Paukenschlag und Grundrhythmus

Predigt zu Apg 2,41–47 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 23. Juli 2023 (7. Sonntag nach Trinitatis)


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

der Predigttext steht in der Apostelgeschichte im 2. Kapitel. Petrus hält eine fulminante Pfingstpredigt, die viele weitere Menschen begeistert. Dann wird erzählt:

41Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.
42Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. 43Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. 44Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
45Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. [Lutherübersetzung 2017]

[II]

So ist es heute nicht. Heute ist es vielmehr so: Ein Pfarrer aus Wiesmoor hält beim Kirchentag eine fulminante Predigt, die die Hörerinnen und Hörer begeistert. Oft brandet Beifall auf. Der Pfarrer redet engagiert und authentisch. Seine Botschaft lautet wie das Motto des Kirchentages: „Jetzt ist die Zeit“. Die Zeit, auch ehrlich Dinge zu benennen, die nicht so gut laufen in unserer Gesellschaft und in unseren Kirchen. Denn die Kirchen sind nicht ein Ort, in und an dem alle Menschen Ruhe und Sicherheit finden. Es ist dort nicht alles gut, sondern es gibt auch in der Kirche Rassismus. Gott aber ist ein Gott, der an der Seite der Unterdrückten steht. Die Kirche sollte auch an der Seite der Unterdrückten stehen.
Die nun beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages das gepredigte Wort hörten und annahmen, die mussten (anders als im Predigttext) nicht mehr getauft werden. Sie waren es schon.

Und noch einen Unterschied gibt es. Wir leben in einer Welt mit sozialen Netzwerken, in denen jeder und jede mit Namen oder anonym alles und jeden kommentieren kann. Das geschieht leider nicht nur in sachlicher Form. Sondern zum Teil unsachlich und voller Hass, mit pauschalen Vernichtungsfantasien gegenüber Menschen, die anders zu sein scheinen als sie selbst. Kommentare mit konkreten Drohungen gab es.

Herabsetzende Kommentare zur Person des Pfarrers, Kommentare zu seinem Haar und seiner Frisur. Unterstellungen zu seinen Karriere-Plänen. Sätze aus dem Zusammenhang reißend. Unter den Kommentierenden waren auch etliche Pastoren. Einige davon in einer Facebook-Gruppe, die „Predigtkultur“ heißt. Diese Facebook-Gruppe ist eine geschlossene Gruppe mit über 5.000 Mitgliedern. Sie hat sich zum Ziel gesetzt hat, Predigten anderer respektvoll zu kommentieren, damit diese Predigten besser werden. Die Pastoren, die in diese Facebook-Gruppe hinein Vernichtendes geschrieben haben, haben auch gegen die schriftlich festgelegten Regeln, die innerhalb dieser Gruppe gelten, verstoßen. Es dauerte 72 Stunden, bis dieser Welle des Hasses eindeutige Statements von Seiten des Kirchentags folgen.

Das ist unsere christliche Wirklichkeit. Ein Satz aus dem Predigttext vom 11. Juni, dem Tag jenes Abschlussgottesdienstes, kommt mir in den Sinn – aus dem 1. Brief des Johannes: Wer behauptet: „Ich liebe Gott!“, aber seinen Bruder und seine Schwester hasst, ist ein Lügner. Denn wer seine Geschwister nicht liebt, die er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.

[III]

Was ist da passiert? Liegt es nur an den digitalen Möglichkeiten? Liegt es nur daran, dass kirchliche Institutionen kein so effektives Krisenmanagement haben wie große Unternehmen? Oder ist der alte Text aus der Apostelgeschichte geschönt, falsch erinnert? Einmütigkeit! Gütergemeinschaft! Harmonisch Beieinander-Sein in Gebet und Gottesdienst? Gab es das wirklich jemals? Ohne Konflikte? Keine Morddrohungen gegenüber Petrus? Waren die ersten Christinnen und Christen Menschen aus „Happyland“, wie der Pfarrer aus Wiesmoor im Kirchentagsabschlussgottesdienst sagte? Menschen, die sich in einem glücklichen Land wähnen und alles Negative nicht wahrhaben wollen?

Durch welche Brillen gucken wir? Ich gucke definitiv durch eine rosa Brille, denn ich hätte nicht gedacht, dass so etwas passieren könnte. Ich dachte: Aber natürlich sind Kirchen sichere Orte für alle Menschen! Zurück bleibt bei mir eine Verunsicherung – und der Vorsatz, meine Brille öfter mal zu kontrollieren.

[IV]

Und dann trifft dieser Bibeltext noch einen wunden Punkt. Eine einzige Petrus-Predigt: 3.000 Menschen, die sich taufen lassen. Am Ende wird der stete Zuwachs noch einmal bekräftigt: Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. Der Text trifft uns in einer Zeit, in der die Kirchenaustrittszahlen des letzten Jahres bekannt gegeben werden: Im Bistum Hildesheim sind 2022 etwa ein Drittel mehr Menschen aus der katholischen Kirche austreten als im Jahr zuvor.1 EKD-weit sind die Austrittszahlen ebenfalls etwa ein Drittel von 2021 nach 2022 gestiegen.2 Und in unserer kleinen evangelisch-reformierten Kirche sind im Vergleich zu 2021 zwei Drittel (!) mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten: nicht 1.495, sondern 2.414.3

Nicht 3.000 Eintritte nach Petrus‘ Predigt, sondern 2.414 Austritte.

Ich weiß natürlich, dass man nur der letzten Zahl trauen kann, denn wir haben ja eine Verwaltung und gute Statistiker. Und ich weiß auch, dass die Zeiten einfach nicht vergleichbar sind. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wir sind nicht mehr am Anfang des Christentums, sondern wir leben 2000 Jahre in einer Kirche mit einer ganz anderen Struktur und in einer ganz anderen Zeit.

[V]

Der Bibeltext setzt einen Paukenschlag4 mit seiner nahezu wunderbaren Beschreibung der ersten Gemeinden. Das klingt, als sei es nicht von dieser Welt – wie ein längst aufgegebener Traum. Volle Besetzung, eine ganz große Aufführung, die die Apostelgeschichte da vorgibt. Wie gehen wir damit um? Vor allem, wenn sich die Forschung einig ist, dass es so in Jerusalem nie war – so groß, so einmütig, so harmonisch, so voller Wohlwollen.

Wir gucken nochmal in den Text. Da steht am Anfang: Es wurden hinzugefügt… Und am Ende: Der Herr aber fügte täglich … hinzu … Und dazwischen: Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. … Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen.

Das Tun Gottes und das Tun der Gläubigen wird unterschieden. Gott ist es, Gott der Herr, der die Gemeinde wachsen lässt. Die Gemeinschaft der Gemeinde ist kein freier Zusammenschluss, auch kein Ergebnis fulminanter Predigten (puh!), sondern eine Wirkung von Gottes Handeln.

Und diese Gemeinschaft der Gläubigen, die vertieft sich in die Lehre der Apostel, sie beschäftigt sich mit dem, was sie eigentlich glauben. Sie legen die Grundlagen ihres Glaubens nicht ad acta, sondern halten diese Grundlagen lebendig. Und sie brechen das Brot. Das muss wichtig gewesen sein, denn es wird zwei Mal genannt. Man weiß nicht genau, was damit konkret gemeint war. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Ritus des Brotbrechens zu Beginn der Mahlzeiten gemeint ist. Paulus hatte ja gesagt, das Satt-Essen solle bitte getrennt vom Abendmahl und zu Hause stattfinden. Wenn also das Brotbrechen hier und dort in den Häusern stattfand, dann sind es gemeinsame Mahlzeiten. Das Brotbrechen beim Abendmahl schwingt aber natürlich mit, denn in der Emmaus-Geschichte erkennen die zwei Jünger den auferstandenen Jesus Christus an genau dieser Geste und sowohl das Pessach-Mahl beginnt mit dem Brechen des Brotes als auch das Abendmahl mit den Abendmahlsworten, die davon sprechen.

Der Paukenschlag geht also über in einen Grundrhythmus von Beten, Essen, Abendmahlsfeiern, Beschäftigung mit dem, was man glaubt.

[V]

Das ist die Botschaft für uns heute: Wenn Gott nicht will, wird es keine fulminanten Gemeindezuwächse nach fulminanten Predigten geben. Oder anders: Gottes Geist weht, wo Er will.

Der Umkehrschluss ist übrigens nicht zulässig. Wir können nicht umgekehrt schlussfolgern, Gott wolle den Zusammenbruch der Kirchen. Lasst uns nicht vollmundig sein mit dem, was Gott will oder nicht will. Es ist ganz ausreichend, wenn mein eigener Verstand mir sagt, es könnte schon möglich sein, dass Gott nicht alles gefällt, was er da bei uns sieht.

Unser Part ist nicht das Spekulieren, nicht das Schielen auf die Größe oder den Niedergang der Kirche. Unser Part ist das Beibehalten des Grundrhythmus.

Und der Bibeltext? Er sagt wie viele Erinnerungen: Der Anfang war echt gut. Ein Paukenschlag.
Und jetzt bleibt drin im Grundrhythmus!

Amen.

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1 13.674 > 10.152 = 35%

2 380.000 > 280.000 = 36%

3 2.414 > 1.495 = 61%. (Stand: 29.06.2023)

4 Das Bild von Paukenschlag und Grundrhythmus verdanke ich Jörg Conrad (Göttinger Predigtmeditationen 64 (2010), 324–329)


Bärbel Husmann