Lieber Bruder Johannes!
Ich habe deine Predigt über den Psalm 115,1-3 gelesen. (1) Du hast sie 1545 in Genf gehalten, und einer der Predigthörer hat sie aufgeschrieben. Mir ist aufgefallen, dass du die besondere Situation deiner Hörerinnen und Hörer zum Ausgangs- und Endpunkt der Predigt gemacht hast. Du hast die Psalmverse als Orientierungshilfe, als Trost, Ermahnung und Ansporn ausgelegt. Ich habe nochmals im Geschichtsbuch nachgelesen, welche Ereignisse die Menschen 1545 in Genf beschäftigten. Es werden keine herausragenden Ereignisse geschildert.
Aber ich vermute, dass die Umsetzung der Kirchenordnung in Genf zu Spannungen führte, dass Nachrichten aus Frankreich beunruhigten, dass Flüchtlinge in der Stadt betreut werden mussten, dass Ansprüche katholischer Fürsten auf die Stadt immer wieder laut wurden. Außerdem begann 1545 das Trienter Konzils als Antwort auf die Reformation. Es war also eine vielfach bewegte Zeit, eine unruhige Zeit, eine beängstigende Zeit.
Du sprichst von Anfechtung:
Wenn unser Herr seine Gläubigen anficht, so zielt er immer darauf, seinen Namen zu verherrlichen. Der Hauptzweck von allem, was wir in dieser Welt aushalten müssen, ist, dass der Name Gottes verherrlicht wird. (S.11).
Ich denke, dass die Protestanten in deiner Zeit viel aushalten mussten, aber du hast darin Gottes Vorsehung gesehen: in Bedrohung und Gefährdung als Strafe, in Rettung und Hilfe als Bewahrung. Aber vor allem geht es dir darum, dass Gottes Name verherrlicht werde, und das könne eben auch in den Anfechtungen der Gläubigen geschehen.
Mich überraschte deine Einleitung, denn nach den Versen des Predigttextes hatte ich etwas anderes erwartet. Natürlich versuche ich heute auch, die Hörerinnen und Hörer in ihrer Situation abzuholen. Aber der Gedanke der „Anfechtung“ kommt für mich an zweiter Stelle, weil es erst im zweiten Vers des Psalms um eine Vertrauenskrise geht.
Ich selbst beginne bei der Auslegung dieses Psalms damit, dass die Psalmbeter sich so auffallend zurücknehmen und Gott bitten, seinen Namen zu ehren (V.1). Es ist ungewohnt für unsere Ohren heute, dass sich Menschen so zurücknehmen. Wir hören immer wieder, dass in unserer Gesellschaft und Kirche etwas ganz anderes gefragt ist: sich laut zu Wort zu melden, sich deutlich zu positionieren, sich möglichst breitzumachen, sich ein Denkmal zu setzen. Namen, die Weltgeschichte schrieben, standen oft für Gewaltherrschaft und Unterdrückung, für Eroberung und Ausbeutung. Wie spät ist damit angefangen worden, die Namen der Opfer zu festzuhalten und Friedensnobelpreise zu überreichen?
Die Psalmbeter nehmen sich jedoch zurück, um Gott zu bitten: »deinem Namen gib Ehre« (V.1). Der alttestamentliche Psalm scheint die Situation des Gottesdienstes aufzunehmen. Es ist wie das Gebet einer Gemeinde. Diese Gemeinde nimmt sich zurück und gibt Gott die Ehre. Vielleicht erinnert sie sich nach der Zerstörung des Tempels und der Verschleppung ins Exil an die eigenen Zweifel an Gottes Zusage. Vielleicht denkt sie an Ungerechtigkeit und vorgetäuschte Frömmigkeit, an all die gelebten Widersprüche zu Gottes Wort.
Was bedeutet es, wenn Menschen sich heute so im Glauben zurücknehmen? Sie werden dadurch von hohen Erwartungen an ihre moralische Integrität entlastet. Sie werden in ihrer Ambivalenz gesehen: mit ihrer Furcht, ihren Interessen, ihrer Selbstgerechtigkeit. Und Jesus selbst hat es seine Jünger beim Beten gelehrt. Beim Unservatergebet bitten wir darum, dass Gott selbst seinen Namen heiligen und seinen Willen geschehen lassen möge. Gott allein kann und er möge seinen Namen heiligen.
Lieber Bruder Johannes, du hattest für die Zuhörerinnen und Zuhörer einen Rat:
Sobald Gott den Bösen die Zügel schießen lässt, muss man ihn anrufen. Und wie? Bekennen, dass wir nicht wert sind, dass er uns erlöst, nicht unsere Verdienste anführen, sondern ihm die Ehre seines Namens vorhalten. Und im übrigen wollen wir unser Vertrauen darein setzen, dass wir einen Gott haben, der uns in seine Hut genommen hat: er wird uns halten, wieʼs auch gehe, keine Macht kann sich gegen ihn erheben, sie geht daran zugrunde.
Du wurdest nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Gläubigen keine eigenen Verdienste anführen könnten, um Gottes Hilfe einzufordern. Du vertraust auf die große Güte Gottes. Du tröstest und vermittelst eine große Zuversicht angesichts der Angst deiner Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich erkenne die reformatorische Erkenntnis von Sünde und Gerechtigkeit des Menschen: Rechtfertigung des Sünders allein wegen der Gnade Gottes! Reformatorische Einsichten sind uns heute bekannt, aber wir müssen sie dennoch nachbuchstabieren, weil sie uns in der Dringlichkeit nicht mehr bewusst sind. Wann erkennen wir unsere Sünde und überlassen uns der Gnade Gottes? Wenn wir in Not geraten, sei es selbst- oder fremdverschuldet? Wenn wir vor einem Scherbenhaufen stehen? Wenn wir Angst vor der Zukunft haben? Auf jeden Fall ist unsere Bitte um Hilfe sehr deutlich und geschieht oft sehr ungeduldig.
Du bittest nicht direkt um Gottes Hilfe, denn es geht dir vorrangig um die Ehre seines Namens. Aber wo sollte die Verherrlichung auf Erden besser geschehen als bei denen, die Gott erwählt hat? Und wenn gerade die, die größte Not erleben, die ihr Vertrauen auf Gott setzen, in ihre Treue belächelt oder sogar verhöhnt werden?. Durch die Erwählung siehst du Gott an die Seinen gebunden, bei seiner Treue behaftest du ihn. Du sagtest:
Wenn wir sagen, verherrliche deinen Namen, so heißt das: verherrliche ihn an uns, weil du uns erwählt hast, du musst uns retten, sonst wird dein Name gelästert.
Es gab eine Vertrauenskrise – darauf deutet der Psalm hin. Immer wieder wird das Vertrauen zu Gott auf die Probe gestellt. »Wo ist denn ihr Gott?«, heißt es dazu im Psalm. War das überhaupt eine ernst gemeinte Frage? War es die Frage der anderen oder die eigene Frage geworden? Wie lassen sich die Vertrauenskrisen in der Geschichte Israels bewältigen, wie all die Nachstellungen, die Minderheitskirchen in der Geschichte erlebten? Wie gut, sich dann an tradierte Einsichten und Bekenntnisse halten zu können. »Unser Gott ist im Himmel. Er kann schaffe, was er will«, bekennen die Psalmbeter und vergewissern sich seiner Macht. Auch heute wird oft nach Zeichen gesucht, die auf Gottes Hilfe hinweisen: segensreiches Handeln, Hilfe für andere, Hingabe. Gott kann das Vertrauen stärken, indem er seinem Namen Ehre gibt.
Du erklärst, wie wichtig es ist, dass nicht nur von einem Gott im Himmel, sondern von unserem Gott gesprochen wird:
Wenn nämlich auch ein Gott im Himmel wäre und wir hätten keine Beziehungen zu ihm, was hätte das für einen Wert für uns. Darum: unser Gott. (...) Ist er unser Gott, so kennt er uns also als seine Kinder an. Er ist im Himmel, nicht als ob er da eingeschlossen wäre. (S.14).
Du greifst gerade dieses Wort aus dem Psalmvers heraus und erinnerst an diese Beziehung zwischen Gott und uns als seinen Kindern. Dieser Gott im Himmel, dieser Allmächtige hat sich Menschen zugewandt und an sein Volk gebunden. Er ist unser himmlischer Vater.
Nun aber wollen wir dies Gebet entsprechend auf unsere Not anwenden. Es ist heute die rechte Zeit dazu, denn wir sehen ja, in welchem Zustand sich die Kirche Gottes befindet.« (S.14f). »Oh Herr, greife ein, hilf du. Heutʼ ist die rechte Zeit, die hier beschriebene Bitte zu beten, wohl gilt sie für alle Zeiten, aber wenn die Not drängt, dann soll man sie besonders nutzen. Wir sollten ganz eifrig sein.« (S.16).
Not lässt sich nicht herbeireden, was wäre das für eine Seelsorge? Du kennst die Not und beschreibst sie. Du nimmst die Notlage deiner Hörerinnen und Hörer sehr ernst. Du formulierst die Bitte der Gemeinde an Gott. Ich höre deine Einsicht von Schuld und Ergehen, aber auch die Hoffnung auf Rettung.
Wir sind heute nicht in dieser Notlage. Sie ist uns fremd. Dafür können wir nur dankbar sein. Wir erleben die Not heute viel individueller gesehen – jede/r bringt seine Verletzungen und Vorstellungen mit. Die Erwartungen an die Gemeinde gehen weit auseinander. Die Not der Gemeinde wird immer wieder durch sinkende Zahlen in vielen Bereichen ausgedrückt. Unsere Bitten um Gottes Hilfe kannst du dir nicht vorstellen, Bruder Johannes. Mit der Not deiner Zeit geht es uns leichter. Du siehst auf die äußere Bedrohung und Gefährdung sowie die inneren Spannungen beim Umsetzen der Reformation in Genf. Ich finde es beeindruckend, dass du trotz allem der Genfer Gemeinde und anderen Gemeinden ins Gewissen reden kannst. Du machst ihnen auch bewusst, dass sie von Gott beschenkt sind.
Heutzutage sollte unser Leben leuchten, sodass es den Ungläubigen den Mund schlösse. (...) Und wie ist ʼs? Unser Leben ärgerlich, ein Missbrauch seiner Gnadengaben. (S.15).
Das Verhalten der Protestanten wird beobachtet, es ist nicht beliebig und liefert den Gegnern Argumente im Streitgespräch und in der gesellschaftlichen Anerkennung. Dass du, was die einwandfreie Lebensgestaltung der Gemeindeglieder betrifft, sehr weit gegangen bist, wird dir seit Jahrhunderten immer wieder vorgeworfen. Aber dass christlicher Glaube im Alltag Früchte hervorbringen soll, ist doch biblische Lehre.
Und sicher ist es auch hilfreich, nicht nur die Ermutigung und die Ermahnung durch die Predigt zu hören, sondern zu bedenken, dass Not nicht allein getragen zu werden braucht. Mehrmals erinnerst du in der Predigt an die Existenz der Gemeinde als Leib Christi.
Wir bedenken gar nicht, was es ist um die Verbundenheit, die Jesus Christus zwischen seinen Gliedern haben wollte. (...) Wir wollen doch bedenken: was einem Glied der Kirche geschieht, geschieht uns. Wir sehen Durcheinander ringsum, Krieg herrscht unter den Menschen, wir sollten einen Schauder vor dem Blutvergießen haben. (...) Wir dürfen nicht so gleichgültig sein, jetzt ist ʼs Zeit zu Gott zu flehen. Man sollte alles andere vergessen, und können wir ihnen nicht mit unseren Händen helfen, so sollten wir für sie beten; auch für uns, wieʼs der Kirche geht, betrifft ja nicht nur ein Glied. (S.16).
Deine Zuhörer und Zuhörerinnen scheinst du noch in einer relativ sicheren Position zu sehen. Ich höre dich an die erinnern, die einer elementaren existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind. Du beschwörst die Verbundenheit, die biblisch durch das Gleichnis vom Leib Christi begründet ist. Du empfiehlst ihnen, den Brüdern und Schwestern in den anderen Gemeinden mit den Händen zu helfen oder zumindest für sie zu beten.
Wir suchen eine Gemeinschaft mit anderen Gemeinden – auf synodaler Ebene und auf partnerschaftlicher Ebene, aber die Intensität ist eine ganz andere. Die Sorge um die armen Brüder lässt dich nicht los, auch wenn es doch eigentlich vorrangig um die Ehre des Namens Gottes geht und wenn dieser Verherrlichung auch das Leben der Gläubigen dienen soll.
Wir wollen nicht sagen, gib dem Namen Ehre und dabei doch nicht leidenschaftlich daran Anteil nehmen. (...) Nein, wir wollen uns da wahrhaftig ereifern, höher davon halten als von unserem eigenen Leben, ja höher als vom Heil unserer Seelen; lieber wollen wir vergehen, als dass sein Name im geringsten verkleinert werde (...), dann müssen wir seinen Namen höher halten als alle Dinge. Wir sind ja freilich auch noch Menschen und sollen auch als solche nicht herzlos sein, bitten dich, Herr auch um des willen, dass du Erbarmen habest mit unsern armen Brüdern. (S.18).
Mit deinem Schlusswort erinnerst du mich an die Bitte des Vaterunsers »Dein Wille geschehe«, ja er möge geschehen. Nicht dass es ein unbekannter Wille sei, sondern offenbart in den biblischen Verheißungen. Nicht dass er sofort die Bitten erfülle, und die Klagen beantworte, aber dass er hält, was er verspricht.
So wollen wir schließen: Es wird uns nichts widerfahren außer sein Wille. Und damit meint der Prophet nicht den heimlichen Willen Gottes, sondern den in der Schrift enthüllten, der in seinen Verheißungen steht, die klar und deutlich sind. (...) Gott tut alles, was er will, daran wollen wir uns in unseren Widerwärtigkeiten trösten. Und steht uns Gott nicht sofort bei, so wollen wir warten, er wird uns nicht betrügen. (...). Er weiß, wenn es Zeit ist. (S.21).
Ich lese den Psalm zu Ende und entdecke: Menschen nehmen sich zwar am Anfang zurück, doch der Psalm spricht nicht von Enge. Indem Menschen Gott die Ehre geben, erkennen sie sich in ihren Möglichkeiten auf der Erde, unbeeindruckt durch falsche Götter. Sie können Vertrauen stärken, Segen empfangen und weitergeben. Sie können Halleluja singen – Juden und Christen. Es ist ein entlasteter Psalm, ein ermutigender Psalm, er lädt ein, Gott zu loben, Gott zu segnen. Das tut mir heute gut.
Ich grüße dich – mit dir in Christus verbunden –
deine Schwester Elisabeth
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(1) Abgedruckt bei Erwin Mülhaupt, Johannes Calvin. Diener am Worte Gottes. Eine Auswahl seiner Predigten, Göttingen 1934, S. 11-21 (CR 60, 456ff). Die Predigt wurde im November 1545 gehalten.