 1,11; 12,6) und so den Segen Abrahams in die Völkerwelt hinein vermittelt. Sein Kreuz steht — wie die Geschichte Abrahams — im Wendepunkt von der Fluchgeschichte der Menschheit (Gen 3-11; Gal 3,13) zur Segensgeschichte für die Menschheit (Gen 12,1ff; Gal 3,14). — Da Christus gekommen ist, um die den Vätern und Müttern gegebenen Verheißungen zu bekräftigen und festzumachen (Röm 15,8ff), nicht aber zu beseitigen, gilt dies auch für die der Abraham-Gemeinschaft in Ismael gegebenen Segensverheißungen (Gen 16f). — Eine durch Christus in den Raum der Abrahamverheißungen verwiesene ökumenische Theologie wird deshalb in ihrem Wirklichkeitsverständnis vier Größen in eine unauflöslich-praktische Beziehung zueinander setzen: (1) das Israel-Volk, (2) die Abraham-Gemeinschaft der Muslime, (3) das ökumenische Christusvolk aus allen Nationen, — alle mit und in Abraham erwählt zum Dienst der Humanität (4) an den Völkern, d.h. in und mit Abraham berufen zum Eintreten für die eine und unteilbare Menschheit.
Der Gott Abrahams, Isaaks und Ismaels — das ist ein Essential des Neuen Testaments und definiert uns Christinnen und Christen — ist der Vater Jesu Christi, und Jesus Christus ist sein messianischer Sohn. Dieser hebt die Segensverheißungen an Abraham aber nicht auf, sondern bekräftigt sie durch seine Sendung und sein Leiden bis zum römischen Foltertod am Kreuz. Deshalb steht die Sendung Jesu Christi vor allem im Rahmen der Abraham-Verheißung für Israel und ist eine jeweils verschiedene — für Israel, für die Christenheit und für die Muslime. Das möchte ich im folgenden entfalten.
III.1 Die Sendung Jesu Christi im Horizont der Abrahamverheißung (Mt 1,1)
Erstaunlicherweise in seiner theologischen Bedeutung von der Christenheit weitgehend verdrängt, beginnt der erste Satz des Neuen Testaments mit einem Stammbaum von 3x 14 Generationen, der die Geschichte Jesu Christi zunächst in die messianischen Hoffnungen Israels und des Judentums einbettet. Leo Baeck, Repräsentant des europäischen Judentums vor und nach Auschwitz, nach der SHOAH, hat in seiner Schrift »Das Evangelium als Urkunde jüdischer Glaubensgeschichte« (1938) und in dem in seinem Todesjahr gehaltenen Vortrag »Judentum, Christentum, Islam« (1956) dazu Wegweisendes gesagt: Die Jünger und Jüngerinnen haben Jesus als den verheißenen Messias des Gottes Israels verstanden, der die messianischen Verheißungen des Gottes Israels erweckt, bekräftigt und anfangend realisiert (Apg 10,36ff). Jesus Christus wird aufgrund der Hall-Stimme vom Himmel (Mk 1, 11) als der messianische Sohn Gottes insofem bekannt, als sich in ihm die Wirklichkeit und Wahrheit des Volkes Israel, das zuerst und von Haus aus »Sohn Gottes« genannt wird, verdichtet und verpersönlicht.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang weiter, daß auch Israel seinen König-Messias in den Horizont der Segensverheißungen an Abraham hineingestellt hat: Der messianisch interpretierte Königspsalm 72 schildert die Hoffnungen Israels und bekennt, daß der Segen Abrahams durch den messianischen König in die Völkerweit vermittelt wird: Er — dieser messianische König — erbarmt sich des Geringen und Armen, den Seelen der Armen hilft er, von Druck und Gewalttat erlöst er sie, und ihr Blut ist kostbar in seinen Augen. Sein — des Königs — Name soll ewiglich bleiben und »mit seinem Namen (also dem des messianischen Königs) sollen sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde, alle Völker sollen ihn glücklich preisen [31]«.
Indem nun aber Jesus Christus, der verheißene Messias (Mt 1,1a), auch als Sohn Abrahams kommt und wirkt (Mt 1,1b), wird deutlich: Als der verheißene Messias Israels des Gottes Israels, der gekommen ist, um die den Vätem gegebenen Verheißungen zu bestätigen (Röm 15,8), steht Jesus im Raum der Abraham-Verheißungen, kommt er als Mittler zwischen Israel und den Völkern, um die den Vätern gegebenen Verheißungen Israel gegenüber zu befestigen und an die Völkerwelt zu vermitteln (Röm 15,8f).
Der erste Satz des Neuen Testaments, Mt 1,1, will also zusammen mit dem letzten Abschnitt des Matthäus-Evangeliums, Mt 28,16-20, verstanden werden: Die Christenheit aus allen Völkem nimmt durch Jesus Christus, den verheißenen messianischen Befreier Israels und der Völker, teil am Segen Abrahams für Israel, für Ismael und die Völkerwelt.
III.2 Das Leiden Christi im Raum der Abrahamverheißung (Gal 3,13f)
Jesus ist nach Mk 1,11 durch die Stimme Gottes bei seiner Berufung nicht nur zum messianischen Sohn gesalbt worden: »Du bist mein Sohn«, sondern die Stimrne vom Himmel enthält ein weiteres Element, das meistens überlesen und ausgeblendet wird, nämlich: »Du bist mein Sohn, der Geliebte«. Diese Aussage verweist uns auf Gen 22,2: Gott sprach zu Abraham: »Nimm deinen Sohn, den einzigen, den du lieb hast, den Isaak«. Der Isaak-Weg, den Jesus als der einzige Sohn, der Geliebte, bis zum römischen Folterkreuz geht, stellt das Leiden und die Kreuzigung Jesu in den Zusammenhang der Bindung Isaaks, des jüdischen AQEDA-Leidens. Ein Zusammenhang, der von den Leiden der jüdischen Märtyrer der Makkabäer über die Verfolgungen des Mittelalters bis zur SHOAH reicht.
Im Gleichnis von den Weinbergpächtern (Mk 12,Iff) heißt es im Anschluß an die göttliche Sendung der verfolgten und getöteten Propheten Israels in Mk 12,6: »Und dann hatte er noch einen, den Sohn, den Geliebten«. Das ist wiederum ein Zitat von Gen 22,2. Ich folgere daraus: Indem Jesus in Treue zur Tora vor der Schmach der Verwerfung durch die sadduzäische Hierarchie und vor der Qual und Schande der römischen Kreuzigung nicht zurückscheut, besteht er die Prüfung Isaaks. Als der geliebte Sohn seines Vaters im Himmel (Mk 1,11 = Gen 22,1) nimmt er die römische Folterung der Kreuzigung auf sich im Gehorsam gegen das Erste Gebot, in der Heiligung des göttlichen Namens. Die ganze Sendung Jesu Christi wird damit zur Erfüllung des Ersten Gebots. Und so ist es nicht zufällig, sondem höchst sachgemäß, daß das Kreuz Christi von Paulus in Gal 3,13f so verstanden wird: Es ist der Wendepunkt von der Fluchgeschichte der Völkerwelt hin zur Segensgeschichte für die Völkerwelt. Wie die Berufung Abrahams und die mehrdimensionale Segensverheißung an Abraham auf dem Hintergrund der Fluchgeschichte der Welt steht, so kommt durch das Kreuz Jesu, des Abraham-Sohnes und Abraham-Erben, der Segen Abrahams in die Welt (Gal 3,12). Wie die Sendung Jesu in Wort und Werk, so steht auch seine Kreuzigung im Raum der Abrahamverheißung und wird sein Kreuz zum Wendepunkt von der Fluch- zur Segensgeschichte. Das Kreuz Christi steht am Schnittpunkt der Fluchgeschichte der Welt und der Segensgeschichte Abrahams. So wird das Kreuz zu dem Ort, von dem her Israel und die Völkerwelt versöhnt und so unter die umfassende Segensverheißung Abrahams gestellt werden.
Der amerikanische Theologe Paul van Buren hat eine dreibändige Theologie des Judentums veröffentlicht [32]«. Da der erste ins Deutsche übersetzte Band seiner Trilogie kaum verkauft wird, werden auch die beiden anderen Bände seines umfassenden Werkes nicht im Deutschen erscheinen — ein für die wissenschaftliche Theologie entlarvendes Faktum.
Die von van Buren überzeugend entfaltete Grundthese lautet: Paulus konnte Christus unter den Völkern deshalb predigen, weil er Christus als die Bestätigung der dem Abraham zugesprochenen Verheißung an die Völker verstand, als Bestätigung der Verheißung, daß er (Abraham) Vater vieler Völker würde. Jetzt sah Paulus, daß die Verheißung an Abraham durch eben seine Sendung, seinen Apostolat sich realisieren sollte. Er wußte sich durch seine Sendung zum Mitarbeiter an der sich realisierenden Verheißung berufen. Durch das Kommen Christi erfährt die an Abraham ergangene Verheißung nun auch für die Völkerwelt ihre Bestätigung und anfangende Realisierung, weil nun Gott seine Verheißung an Abraham so erfüllt, daß er nicht nur Vater seines Sohnes Isaak und nicht nur Vater seines Sohnes Ismael, sondern auch Vater der Nichtjuden sein wird.
In Röm 4 entfaltet Paulus unter dem Leitmotto »Abraham nicht nur Vater Israels, sondern auch der Menschen aus der Völkerwelt« diesen Sachverhalt. Er bedient sich dabei nicht einer uns geläufigen Logik der Ausgrenzung und Ausschließung. Er bedient sich dabei vielmehr einer Logik der Einbeziehung und offenen Grenzen, der Logik des an der Hebräischen Bibel geschulten jüdischen Denkens von Gott, der nicht nur der Vater Israels, sondern auch der Vater der Menschen aus der Völkerwelt ist, wie Paulus gut jüdisch fragt: »Ist Gott nur der Juden Gott und nicht auch der Völker?« Und antwortet: »Doch, auch der Völker, wenn denn Gott einer ist« (Röm 3,29).
Ich habe mich bewußt dieser Formulierung »Abraham — der Vater auch der Glaubenden aus den Völkern« bedient, und ich stelle jetzt zwei Fragen:
Die erste Frage lautet: Wem gehört Abraham? Abraham ist, so lautet das beinahe einstimmige Urteil der protestantischen Exegese, die Urgestalt des von Gott gerechtfertigten Menschen. Abraham ist das Urbild des protestantischen Christen. Ich zitiere die erstaunlichen Sätze des Neutestamentlers G. Klein, der damit durchaus nicht allein steht: Paulus »hat den Abbau der jüdischerseits beanspruchten Abrahamssohnschaft zum Ziel«. Mit Paulus steht fest, »daß es außerhalb der christlichen Gemeinde keine Abrahamssohnschaft gibt und es ante Christum (vor dem Kommen Christi) eine solche überhaupt niemals gegeben hat [33]«.
Der katholische Neutestamentler Franz Mußner hat demgegenüber in dem Beitrag »Theologische Wiedergutmachung am Beispiel des Galaterbriefes [34]« mit dem Untertitel »Wem gehört Abraham?« deutlich gemacht: Thema des Paulus ist nicht die ausschließliche Abrahamssohnschaft der Christen, sondern die »Einbeziehung (auch) der Menschen aus der Völkerwelt in die dem Abraham zugesagte Verheißung, daß 'gesegnet sein werden in dir alle Völker' [35]«.
Wie Abraham im Sinne der Logik der Ausschließung in der protestantischen Exegese bis heute als der erste aus der Rechtfertigung des Gottlosen lebende Christ, so wird auch im Koran »Ibrahim (als) der erste Muslim aus der prophetischen Vorgeschichte« verstanden. Deshalb hat sich der Islam vom Judentum und Christentum abgewandt, »weil er in Abraham den vollkommenen religiösen Menschen vor der jüdisch-christlichen Offenbarung, die dieses (Abraham-) Bild entstellt hat, gefunden hatte [36]«. Deshalb wird in kritischer Abgrenzung von den dem Islam zeitlich vorausgehenden abrahamitischen Überlieferungen des Judentums und des Christentums im Koran von Abraham gesagt: »Wahrlich, mein Herr hat mich auf einem geraden Weg rechtgeleitet: eine festgegründete Religion, die milat Ibrahim (Religion Abrahams), der ein hanif war und nicht zu den Götzendienern gehörte« (Sure 6, 161).
Die zweite Frage lautet: Wer ist im Neuen Testament das Israel Gottes?
Die Tradition der Kirche seit dem 2. Jahrhundert gibt bis ins 20. Jahrhundert hinein die Antwort: Das Israel Gottes ist die Kirche exklusiv nur sie, bestehend aus Judenchristen und Heidenchristen unter Ausschluß von Israel-Judentum. Demgegenüber hat wiederum Mußner bahnbrechend für ein anderes Verständnis plädiert, indem er den Israelnamen dort beläßt, wo er nach Paulus (auch nach Gal 6,16) hingehört: Er ist niemals die Bezeichnung der Kirche, sondem immer die Auszeichnung Israels. Er meint, was er sagt: Israel und nicht die Kirche! Die Kirche ist nicht Israel. Die Kirche wird im ganzen Neuen Testament nirgendwo als Israel bezeichnet oder mit dem Israelnamen benannt.
Standen wir mit Franz Mußner am Punkt einer Revolution im Bereich der Exegese, die noch nicht abgeschlossen ist, so stehen wir mit der Arbeit des Berliner Systematikers Friedrich-Wilhelm Marquardt am Anfang einer Revolution in der Systematischen Theologie, die noch kaum zur Kenntnis genommen worden ist, und zwar nicht zur Kenntnis genommen im Hinblick auf die Bedeutung der Berufung Abrahams: Die Abraham-Berufung darf nicht nur ausschließlich als Urbild der christlichen Berufung (miß-)verstanden werden. Vielmehr übergreift die Berufung Abrahams die Berufung der Christen und Christinnen bei weitem. Marquardt hat sein Buch nicht zufällig eine Dogmatik der Umkehr und Erneuerung genannt und seinen Prolegomena den bezeichnenden Titel: »Von Elend und Heimsuchung der Theologie« (1988) gegeben.
In einem mehr als 110 Seiten umfassenden Paragraphen mit der Formel »Abraham unser Vater«, deren Verständnis in der Theologie auf das Thema der Berufung der Christen verengt und reduziert wurde, entfaltet Marquardt die Dimensionen der Abrahamgeschichte, an der auch wir Menschen aus der Völkerwelt durch den Messias Jesus teilnehmen (Prolegomena § 6). So wird im Lobgesang der Maria »die ganze Jesusverkündung ins Zeichen der Abraham-Verheißung gestellt«: Der Gott Israels hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, um der Barmherzigkeit zu gedenken, die er unseren Vätern versprochen hat, Abraham und seiner Nachkommenschaft in Ewigkeit (Lk 1,73; 1,55). Zacharias stellt in seinem Lobgesang die Jesusgeschichte ebenfalls ins Zeichen der Abraham-Verheißung gegenüber Israel-Judentum: Gepriesen sei der NAME, der Gott Israels, denn er hat sich seines Volkes Israel angenommen und ihm anfangende Erlösung bereitet. Errettung aus der Gewalt unserer Feinde und aus der Hand aller, die uns hassen. Zu gedenken seines Bundes, den er Abraham, unserem Vater, geschworen hat, damit Israel, erlöst aus der Gewalt seiner Feinde ohne Furcht IHM dienen kann in Heiligkeit und Gerechtigkeit (Lk 1,68-75). Marquardt folgert daraus:
»Die Tatsache, daß im Neuen Testament die Jesusverkündigung und das Verständnis des christlichen Glaubens mit der Geschichte und dem Glauben Abrahams in Verbindung gebracht worden sind, kann man in ihrer Bedeutung schwer überschätzen [37]«. Durch Jesus Christus, den verheißenen Messias Israels, wird die Christenheit in eine Beziehung gesetzt: einmal zum jüdischen Volk, zum andern zur Geschichte der gesamten Menschheit [38]. Aber — und das ist meine Anfrage an Marquardt: Auch in diesem revolutionären Abraham-Kapitel vermißt man schmerzlich eine Dimension der Abraham-Nachkommenschaft und Abrahamverheißung, nämlich die Beziehung auf die Abraham-Gemeinschaft der Muslime und die Ismael-Verheißung. Das ist um so auffallender, als Marquardt den zweiten Band seiner Dogmatik »Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie« mit einem Kapitel »Jesus außer Landes« einleitet und unter den nichtchristlichen Verständnisweisen Jesu eben auch »Jesus unter Moslems« behandelt [39]. Alle wichtigen Einsichten Marquardts zu Abraham, die ich hier nur nachdrücklich unterstreichen kann, sind deshalb um eine weitere und wichtige Dimension zu ergänzen, so daß ich im engen Anschluß an Marquardt, zugleich aber auch über ihn hinaus folgende These formuliere:
Die Menschen aus den Völkern, die Söhne und Töchter Abrahams werden sollen, werden eben damit auch Geschwister der leiblichen Kinder Abrahams, der Juden und der Muslime. Nur in der Geschwister-Beziehung zum Judentum und Islam hat Kindschaftsbeziehung zu Abraham einen guten Sinn. Unsere in Jesus Christus vollzogene Mitberufung zu Abrahamkindern stellt die ökumenische Kirche in eine Beziehung zum Israel-Volk, dem Judentum, zur Abraham-Gemeinschaft, dem Islam, und zu der einen, unteilbaren Menschheit, der der ungeteilte Segen Abrahams letztendlich gilt. Indem die Theologie diesen vier Dimensionm der Abraham-Verheißung heute biblisch nachdenkt, nämlich der Israel-Dimension, der Ismael-Dimension, der Christus-Dimension und der Völker-Dimension, kommt sie ökumenisch auf verbindliche Wege.
These 4: Da Abraham nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit ist, sondern eine Geschichte unabgegoltener Verheißungen repräsentiert, wird sich eine ökumenische Theologie auch der Frage nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Ismael-Verheißung stellen müssen. Und sie wird dann über das Bekenntnis zur Selbigkeit des Gottes Abrahams in Judentum, Christentum und Islam hinaus auch den als Gesandten des Gottes Abrahams betrachten, durch den allein die Muslime zur Anbetung des einzigen Gottes geführt worden sind und durch den der Gott Abrahams zu der Abraham-Gemeinschaft gesprochen hat: Muhammed, den Gesandten Gottes (H. Küng / W. Zimmerli). — Eine ökumenische Theologie des Heiligen Geistes (K. Barth) wird die Verbindung zum Judentum und zum Islam nicht nur zu Abraham, dem Vater der Juden, Muslime und Christen, nach rückwärts verfolgen. Sie wird diese Verbindung im Wissen um die sich in der Ausgießung auf alles Fleisch (Joel 2) realisierende Abrahamverheißung auch nach vorwärts suchen. Weiß sie doch seit Schawuot-Pfingsten, dem Gründungsfest der Christenheit, daß Geistempfang (Acta 10; Gal 3,2) in jedem Fall Mitgesegnetwerden mit dem glaubenden Abraham bedeutet (Gal 3,9).
Wir kommen an dieser Stelle zurück auf G.E. Lessings Schrift über die »Erziehung des Menschengeschlechts« (1780). Im Anschluß an Joachim von Fiore und dessen Erwartung eines Zeitalters des Geistes hatte Lessing das Zeitalter der wahren und alle Menschen umfassenden Humanität erwartet und in seinen Aufklärungsschriften beispielhaft und tatkräftig gefördert.
Dabei nehmen wir Lessings Hinweis nunmehr verändert auf. Denn das erwartete Zeitalter des Geistes, der Humanität und der Toleranz war bei Lessing gerade durch den Überschritt über die sich auf Abraham beziehenden Glaubens- und Abstammungsgemeinschaften — Juden, Muslime, Christen — hinaus gekennzeichnet, war also ein Modell von Toleranz ohne religiöse und glaubensbestimmte Identität. Wir gehen anders als Lessing mit dem Neuen Testament davon aus, daß die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch zu Pfingsten das Gründungsereignis des ökumenischen Gottesvolkes aus allen Nationen ist, daß aber dieses Gründungsereignis der Kirche nicht die Überschreitung und Beseitigung, sondern die anfangende Realisierung der dem Abraham für die Völker gegebenen Verheißungen darstellt. Und wir sagen: Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch, die die alttestamentliche Prophetie mit Joel erwartet, ist die sich realisierende Abraham-Verheißung für Juden, Christen, Muslime und die ganze Menschheit. In Joel 2 heißt es:
»Und danach wird es geschehen, daß Ich Meinen Geist ausgießen werde auf alle Menschen, und eure Söhne und Töchter werden weissagen, und eure Jugendlichen werden Gesichte sehen; auch über die Knechte und Mägde werde Ich in diesen Tagen Meinen Geist ausgießen.«
Indem wir von der Hebräischen Bibel und vom Neuen Testament her nach der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch fragen, fragen wir nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Verheißungen für das Israel-Volk der Juden, für das Christus-Volk der Christen und für die Abraham-Gemeinschaft der Muslime. Wir gehen also nicht von einer allgemeinen Schöpfungsoffenbarung aus, sondern von Pfingsten / Schawuot als der anfangenden Realisierung der Abraham-Verheißung in die Christenheit und die Welt hinein.
Wir vergessen bei diesem Überschritt zur universalen Geistverheißung und verheißenen Geistausgießung der Hebräischen Bibel nicht die in den bisherigen Abschnitten I - III erarbeiteten Voraussetzungen. Wir bedienen uns also nicht des auf dem Boden der sog. natürlichen Theologie stehenden Toleranzmodells von H. Küng: Küng grenzt sich zwar mit Recht von der »Exklusivitätsseuche« des frühkatholischen Satzes »Außerhalb der Kirche kein Heil!« ab [40]. Küng orientiert sich dann aber — wie auch das Vaticanum II — bei der positiven Entfaltung des Toleranzgedankens gegenüber den Muslimen lediglich an der Tradition der natürlichen Theologie, die auch in anderen Religionen verstreute Funken der göttlichen Wahrheit, sog. logoi spermatikoi, voraussetzt und anzuerkennen bereit ist. Diese Tradition rechnet von der »Schöpfungsoffenbarung« Gottes an alle Menschen, also von dem Bund Gottes mit der ganzen Schöpfung und Menschheit (Noahbund) her mit Wahrheiten auch in der Geschöpfwelt und also auch den Religionen, »so daß für sie sogar Platon, Aristoteles und Plotin ‘Pädagogen’ zu Christus waren [41]«. Schwierig bleibt freilich bei diesem Toleranzdenken, daß hier die Abrahamgemeinschaft der Muslime nur unter die allgemeine Schöpfungsoffenbarung Gottes an alle Menschen (1. Artikel), nicht aber unter das Besondere der Abraham-Verheißung und des Abraham-Bundes zu stehen kommt. Der Toleranzgedanke nur auf der Basis der Schöpfungsoffenbarung stellt die Muslime lediglich auf die Stufe aller Menschen, auch der Nicht-Monotheisten. Das Modell der Toleranz aufgrund der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung Gottes in allen Religionen leugnet aber, daß die Abraham-Gemeinschaft der Muslime in den Horizont des Abraham-Bundes gehört und unter dem besonderen Abraham-Segen steht.
Indem wir von der Hebräischen Bibel und ihrer Bundesverheißung her, indem wir vom Neuen Testament und von Jesus Christus her (2. Artikel) nach der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch (3. Artikel) fragen, fragen wir nach der anfangenden Realisierung der dem Abraham gegebenen Verheißungen für das Israel-Volk der Juden, für das ökumenische Christus-Volk der Christen und für die Abraham-Gemeinschaft der Muslime, wobei wir also die Muslime nicht mit Küng unter die allgemeine Schöpfungsoffenbarung einordnen, sondern der spezifischen Offenbarung Gottes an Abraham und Ismael-Hagar zuordnen.
Eine ökumenische Theologie des Heiligen Geistes wird deshalb die Verbindung zum Judentum und zum Islam nicht nur über Abraham, den Vater der Juden, Christen und Muslime, nach rückwärts finden. Sie wird diese Verbindung im Wissen um die in der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch sich realisierende Abrahamverheißung auch nach vorwärts suchen. Weiß sie doch seit Schawuot / Pfingsten, dem Gründungsfest der Christenheit, von der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch (Joel 2, Acta 2) und davon, daß Geistempfang in jedem Fall Mitgesegnetwerden mit dem glaubenden Abraham bedeutet.
Smail Balic hat darauf hingewiesen, daß die dialektische Theologie Karl Barths wesentlich zum innerchristlichen Dialog geführt hat [42]. Auch Barths bekannte These von der Offenbarung Gottes als Aufhebung der Religion dient diesem Dialog [43]. Sie ist nämlich nicht eigentlich religionskritisch nach außen gerichtet, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, sondern — wie Barth öfters gesagt hat — nach innen in den Raum der christlichen Religion hinein: Das Evangelium bedeutet die Krisis und Kritik der christlichen Religion und ihres Fundamentalismus und Imperialismus und ihrer schrecklichen Schuldgeschichte von Gottes Offenbarung in Jesus Christus her!
Barths Christologie des ungekündigten Bundes hat bekanntlich zum christlich-jüdischen Dialog beigetragen, Barths Vision einer von daher zu entfaltenden ökumenischen Theologie des Heiligen Geistes, die er Freunden noch mündlich mitgeteilt hat, ist leider nicht mehr zur Ausführung gelangt. Barth: hat aber in diesem Zusammenhang ausdrücklich von deren Bedeutung für den christlich-muslimischen Dialog und für das Verständnis des Verhältnisses von Bibel und Koran gesprochen.
Im Unterschied zu Lessings Erwartung eines dritten Zeitalters des Geistes auf der Basis der Aufklärung (freilich mit viel Sympathie dafür!), im Unterschied zu Schleiermachers Theologie des Heiligen Geistes unter Ausschluß des Alten Testaments und des Judentums, im Unterschied zu H. Küngs Theologie der Schöpfungsoffenbarung Gottes an alle Menschen mit Einschluß der Muslime, auch im Unterschied zu W. Pannenbergs Modell vom Christentum als der überlegenen und insofern absoluten Religion hat Barth in seinen letzten Lebensjahren von »einer Theologie des Heiligen Geistes als eines noch umfassenderen Unternehmens« gesprochen und in diesem Zusammenhang auch auf den Dialog mit den Muslimen und die nötige Verständigung über das Verhältnis von Bibel und Koran ausdrücklich hingewiesen [44].
Diese ökumenische Theologie des Heiligen Geistes, die den Dialog mit dem Judentum als der Wurzel zur Voraussetzung hat, rechnet seit Pfingsten mit dem Übergreifen der Prophetie Jesu Christi auf alle Menschen und alle Völker, die sich in der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch (Joel 2) konkretisiert. Einer Ausgießung, mit der die Christenheit nach Pfingsten rechnet (Acta 10) und von welcher Verheißung aus sie den Dialog mit den Muslimen führen kann und führen darf.
Eine solche ökumenische Theologie des Heiligen Geistes würde im Blick auf die Muslime ernst nehmen, was Paulus als apostolische Weisung der Christenheit auf den Weg gegeben hat: »Den Geist dämpfet nicht. Prophetische Rede (warum dann nicht auch die Mohammeds?) verachtet nicht. Prüfet alles, das Gute behaltet« (1. Thess 5,9-21).
Ein ähnliches Konzept wie Karl Barth vertritt — ohne Barths Vision eines ökumenischen Dialogmodells zu kennen — der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger in seinem höchst informativen Artikel »Heiden. Heidenchristentum [45]«. Gegenüber dem traditionellen Modell der verstreuten Funken der einen Wahrheit auch in anderen Religionen von der Alten Kirche bis zu H. Küng, urteilt Berger zu Recht: »Die Frage ist jedoch, ob man so dem Selbstverständnis anderer Religionen gerecht wird und nicht gleichzeitig das Christentum verkürzt.«
Positiv vertritt Berger — ganz ähnlich wie Barth — ein »Modell konzentrischer Kreise«, demzufolge das Judentum zur Wurzel des Christentums zählt und deshalb »schwerlich als eigene Religion vom Christentum abzutrennen« ist [46]. Der christlich-jüdische Dialog ist die Basis und die Voraussetzung aller anderen Dialoge: »Jede christliche Bestimmung des Verhältnisses zu fremden Religionen sollte sich daran erinnern, daß den Christen durch ihre Einbeziehung in die Geschichte des jüdischen Gottesvolkes in bestimmter Hinsicht die Hände gebunden sind; als Nur-Hinzugekommene können sie die ‘Rechnung nicht ohne den Wirt machen’, d.h. sie müssen das Verhältnis Israels zu den Fremdreligionen mitbedenken«. Von dieser axiomatischen Voraussetzung der Verwurzelung des Christentums im Judentum her »gibt es dann aber Religionen .... die dem Christentum besonders nahestehen, z.B. der Islam«. Dieser Dialog mit dem Islam sollte nach Berger »einen ersten ‘Ring’ bilden, in dem auch die theologische Gemeinsamkeit weit reicht, ein weiterer Ring wären andere Hochreligionen (Buddhismus, fernöstliche Religionssysteme)« [47].
Wichtig sind in diesem Zusammenhang Bergers Ausführungen zur Gabe des Geistes an Nicht-Juden: »Denn allein der Geist Gottes, der im Auferstandenen wirkt, bringt Menschen in eine unüberbietbare Nähe und in ein Kindschaftsverhältnis zu Gott« (Gal 4,6) [48]. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang Bergers Verknüpfung zwischen der Geistbegabung und Abrahamverheißung: »Doch dieser Geist [die zu Pfingsten und nach Pfingsten erfolgte Geistbegabung] an Nichtjuden ist nichts anderes als die Verheißung an Abraham (Gal 3,8.14), und daher sind die Heidenchristen nur als zu Israel Hinzugekommene theologisch denkbar (Ölbaumgleichnis in Röm 11,15-24). Damit... erlangen sie ihr Christsein, betrachtet man es aus der Perspektive Israels, nur dadurch, daß sie seit und mit Jesus in Gottes Geschichte mit Israel einrücken dürfen«, wobei »die nichtchristlichen Juden Gottes auserwähltes Volk« bleiben [49]. Soviel zu Klaus Bergers wichtigen exegetisch-systematischen Hinweisen.
Mit dem Jahre 1967/68 stoßen wir also bei Barth auf Aussagen, die die Richtung der positiven Inbeziehungsetzung Jesu Christi zu den Religionen weiter präzisieren und konkretisieren; konkretisieren freilich nicht von der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung, sondern von der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch her. Ich nenne folgende Dokumente:
1. Barths zu dem fälligen Dialog mit den Muslimen: Barth stellt über die theologisch verbotene Einordnung des Judentums in den Bereich der nicht-christlichen Religionen und über ein fehlendes Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche zur Verfolgungs- und Auslöschungsgeschichte gegenüber dem Judentum hinaus die Frage, ob »bei Erwähnung der Muslime ein solches (Schuldbekenntnis) in Erinnerung an die fatale Rolle der Kirche in den sog. Kreuzzügen« nicht auch am Platz gewesen wäre [50].
Ein Jahr später — im Jahr 1968 — schreibt Barth einen Brief an H. Berkhof (Leiden), in welchem er über ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler J. Bouman aus dem Libanon berichtet: »In der theologischen Würdigung der dortigen Lage (im Libanon) ... waren wir aber völlig einig« und auch darin, daß »eine neue Verständigung über das Verhältnis von Bibel und Koran für uns eine dringende Aufgabe« sei [51].
2. Barths letztes Gespräch über den fälligen Dialog mit den Religionen: Jürgen Fangmeier berichtet, daß Barth mindestens dreimal in den letzten Jahren seines Lebens auf die Frage des fälligen Dialogs mit den Religionen von sich aus zu sprechen gekommen sei. Wenn er, Barth, noch Zeit und Kraft hätte, so würde er sich noch intensiver beschäftigen a) mit dem römischen Katholizismus; b) mit den Ostkirchen; e) gleicherweise und gleichstimmig mit den Religionen.
In diesem Zusammenhang ist die folgende Gesprächsnotiz von Jürgen Fangmeier wichtig:
»Als ich im September 1968 das letzte Mal bei Karl Barth sein konnte, sprach er davon, womit er sich beschäftigen würde, wenn er noch Jahre theologischen Schaffens vor sich hätte. Und er nannte nach dem römischen Katholizismus die Ostkirchen und dann die nicht-christlichen Religionen; aber, so fügte er hinzu, ganz anders, als man in der Regel daran gehe: nicht so (sei der Dialog mit den Religionen zu führen), daß das Allgemeine die Basis sei, auf der sich dann vielleicht Jesus Christus als der Gipfel höchster erheben soll, sondern daß Jesus Christus der Grund sei, von dem her mit den Religionen vielleicht ein noch ganz neues Gespräch zu eröffnen wäre« [52].
Nach Johannes 14,6 ist Jesus der WEG, die WAHRHEIT und das LEBEN. Aber das hebt Joh 4,22 nicht auf: »Das Heil kommt von den Juden.« Und beides hat bei sich die Verheißung Jesu vom messianischen Tröster, den Gott in Gestalt des Geistes senden wird: »Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, damit er in Ewigkeit bei euch sei, den Geist der Wahrheit« (Joh 14, 16f). Diese Tradition des verheißenen Parakleten konnte von Muslimen in verschiedenen Zeiten und Epochen mit Muhammed, dem »Gepriesenen«, in Verbindung gebracht werden [53].
Smail Balic hat in seinem wegweisenden Aufsatz »Worüber können wir sprechen? Theologische Inhalte eines Dialogs zwischen Christen und Muslimen« zum Verhältnis der Christen und Muslime folgendes ausgeführt: »Es ist undenkbar, daß ein Islambekenner sich über Jesus, seine Mutter und seine Jünger abfällig äußern könnte. Hier liegt ein wichtiger Verhaltensunterschied vor. Bei den Christen fehlt diese über das Eigene hinausgehende Sicht, m.a. W.: der Christ fühlt sich gegenüber Muhammad zu keinerlei Respekt verpflichtet« [54]. Genau das hat der katholische Missionstheologe Ludwig Hagemann im Blick auf das Vaticanum II moniert: Das Vaticanum II betont die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam im Hinblick auf den einen, einzigen Gott, aber »ausdrücklich ausgeklammert wurde der muslimische Glaube an die Sendung Mohammeds« [55].
Von katholischer Seite hat Hans Küng in seinem Buch »Christentum und Weltreligionen« (1984) deshalb gemeint: Wenn das Vaticanum II »auch Muslime mit Hochachtung betrachtet, die den alleinigen Gott anbeten, dann müßte m.E. dieselbe Kirche und müßten alle christlichen Kirchen auch den einen mit Hochachtung betrachten, dessen Name in jener (vatikanischen) Erklärung (und ich ergänze: auch in den ökumenischen Erklärungen aus Genf) aus Verlegenheit verschwiegen wird, obwohl doch er und er allein die Muslime zur Anbetung dieses einzigen Gottes geführt hat und nun einmal durch ihn dieser Gott zu den Menschen gesprochen hat: Mohammed, den Propheten!« [56]
Neben Hans Küng auf katholischer Seite steht auf protestantischer Seite nur mein alttestamentlicher Lehrer Walther Zimmerli: Er hat schon im Jahre 1943 in einer radikalen Abwendung von dogmatischen Vorurteilen seines Lehrers Emil Brunner gegen den Islam einen Aufsatz verfaßt: »Der Prophet im Alten Testament und im Islam«. Er sagt dort zunächst: »Der Titel rasul entspricht etymologisch genau dem neutestamentlichen apostolos« [57]. Diese Beobachtung leitet ihn so dann zu der entscheidenden Frage: »Ist Muhammeds Prophetie echt?« [58].
Und Zimmerli antwortet, indem er die Berufung der alttestamentlichen Propheten und das dabei beobachtete Phänomen, daß die Propheten vom Worte Gottes gegen ihren Willen gleichsam überfallen werden, zum Vergleich heranzieht: »Die in älterer Zeit erhobenen Vorwürfe, daß Muhammed ein Betrüger gewesen sei, lassen sich vor ihr (der wissenschaftlichen Erforschung der alttestamentlichen Prophetie) nicht aufrecht erhalten. Was den biblischen Propheten recht ist, ist Muhammed billig. Wir haben nicht das Recht, an der Echtheit der prophetischen Erlebnisse Muhammeds zu zweifeln. Es ist ein Fremderlebnis gewesen, das Muhammed überfallen und ihm die Gewißheit prophetischer Sendung gegeben hat. Wo Prophetie vom prophetischen Erlebnis her auf Echtheit beurteilt wird, kann man schwerlich darum herumkommen, auch Muhammed echte Prophetie zuzubilligen.« [59]
Ich fasse den Abschnitt über die Sendung des geistbegabten Gesandten Muhammed zusammen:
Da Abraham nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit ist, sondern eine Geschichte unabgegoltener Verheißungen auf Zukunft hin repräsentiert, wird sich eine ökumenische Theologie auch der Frage nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Ismael-Verheißungen stellen müssen. Und sie wird dann über das Bekenntnis zur Selbigkeit des Gottes Abrahams im Judentum, Christentum und Islam hinaus auch den einen als Gesandten des Gottes Abraham betrachten, durch den allein die Muslime zur Anbetung des einen Gottes geführt worden sind und durch den der Gott Abrahams zu der Abraham-Gemeinschaft der Muslime gesprochen hat: Muhammed, den Gesandten Gottes.
These 5: In der Lebensbeziehung zum jüdischen Volk und zur Abraham-Gemeinschaft der Muslime nimmt die ökumenische Christenheit aus allen Völkern teil am WEG Abrahams und seiner Nachkommen: (1) an Abrahams Appell an den Richter aller Welt, Recht zu üben (Gen 18), (2) an Abrahams Kampf um die Rettung des einzelnen Menschenlebens, durch den er »Freund Gottes« genannt wird (Jes 41,8; Jak 2; Sure 9,35) und (3) an Abrahams Offenheit und Toleranz aus Identität, sich von Melchisedek (= »Mein König ist Gerechtigkeit«) segnen zu lassen. An die Stelle der Dialogmodelle der Exklusivität, Überlegenheit und Toleranz ohne Identität tritt so die Beziehung in Unterscheidung: (4) das Denken von den anderen her (E. Lévinas) und die Faszination durch den Reichtum und die Schönheit der anderen.
Abraham ist ein kritischer Maßstab für das Leben der Abraham-Nachkommen. Deshalb soll es zuletzt um die Skizzierung und den Abriß der gemeinsamen Aufgaben von Juden, Christen und Muslimen gehen. Nach dem Jakobusbrief wird Abraham wegen seines Tuns der Gerechtigkeit gerecht gesprochen. Wir aber haben seit der Reformation Luthers den Jakobusbrief theologisch verächtlich gemacht, ihn zu »einer strohernen Epistel« erklärt und uns dadurch im Protestantismus einer Ethik der Nachfolge Abrahams weitgehend nicht mehr gestellt. Nur Johannes Calvin hat sich in der Reformationszeit von der theologischen Kritik an Jakobus distanziert und einen bis heute wichtigen Kommentar zum Jakobusbrief geschrieben. Calvin wußte nämlich, daß die Rechtfertigung des gottlosen Menschen ohne Vorleistung die Gerechtsprechung seiner Werke im Endgericht nicht aufhebt oder überflüssig macht. Fr. Mußner hat 1964 seinen wegweisenden Kommentar zum Jakobusbrief auch als Wiedergutmachung gegenüber Jakobus dem Gerechten geschrieben und in der 5. Auflage durch ein Nachwort über das philosophische und theologische Thema »Der Andere« ergänzt [60]: »Wofür der Jude E. Lévinas philosophisch kämpft, nämlich die radikale Sicht ... des ‘Anderen’..., dafür kämpft auch der Jude Jakobus [61].«
Wie sieht diese Halacha, wie das Ethos dieses Gehens in der Nachfolge Abrahams aus? Was sind die gemeinsamen Aufgaben, in denen Juden, Christen und Muslime miteinander und zugunsten der ganzen Menschheit auf den Wegen Abrahams zusammenarbeiten können? Ich nehme mit diesen Ausführungen zuletzt auch das Thema der Aufklärung und das Anliegen Lessings positiv auf.
Wir haben bisher in den Teilen I - III von der Bedeutung von Gen 12 und 22 gesprochen: die Segensverheißung an Abraham (Gen 12) für Isaak, Ismael und Hagar und die Völkerwelt und den Weg der AQEDA Isaaks (Gen 22), wie ihn der Abraham-Sohn Jesus Christus in seinem Leiden und Gefoltertwerden in der Kreuzigung gegangen ist und geht.
Zwischen Gen 12 und Gen 22 steht aber Gen 18: der Appell Abrahams an die göttliche Gerechtigkeit und der Kampf Abrahams um die menschliche Gerechtigkeit. Rabbinische Exegese hat auf diesen Sachzusammenhang aufmerksam gemacht: Der AQEDA, d.h. der Bindung Isaaks in Gen 22, geht der Kampf Abrahams um das menschliche und physische Überleben Sodoms voraus. Dies ist ein Kampf um menschliche Gerechtigkeit, ein Appell an Gott als den Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit: »Der aller Welt Richter ist, sollte der nicht (selbst) Recht üben?« (Gen 18,25)
Man vergleiche das eindrückliche Kapitel, das Smail Balic in seinem informativen Buch »Ruf vom Minarett« [62] geschrieben hat. Man kann dann verstehen, warum die großen jüdischen Lehrer des Mittelalters, darunter Yehuda Halevi (1085 - 1145) bis zu Leo Baeck (1873 - 1956), Christentum und Islam in ihrem ethischen Handeln für Gerechtigkeit und Recht als Wegbereitung für das Kommen des messianischen Reiches Gottes verstanden und anerkannt haben. Wir haben deshalb eine Ethik der Wegbereitung für das Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit in der Nachfolge Abrahams, Jesu Christi und Muhammeds zu entfalten. Aus Gen 18 jedenfalls lernen wir: Abrahams Kampf um menschliche Gerechtigkeit ist ein Teil der Verwirklichung des Segens Abrahams für die Völkerwelt und die Menschheit.
Es ist öfters behauptet worden: Das Neue Testament kenne die alttestamentliche und muslimische Tradition von dem Kampf Abrahams um menschliche Gerechtigkeit nicht. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus und von Lazarus in Abrahams Schoß im Jesusgleichnis (Lk 16,11-31) ist ein leuchtendes und eindrückliches Dokument des Kampfes um menschliche Gerechtigkeit in der Nachfolge Abrahams.
W. Zimmerli wies bereits 1943 auf die Verwandtschaft der ethischen Sendung Muhammeds mit der prophetischen Verkündigung hin, insofern »für ihn (Muhammed) wie für jene (die alttestamentlichen Propheten) der praktische Beweis... (des Glaubens) im rechten und barmherzigen Verhalten zum Nächsten besteht«. So ist bei Muhammed die Forderung des rechten Verhaltens zum Nächsten stark betont: die Sorge für die Waisen, Speisung der Armen (Sure 89,18f; 107,1-3), Loskauf der Gefangenen (90,13).
Und »wie unbedingt der Prophet (Muhammed) unter dieser Forderung Allahs lebt, zeigt sich darin, daß er ... den (kritischen) Anruf nicht verschweigt, der ihm selber von Allah zuteil geworden ist: Als er einmal einen armen Blinden, der geistlichen Rat von ihm wollte, um eines ungläubigen Reichen willen, mit dem er gerade redete, zurückwies, hörte er die Offenbarung der Sure ‘der Morgen’ (93,6ff): ‘Hat Er (Gott) dich nicht als Waise gefunden und dir Unterkunft besorgt und dich ... bedürftig gefunden und reich gemacht? So unterdrücke die Waise nicht und fahre den Bettler nicht an und erzähle von der Gnade des Herrn’ [63].«
Der Kampf um die menschliche Gerechtigkeit ist nie nur global und allgemein, sondern immer zugleich konkret zu verstehen und individuell zu leben. Deshalb ist für die jüdische, muslimische und christliche Tradition der Nachfolge Abrahams charakteristisch, die Rettung des einzelnen Menschenlebens und den Einsatz für das einzelne Menschenleben deutlich zu akzentuieren: Die Rettung auch nur eines einzelnen Menschenlebens ist oberstes Gebot und darin Teilnahme am Abraham-Segen und Realisierung der Abraham-Nachfolge. Die Ethik der Gerechtigkeit für die Gesellschaft im ganzen erhält also ihre Nagelprobe in der Ethik der Verantwortung für das Menschenleben im einzelnen.
Für die jüdische Tradition muß hier auf die Rechtsoffenbarung am Sinai und den Talmud als Dokument einer großen sozialen Proklamation verwiesen werden; Leo Baeck schreibt in seiner Theologie des Judentums »Dieses Volk« Bd I 1955:
»Im Talmud bricht überall das Soziale hindurch... Jetzt verstand man es, wie eine ganz andere Stellung zu den sozialen Problemen durch die Bibel gegeben war: Die Gesetze in der Welt ringsumher — in der orientalischen, in der griechischen, der römischen Welt — waren geschrieben vom Standpunkte der Besitzenden aus: Dem Besitzenden sollte sein Besitzstand garantiert sein!
Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist vom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben. Das Schlußwort ist immer: ‘Armer..., dein Bedürftiger..., die Witwe..., die Waise.... damit sie leben können, und der Fremdling, der im Lande ist, leben kann’. Darum sind diese Gesetze gegeben. Ein ganz anderer Standpunkt ist eingenommen: Vom Standpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werden die Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und proklamiert [64].«
Für die christliche Tradition hat K. Barth in seiner Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« (1946) den Einsatz und den Kampf der Christen für Gerechtigkeit und Recht im Raum der Bürgergemeinde beschrieben. Ich zitiere hier schließlich den Koran, der mit der jüdisch-christlichen Tradition übereinstimmend lehrt: Wer einen Menschen getötet hat..., so ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet. Wer aber auch nur eines Menschen Leben rettet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit gerettet (Sure 5,32).
Diese Ethik der Verantwortung für den einzelnen und der Rettung des einzelnen Menschenlebens konkretisiert die Abrahamverheißung von der Segnung aller Menschen und realisiert sie für die ganze Welt. Im Neuen Testament finden wir einen dieser Aussage im Koran entsprechenden und für die Jesustradition höchst charakteristischen Text im Jakobusbrief:
»Was hilft es, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe (wie Abraham) Glauben, aber keine Werke hat? Wenn da z.B. ein Bruder und eine Schwester unbekleidet und an der täglichen Nahrung Mangel leiden, (wenn sie gefangen sind und um Asyl nachfragen,) und jemand sagt von euch zu ihnen: Gehet hin in Frieden. Kleidet euch warm und esset euch satt, ihr gebt ihnen aber nicht, was für den Leib nötig ist, was hilft das? Du glaubst, daß es einen Gott gibt? Auch die Dämonen glauben das. Du siehst, daß der Glaube (Abrahams) zusammenwirkte mit seinen Werken. So aber glaubte Abraham Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und er wurde ein Freund Gottes genannt« (Jakobus 2,14-26).
In diesem Kampf um die soziale Gerechtigkeit und um das individuelle Menschenrecht und Menschenleben in der Nachfolge Abrahams wissen sich Juden, Christen und Muslime mit allen Nichtjuden, Nichtchristen und Nichtmuslimen verbunden, die auch ihrerseits um die individuellen und sozialen Menschenrechte, wie sie in der Menschenrechtscharta der UNO dokumentiert sind, kämpfen [65]. Hier — im Kampf um die Rettung des Menschenlebens, der Menschenrechte und der Menschenwürde — gibt es ein praktisches Bündnis von Juden, Christen und Muslimen mit allen Menschen aus welchen Religionen und demokratisch-rechtsstaatlichen Traditionen bzw. demokratisch-sozialistischen Utopien sie auch sonst kommen mögen. Hier bekommt Lessings Plädoyer für Aufklärung und Humanität jenseits von Judentum, Christentum und Islam sein bleibendes Recht.
Aber Juden, Christen und Muslime nehmen — anders als es Lessing meinte und erhoffte — nicht aufgrund einer Toleranz ohne Identität, sondern aufgrund einer Toleranz aus jüdischer, christlicher und muslimischer Identität an diesem Kampf um die universalen Menschenrechte teil.
Goethe hat im West-Östlichen Divan diesen Zusammenhang der Gotteserfahrung bzw. ELOHIM-Offenbarung in den sog. monotheistischen Religionen mit Recht mit der Gerechtigkeitsforderung verbunden und also die Gerechtigkeits- und Menschenrechtsfrage zum Kriterium eines verantwortlichen Redens von Gott und Handelns in der Nachfolge Gottes gemacht:
»Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident,
Nord und südliches Gelände, liegt im Frieden seiner Hände.
Er, der einzige Gerechte, will für jedermann das Rechte.
Sei von seinen hundert Namen dieser hochgelobet. Amen«
Entsprechend wird im Psalm 82 nicht bestritten, daß der Gott Israels in der Gottesversammlung, im Rat der Götter, steht (Ps 82,1). Wohl aber wird das Kriterium genannt, von dem her die ELOHIM, die Götter der Völker, beurteilt und an dem sie gemessen werden:
»Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Seid Richter dem Geringen und helft dem Elenden und Dürftigen zum Recht. Rettet den Geringen und Armen und befreit ihn aus der Gewalt der Gottlosen« (Ps 82,2 - 4).
Dementsprechend hat das Judentum in der 11. Beracha-Bitte des Achtzehnbittengebetes die Wegbereitung auf das messianische Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit in der Wiederaufrichtung des Rechtes erbeten und erhofft:
»Bringe unsere Richter wieder wie am Anfang und unsere Ratgeber wie zu Beginn. Laß von uns weichen Klage und Seufzen. Herrsche Du über uns, ADONAI, in Güte und Erbarmen und rechtfertige Du uns im Gericht. Gelobt seist Du, ADONAI, der Gerechtigkeit und Recht liebt!«
Dementsprechend hat das Judentum in den für die nichtjüdische Völkerwelt formulierten sieben noachidischen Geboten die Aufrichtung gerechter Gerichte nicht zufällig an erster Stelle genannt.
Deshalb sollten Juden, Christen und Muslime in der Bundesrepublik Deutschland für die nächste Zukunft konkret am Kampf für eine multikulturelle, sozial- und rechtsstaatliche Republik im Unterschied zu einem national und völkisch orientierten Modell »Deutschland« teilnehmen (W. Huber).
Aber nicht nur das Bündnis von Juden, Christen und Muslimen mit anderen, um demokratische und soziale Gerechtigkeit kämpfenden Gruppen und Utopien ist hier gemeint. Die Bibel sagt noch mehr und überraschend darüber Hinausgehendes. Ich denke dabei konkret an die Begegnung zwischen Abraham und Melchisedek, den »König der Gerechtigkeit« aus Jerusalem. Für Juden wie Christen und Muslime ist daran überraschend und ungewöhnlich, daß nicht Abraham den Melchisedek segnet, wie man von der Segensverheißung Abrahams für die Völkerwelt (Gen 12,1 - 4) her erwarten müßte.
Sondern daß Melchisedek den Abraham segnet und sich Abraham von Melchisedek segnen läßt (Gen 14). J. Petuchowski hat dazu einen informativen Band herausgegeben: »Melchisedek. Urgestalt der Ökumene«. Darin weist er auf, wie schwer es jüdisch-rabbinischer Exegese gefallen ist, anzuerkennen: Nicht Abraham segnet Melchisedek, den heidnischen König der Gerechtigkeit aus der Völkerwelt, sondem Melchisedek segnet Abraham und — was noch bedeutungsvoller für Juden, Christen und Muslime ist — Abraham läßt sich von Melchisedek segnen [66].
Es gibt also eine rabbinische Diskussion, die es entsprechend auch im Christentum und, wie Smail Balic in seinem Buch »Ruf vom Minarett [67].« deutlich gemacht hat, auch im Islam gibt, die sagt und denkt und praktiziert: Eigentlich muß doch Abraham den Melchisedek gesegnet haben und segnen, umgekehrt geht es doch in keinem Fall. Kommt doch der Segen Abrahams in die Völkerwelt und nicht umgekehrt.
Doch, sagt Gen 14, und warnt damit Juden, Christen und Muslime vor Überheblichkeit gegenüber den Nichtjuden, Nichtchristen und Nichtmuslimen: Es gibt die Segnung Abrahams durch den heidnischen König Melchisedek von draußen. Doch, es geht nach Gen 14 genau umgekehrt, als ihr aus eurer orthodoxen Tradition heraus erwarten würdet: Melchisedek segnet Abraham und — noch wichtiger — Abraham läßt sich von Melchisedek segnen. Gen 14, die Begegnung des Abraham mit Melchisedek, ist also eine bis heute unabgegoltene Überlieferung, die über den Trialog hinaus das weite Feld der Begegnung und der Zusammenarbeit mit den außerabrahamitischen Religionen eröffnet und auch von dorther Segen, Segnung und Belehrung erwartet und erhofft.
Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas aus Frankreich hat eine Philosophie und Ethik — nicht des einzelnen in seinem egozentrierten Selbst und nicht des universalen Ganzen der Welt, sondern eine Ethik des Denkens und Lebens vom Anderen her entfaltet.
Leitbild einer Ethik des Lebens und Denkens vom Angesicht des Anderen her ist nach Lévinas deshalb nicht Odysseus, der am Ende nach Ithaka und das heißt nur zu sich selbst zurückfindet. Leitbild der Begegnung mit dem Anderen ist vielmehr und nicht zufällig Abraham: »Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.« Lévinas nennt dieses Aufbrechen zum ganz anderen und diese Faszination durch das Antlitz des Anderen einen »Aufbruch ohne Wiederkehr, der aber dennoch nicht ins Leere führt [68].«
Zu einer solchen Ethik vom Antlitz des Anderen her, vom Angesicht des Anderen her, könnte auch der Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen beitragen. Die Verwundbarkeit durch die Schönheit des Anderen, die Faszination durch das Angesicht des Anderen wurde dokumentiert im Israel-Museum in Jerusalem anläßlich einer Ausstellung »The Bible in the Islamic World« (Dokumentationsband Jerusalem 1991):
Ich habe dort ein islamisches Dokument von beeindruckender Offenheit für den anderen und der Faszination durch das Angesicht des Anderen gesehen. Es ist ein sprechendes Dokument gegen die religiösen Vorurteile und für islamische Toleranz, wie sie Smail Balic in seinem mehrfach genannten Buch »Ruf vom Minarett« und A. Falaturi in seinem informativen Büchlein über Muhammed »Der Islam im Unterricht« 1992 überzeugend und für den Islam gewinnend beschrieben haben. Die folgende Geschichte, so haben mich Islamwissenschaftler belehrt, ist auch ein Dokument der Leidenserfahrung und Leidensverarbeitung im Islam. Das Bild, das ich vor Augen habe, stammt aus dem Iran des 19. Jahrhunderts, der Heimat von Professor Falaturi, und trägt den Titel: Die Hofdamen Ägyptens — überwältigt durch die Schönheit Josephs.
Die auf dem Bild wiedergegebene Bankett-Szene aus der Josephgeschichte ist dabei ein beliebtes Motiv der späteren persischen Malerei. Die islamische Tradition erzählt diese Geschichte — im Bild aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert — wie folgt:
»Einige der Frauen in der Stadt begannen zu tratschen und zu tuscheln: Die Frau des Potiphar sucht ihren Sklavenjungen zu verführen. Sie muß durch ihn verblendet und in ihn vernarrt sein. Wir Frauen der Stadt betrachten das als eine große Dummheit, die sie damit begeht.
Als der Klatsch die Frau des Potiphar erreichte, lud sie die Hofdamen zu einem Bankett in den Palast ein, bereitete Sitzkissen für sie und versah eine jede von ihnen mit einem Messer, mit dem sie sich Äpfel schälen konnten, um ihre Blicke nicht nur auf Joseph lenken zu müssen. Damit sollten sie sich ablenken, um nicht direkt auf Joseph schauen zu müssen. Dann bat sie den Joseph, vor ihnen zu erscheinen. Als die Frauen seine Gestalt und sein Angesicht erblickten, sahen sie gebannt auf ihn. Und in ihrer Verwunderung und Faszination schnitten sie sich, anstatt ihre Äpfel zu schälen, in ihre Hände. So fasziniert waren sie von der Gestalt und dem Angesicht des Joseph [69].«
Ich will mit dieser Geschichte sagen und will mir durch diese Geschichte sagen lassen: Wer sich nicht religiös und menschlich für andere Religionen und andere Kulturen öffnet, der verstümmelt sich selbst am Ende religiös und auch menschlich.
Was ich hier als Trialog-Modell vorgestellt habe und wozu ich hier einladen möchte, ist kein statisches Modell der religiösen Überlegenheit, von dem aus die eine Religion die andere bzw. deren Wahrheit sich integriert und sich so am Ende als überlegen erweist. Ich habe nicht plädiert für ein Modell der Intoleranz aus Überlegenheit und Exklusivität, aber auch nicht für ein Modell der pluralistischen und relativistischen Toleranz und Preisgabe von religiöser Identität.
Ich habe vielmehr vorgestellt ein Modell der Nachbarschaft der Religionen, ein Modell der Nachbarschaft des Israelvolkes, des ökumenischen Christenvolkes und der Abraham-Gemeinschaft der Muslime im Dienst der Segensverheißungen Abrahams für die ganze Menschheit. Ich habe damit vorgeschlagen ein Modell des WEGES: auf dem von Abraham her die Söhne Isaaks und Ismaels, die Töchter der Sara und der Hagar gesegnet werden und auf dem der Segen durch den Abraham-Sohn, Jesus Christus, in die Völkerwelt gelangt, durch den wir als Christen und Christinnen gesegnet werden und zur Sendung an die eine Menschheit bestimmt und zur Bewahrung der Schöpfung berufen sind.
Der Gott Abrahams ist der eine und einzige Gott, der Israel Bund und Treue hält ewiglich und nicht losläßt das Schöpfungswerk seiner Hände. Er ist — wie ihn die Muslime bekennen — der Hohe und Erhabene, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der kommende Richter der Gerechtigkeit.
Aber der Gott Abrahams ist als der Unendliche und Erhabene zugleich der nahe und mitgehende Gott, der Gott, der oben im Himmel ist, aber zugleich bei denen, die arm, entrechtet und zerbrochenen Herzens sind, wie es die Hebräische Bibel unvergeßlich sagt (Jes 65,15). Oder wie es eine der schönsten und faszinierendsten Suren aus dem Koran über Gott verkündet, die zur sprichwörtlichen Rede geworden ist: »Gott ist dir näher als deine Halsschlagader« (Sure 50, 15).
Worum es in dieser Ethik der Nachfolge Abrahams geht, hat A. Falaturi in einem »Appell« aus dem Jahre 1991 so umschrieben: »Zweifelsfrei bildet das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden und in diesem Sinne die Bewahrung und der Schutz der Rechte der Menschen den Kern der Botschaft der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Dieser Wert bleibt unberührt, selbst dann, wenn er immer wieder von Anhängern jeder dieser Religionen verletzt wurde.
Es ist die Aufgabe der heutigen Generation von verantwortungsbewußten Juden, Christen und Muslimen, sich gegenseitig im Sinne der Verwirklichung der Verantwortung für den Frieden in Europa und in der Welt zu bestärken, statt die Verletzung dieser Kardinalwerte zum Anlaß für neue Streitigkeiten zu nehmen. Ansätze für diese gemeinsame Verantwortung gibt es zahlreich in den Schriften der Religionen. Es gibt keinen Frieden in der Welt, ohne den bewußten Einsatz der Anhänger der großen Religionen für den Weltfrieden [70].«
Danach war es nicht zufällig-, sondern höchst charakteristisch, daß König Hussein von Jordanien, ein leiblicher Nachfahre des Propheten Muhammed, am Sarg des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Rabin in Jerusalem mit Berufung auf ALLAH-ELOHIM sagte:
»Laßt uns die Stimme erheben und laut und öffentlich von unserem Bekenntnis zum Frieden sprechen, nicht nur heute hier, sondern für alle Zeiten. Wir glauben an den Frieden. Wir glauben, daß unser Gott, der eine Gott, will, daß wir in Frieden leben, und will, daß Friede auf uns kommt ... Laßt uns hoffen und beten, daß Gott uns allen, einem jeden in seiner Position die Rechtleitung gibt, das ihm Mögliche für eine bessere Zukunft zu tun [71].«
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[1] Überarbeiteter und zum Teil ergänzter Vortrag gehalten am 2.12.1992 auf der von G.B. Ginzel organisierten und geleiteten Trialog Tagung der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von NRW Dr. D. Johannes Rau. Referate und Korreferate hielten u.a. S. Balic (Wien), A. Falaturi (Köln), W. Huber (Heidelberg / Berlin), J. Magonet (London), E.M. Stein (Berlin), M. Stöhr (Siegen), Beate Winkler (Bonn). Unter dem Titel »Die Bedeutung des christlich-jüdischen Gesprächs im christlich-islamischen Kontext« ist der Vortrag am 8.2.1996 im Evangelischen Stadtkirchenverband Köln gehalten worden.
[2] A. Falaturi, Abraham und der Islam. Abraham aus der Sicht des Koran und der mündlichen Überlieferung (unveröffentlicht). — Ders., Wie ist menschliche Gotteserfahrung trotz des strengen islamischen Monotheismus möglich? In: A. Falaturi, J. Petuchowski, W. Strolz [22] (Hgg.), Drei Wege zu dem einen Gott, 1976, S. 45-59.
[3] Interview 1992.
[4] Dialog der Religionen 1/1991, 1.
[5] Th. Sundermeier, »Mission nach der Weise Abrahams«. Eine Predigt über Gen 12,1-9. in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, FS R. Rendtorff 1990, 575-579, 575f.
[6] WDR 3. Programm, 24.11.1992.
[7] CVJM Hagen (Hg.), 140 Jahre. 1995, 24ff, 34ff.
[8] Dialog der Religionen 1/1991, 63.
[9] H. Jochum (Hg.), Ecclesia und Synagoga. Das Judentum in der christlichen Kunst, 1993.
[10] M. Luther, Schriften wider Juden und Türken, München 1936.
[11] J. Triebel, Schriftverständnis im Islam und Christentum, in: Theologische Beiträge 6/1992, 317-332, 325.
[12] S. Balic, Worüber können wir sprechen? Theologische Inhalte eines Dialogs zwischen Christen und Muslimen, in: Dialog der Religionen 1/1991, 57-73, 64.
[13] J. Triebel, a.a.O., 330.
[14] W. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie..., in: Theologische Beiträge 6/1992, 305-316, 316.
[15] P. Knitter, Nochmals die Absolutheitsfrage, in: Evangelische Theologie 49 (1989) 505-515, 512.
[16] P. Knitter, a.a.O., und R. Bernhardt, Ein neuer Lessing? Paul Knitters Theologie der Religionen.
[26] A. Th. Khoury/L. Hagemann/P. Heine (Hg.), Islam-Lexikon 1991, Bd. II, 430; hier in der Übersetzung von S. Balic.
[27] Vgl. Dialog der Religionen 1/1991, 68.
[28] Gen 17, 20.
[29] Gen 12, 4.
[30] Gen 17, 20.23.
[31] Ps 72, 17.
[32] Bd. I: Discerning the Way, 1980; Bd. II: A Christian Theology of the People Israel, 1983; Bd. III: Christ in Context, 1988.
[33] zit. bei F. Mußner, Die Kraft der Wurzel, 1987, 59.
[34] a.a.O., 55ff.
[35] a.a.O., 59.
[36] J. Bouman, Gott und Mensch im Koran, 1977, 2. Aufl. 1989, 76, 78.
[37] Fr.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie, 1988, 280.
[38] a.a.0. S., 281.
[39] Fr.-W. Marquardt, Das Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie. Band 1, 1990,14ff.
[40] H. Küng, Christentum und Weltreligionen, 1984, 54.
[41] a.a.O., 65. — Die verschiedenen eindrücklichen Publikationen Küngs zu »Kein Welfriede ohne Religionsfriede« und »Projekt Weltethos« sind damit nicht pauschal kritisiert; vgl. zuletzt und überzeugend ders., »Ich hätte sonst für die Macht in der Kirche meine Seele verkauft« (FR Nr. 59 vom 9.3.1996, 14).
[42] S. Balic, in: Dialog der Religionen 1/1991, 57.
[43] K. Barth, Kirchliche Dogmatik 1938, § 17.
[44] K. Barth, Briefe 1961 - 1968. 1975, 505; B. Klappert, Versöhnung und Befreiung, 1994, 43ff.
[45] K. Berger, Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. II, 3. Aufl. 1989, 407 - 410.
[46] a.a.0., S. 409f. [46]
[47] a.a.O., 409f.
[48] a.a.O., 409.
[49] ebd.
[50] K. Barth, Ad Limina Apostolorum, 1967, 40.
[51] K. Barth, Briefe 1961 - 1968, 1975, 504f.
[52] a.a.O., 505.
[53] J. Bouman, Das Wort vom Kreuz und das Bekenntnis zu Allah, 1980, 1,30ff, ders., Gott und Mensch im Koran, 1977, 2. Aufl. 1989, 32f.; 0. Schumann, Der Christus der Muslime, 1975, 36f.
[54] S. Balic, in: Dialog der Religionen 1/1991, 70.
[55] Islam-Lexikon (vgl. Anm. 17) Bd. II, 43 1.
[56] H. Küng, Christentum und Weltreligionen, 1984, 60.
[57] W. Zimmerli, Studien zur alttestamentlichen Theologie GA II 1974, 284ff, 289.
[58] a.a.O., 290.
[59] a.a.O., 295.
[60] Fr. Mußner, Der Jakobusbrief (Herders Theologischer Kommentar zum NT), 5. Aufl. 1987, 254ff.
[61] a.a.O., 258.
[62] S. Balic, Ruf vom Minarett, 3. Aufl. 1984, 184ff, 241ff.
[63] Zit. bei W. Zimmerli (Anm. 45), 80.
[64] L. Baeck, Dieses Volk, Bd. I 1955, 126.
[65] Vgl. W. Huber, Artikel Menschenrechte/Menschenwürde, TRE Bd. XXII 1992, 577 - 602.
[66] J. Petuchowski, Melchisedech. Urgestalt der Ökumene, 1972, 11 - 37.
[67] S. Balic, Ruf vom Minarett, 117 - 245.
[68] E. Lévinas, Die Spur des Anderen 1983, 215f — H.H. Henrix (Hg.), Verantwortung für den anderen — und die Frage nach Gott, 1984.
[69] In: Biblical Stories in Islamic Paintings, Israel-Museum, Jerusalem 1991; vgl. auch H.J. Margull: Verwundbarkeit, in: Ev. Theologie 34/1974, 410 - 420.[70] A. Falaturi, Der Islam im Unterricht 1991, 11.
[71] Aus: »Jerusalem Post« vom 7.11.1995.