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Johannes 14,19
Predigt am Neujahrstag. Von Marco Hofheinz, Bern
„Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,19)
Liebe Gemeinde,
ein neues Jahr hat begonnen. Ich weiß nicht genau, wie es Ihnen mit dem Jahreswechsel geht. Für die meisten Menschen stellt sich an dieser Schnittstelle im Kalender die Lebensfrage. Sicherlich in ganz unterschiedlicher Gestalt, aber doch immer wieder als diese eine bedrängende, uns ängstigende Frage: Wie werde ich dieses neue Jahr erleben? Werde ich überhaupt dieses Jahr erleben? Und wie sieht es mit den Menschen aus, die mir wichtig sind?
Wir Menschen fragen so,
- ob als 14-Jähriger, der einfach nur von seinen Mitschülern in Ruhe gelassen und nicht dauernd gemoppt werden will,
- ob als 35-jährige schwangere Frau, die sich sorgt, ob mit ihrem Kind alles gut wird,
- oder ob als 90-jährige Greisin, die ihr Leben gelebt hat und einfach nur noch ohne Schmerzen einschlafen möchte.
Wie unterschiedlich die Lebensfrage im Einzelnen auch immer ausfallen mag, so dürfte doch grundsätzlich unbestreitbar sein: Die Lebensfrage stellt sich uns allen. Sie beschäftigt uns alle. Sie treibt uns alle um. Dies hängt mit der schlichten Tatsache zusammen, dass wir alle leben wollen.
Alle? Ja, alle. Selbst derjenige, der nicht mehr leben will, weil ihm das jetzige Leben durch Schmerzen unerträglich geworden ist. Grundsätzlich will auch er leben und zwar glücklich leben. Gerade weil er aber die Hoffnung auf ein solches glückliches Leben in seinem jetzigen Leben aufgeben musste, weil es ihm unerreichbar ist, wünscht er sich den Tod. Aber was ist der Todeswunsch dann anderes als der Ausdruck des verzweifelten Wunsches nach Leben, nach Leben ohne Schmerzen, ohne Einsamkeit, eben nach glücklichem Leben? So verstanden ist also selbst das Erlöschen des Lebenswillens, das in den Tod treibt, Ausdruck eines größeren, umfassenderen Lebenswillens, dessen wir uns nicht einfach entledigen können wie eines Kleidungsstückes.
Und dann gibt es natürlich die Extremsituationen, die uns vor Augen führen, wie sehr wir am Leben hängen. So lassen uns etwa die Berichte unserer Väter oder Großväter aus der Kriegsgefangenschaft erschaudern, als es nichts zu essen gab und die Menschen buchstäblich den Putz von Wänden aßen, nur um weiterzuleben.
Wie stark und wie beherrschend der Lebenswille sein kann, das wird uns bisweilen in der Silvesterzeit durch Filme deutlich. Vielleicht erinnern Sie sich noch an „Den Seewolf“ mit Raimund Harmstorf, der Jahr für Jahr neu in der Silvesterzeit ausgestrahlt wird. Ich meine nicht die berühmte Kartoffelquetscher-, sondern die Knöchel-Szene. Vom Seewolf im Stich gelassen, muss Humphrey van Weyden allein, mit einem verstauchten Knöchel und ohne Nahrung auf die andere Seite einer Insel gelangen. Dort befindet sich eine rettende meteorologische Station. Wie ein Reptil kriecht van Weyden, der mit seinem verstauchten Knöchel nicht mehr laufen kann, über die unbewohnte Insel. Doch sein Lebenswillen treibt ihn vorwärts: „Dank irgendeines seltsamen Elements gelang es mir immer wieder einen neuen Streifen Willens zu finden, der mich ein Stück weiter schob. Im Grunde aber befand ich mich wohl eher auf der Entwicklungsstufe eines Gewürms, das sich ohne eigenen Willen wand, krümmte und sich weiterschlängelte, weil das Leben selbst ihm befahl, sich zu winden, zu krümmen und weiterzuschlängeln.“
Van Weyden will leben, einfach nur leben. Und so scheut er nicht davor zurück, einem kranken Wolf aufzulauern: „Seit Tagen trieb sich ein Wolf in meiner Nähe herum. Offenbar war er krank oder verletzt und konnte kein Wild mehr erwischen. Wie ich hatte er Hunger. Er witterte meine Schwäche und wartete geduldig auf seine Stunde. Wir waren ein sonderbares Gespann, ein kranker Mann und ein kranker Wolf. Wenn ich morgens aufwachte und die Augen öffnete, hob er sofort den Kopf und starrte mich an. Er sah eher verlegen und schuldbewusst aus als gefährlich. Eher wie ein jämmerlicher, ratloser Köter. Aber auch sein harmloses Blinzeln konnte mich nicht täuschen. Er wartete, bis ich sterben würde. Seine Geduld war erschütternd. Je deutlicher ich begriff, dass die Gnadenlosigkeit der Natur mich zur Beute für eine heruntergekommene Kreatur machen wollte, desto irrsinniger kam es mir vor zu sterben, nachdem ich soviel ausgehalten hatte. Es war freilich der reine Wahnsinn, aber ich beschloss, den Wolf selbst zu erwischen. Fast einen halben Tag musste ich unbeweglich liegen bleiben, bevor er heran kroch. Er konnte nur schwach kämpfen, aber ich hatte auch nicht viel Kraft. Ich drückte mein Gesicht dicht an seine Kehle und packte mit den Zähnen zu und geriet an seine Halsschlagader. Dann fühlte ich ein warmes Rieseln im Mund. Angenehm war es nicht. Es war ungefähr so, wie wenn ich mir geschmolzenes Blei in den Magen gegossen hätte.“
Liebe Gemeinde, wir Menschen hängen am Leben. Wir überwinden allen Ekel und alle Scheu, nur um leben zu dürfen. Und nun sagt uns unsere Jahreslosung: „Ihr sollt leben“. Schön, denken wir, wenn wir das hören. Schön, dass uns jemand unser Existenzrecht zubilligt. Wie nett und wie edel, dass uns hier jemand nicht den Tod wünscht. Ermutigend, wird vielleicht auch die eine oder der andere denken, ermutigend, dass das unter Menschen offensichtlich doch auch möglich ist, dass man sich das Dasein gönnt, dass man im anderen Menschen den Bruder, und nicht nur den Konkurrenten im Kampf um das Dasein sieht.
Insofern finden wir die Jahreslosung wohlklingend, leuchtet sie uns ein und verstehen wir sie. Schwierig wird es allerdings mit dem ersten Satz, dem Vordersatz: „Ich lebe.“ „Ich lebe“ – ja, was hat dieser Vordersatz mit dem Nachsatz „und ihr sollt auch leben“ zu tun? Worin besteht eine Verbindung zwischen den beiden Sätzen? Und welchen Sinn macht das kleine Wörtchen „und“, das beide Sätze verknüpft?
Es wird darauf ankommen, dass wir beachten, wer diese beiden Sätze spricht. Nur, wenn wir uns darüber klar werden, können wir die Jahreslosung verstehen. Nun wissen wir alle, wer dies tut. Es ist der Mensch Jesus von Nazareth, der diese Sätze spricht und zwar nicht einfach irgendwo in den Evangelien, sondern im Johannesevangelium in den sogenannten Abschiedsreden an seine Jünger. Es handelt sich um Jesu Abschiedsworte, gewissermaßen um das Testament, das er aufsetzt, bevor er an das Kreuz geht. In den anderen Evangelien begegnen uns diese Worte erst nach dem Tode Jesu, erst im Garten des Joseph von Arimathäa, wo sie den toten Jesus hingelegt hatten. Die Frauen, die ihn am Ostermorgen suchen gingen, bekamen diese Worte zu hören: Er ist auferstanden. Er lebt!
Wenn Jesus im Johannesevangelium solche Worte noch vor seiner Kreuzigung spricht, dann nimmt er die Osterbotschaft vorweg. Offensichtlich hat also die Jahreslosung etwas mit Ostern zu tun, denn das „Ich lebe“ ist ja die Osterbotschaft. Die Osterbotschaft besagt aber noch mehr, nicht einfach nur dass er, Jesus, lebt, sondern dass wir mit ihm leben.
Das ist das Wunderbare und Besondere der Geschichte dieses Jesus von Nazareth, das, was von keinem anderen Mensch sonst gesagt werden kann, dass seine Geschichte immer auch unsere Geschichte einschließt. Jesu Geschichte ist immer zugleich unsere Geschichte. Immer sind wir mit dabei. Bei seinem Tod sterben wir mit ihm. Und so wenig wie er, bleiben auch wir im Tode, sondern stehen mit ihm auf. Seine Auferstehung ist die Heraufführung des neuen, mit Gott versöhnten Menschen. Und diesen neuen Menschen hat die Jahreslosung im Blick. „Ihr sollt leben“ – das heißt: Ihr sollt leben als neue, als mit Gott versöhnte Menschen. Dieser Satz ist allerdings keine Aufforderung. Er ermahnt uns nicht: Nun lebt doch endlich als neue Geschöpfe, als mit Gott versöhnte Menschen! Strengt euch doch mal ein bisschen an! Nein, so nicht. Gott hat in Christus die Wirklichkeit des neuen Menschen heraufgeführt. Wir sündigen Menschen können dazu nichts tun und rein gar nichts beitragen. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2Kor 5,19) – so betont es Paulus.
„Ihr sollt leben“ – besagt das Gleiche. Nach dem Johannesevangelium spricht Jesus diese Worte in seinen Abschiedsreden im Blick auf das, was nun geschehen wird. Er sagt es im Blick auf sein Kreuz und seine Auferstehung. „Ihr sollt leben“ – das bedeutet: Ihr werdet leben als neue Menschen, neue Geschöpfe. Ihr werdet leben, weil ich ans Kreuz gehen und den Tod besiegen, ins Grab gehen und auferstehen werde. Ihr werdet leben, weil ich leben werde.
Und hier sind wir nun beim Kern unserer Jahreslosung angelangt, nämlich bei der Antwort auf die Frage, warum die beiden Sätze „Ich lebe“ und „Ihr sollt auch leben“ nicht voneinander getrennt werden können. Weil Jesus sich mit uns identifiziert. Weil er uns mit hineinzieht in sein Sterben und sein Auferstehen. „Ihr werdet leben“, das kann Jesus nur sagen, weil er weiß: „Mein Leben ist der Durchbruch nach vorn, er ist der Durchbruch durch den Sperrkreis des Todes, der euch alle bannt. ‚Ich geh’ voran, ich brech die Bahn, bin alles in dem Streite.’“
Nun möchten wir Menschen natürlich wissen, wo wir als neue Geschöpfe leben werden. Im Himmel? Oder noch auf der Erde? Betrifft also das „Ihr sollt leben“ nur die jenseitige Welt oder auch die noch Bestehende? Sagt uns unsere Jahreslosung also mit anderen Worten: Auch wenn ihr sterbt, werdet ihr im Himmel weiterleben? Ist das die Botschaft unserer Jahreslosung: Seid gewiss, ihr werdet in den Himmel kommen?
Nein, so platt ist das Johannesevangelium und ist auch die Bibel allgemein keineswegs. Es wird dort ja nicht über Diesseits und Jenseits spekuliert und das Jenseits nicht als irgendein Wolkenkuckucksheim geschildert, in das wir alle hineinkommen werden. Nein, sondern die Bibel sagt sehr klar, dass wir neue Menschen, neue Geschöpfe nicht erst dort in der himmlischen Welt sein werden, sondern es bereits hier auf der Erde sind: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2Kor 5,17) – so betont es Paulus. Er sagt nicht: „Das Alte wird erst noch vergehen und Neues wird erst noch im Himmel werden!“ Was noch aussteht, ist, dass der verwesliche Leib dieser neuen Kreatur unverweslich sein wird. Was noch kommt, ist der Kleiderwechsel! Aber darüber, dass er kommt, dass wir als neue Geschöpfe in dieser Welt leben und als neue Geschöpfe auch in der zukünftigen Welt leben werden, darüber ist bereits entschieden. Genau dies betont unsere Jahreslosung. Mit Jesu „Ich lebe“ ist darüber entschieden, dass auch wir leben werden!
„Ihr werdet leben“ – das ist keine leere Versprechung, keine Phantasterei, sondern eine Aussage, die gedeckt ist durch Jesu „Ich lebe“, durch den Triumph von Kreuz und Auferstehung. Schön, ja wunderbar ist der Satz „Ihr werdet leben“ also nur, weil wir durch Jesu „Ich lebe“ zum Leben gekommen sind. Nett und ermutigend, ja mehr noch: gewiss, siegesgewiss klingt das „Ihr werdet leben“ nur, weil sein Tod und seine Auferstehung uns zu Gott, uns in Gemeinschaft mit ihm gebracht haben. Das „Und“ der beiden Sätze umschreibt somit nichts anderes als das Geheimnis der alle Menschen einschließenden Stellvertretung.
Das zu verstehen, ist nicht leicht. Nicht umsonst hat Paulus ebenso wie der Evangelist Johannes Mühe damit, dieses Geheimnis der Gnade Gottes, das hinter der Stellvertretung steht, zu umschreiben. Es ist schwer zu verstehen und weil es das ist, hat Gott uns ein Zeichen gegeben, das uns beim Verstehen hilft, nämlich die Taufe. Unsere Taufe ist das Zeichen dafür, dass wir dabei sind, hinzugehören zu Jesu Tod und Auferstehung, zu seinem Leben. Unsere Taufe sagt uns zu: In diesem einen Menschen ist aller Menschen Leben, sind mein und Dein Leben beschlossen. Die Taufe vergewissert uns, dass es Jesus nie um sich allein, sondern immer zugleich auch um uns geht. Und weil es ihm immer auch um uns geht, darum dürfen wir die beiden Sätze unserer Jahreslosung nicht auseinander reißen, sie nicht trennen. Denn Jesus lebt doch allein darum, dass wir leben können. Darum hat ihn Gott doch aus seiner himmlischen Herrlichkeit auf unsere Erde geschickt, damit wir leben dürfen. Aus keinem anderen Grund ist es Weihnachten geworden.
Immer wenn Martin Luther in Anfechtung geriet, wenn er Angst hatte, wenn er am Boden lag und zitterte, weil ihn die Lebensfrage bedrängte und bis in die tiefsten Tiefen seines Herzens verfolgte, dann hat er sich laut vorgesagt: Baptistus sum! Ich bin getauft! Ich bin getauft - das heißt: Nichts und niemand kann mir meine Zugehörigkeit zu Jesus Christus rauben, selbst der Tod vermag dies nicht zu tun. Ich gehöre endgültig und bleibend auf die Seite Jesu Christi und damit auf die Seite des Lebens. Und nichts und niemand kann mich meiner Zukunft bei dem berauben, der mir auf den Kopf zusagt: Du sollst leben!
Lasst es uns, liebe Schwestern und Brüder, in diesem Jahr mit Luther halten. Und wenn die Angst kommt und uns den Würgegriff an den Hals legt, dann lasst uns ihr antworten: Ich bin getauft! Und wenn die Lebensfrage sich unserer bemächtigt, uns lähmt und uns das Herz vor Sorge in der Brust zu zerspringen droht, dann lasst uns die Jahreslosung zur Hand nehmen und neu den Zuspruch unseres Herrn hören. Jesus Christus spricht: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“. Die Jahreslosung ist das Tintenfass, das wir unserer Lebensangst entgegenschleudern können.
Liebe Gemeinde, wir haben unser Leben nicht selbst im Griff, nein, ganz und gar nicht. Wir wissen ja nicht einmal, was morgen sein wird. Und wir wissen auch nicht, ob in allen Feudinger Familien in diesem Jahr gesunde Kinder geboren werden. Die Statistiken lassen uns daran zweifeln. Ebenso wenig wissen wir, wessen Ehe kaputt gehen und welche Familien in diesem Jahr einen lieben Menschen verlieren werden. All dies wissen wir nicht. Wir dürfen aber gewiss sein, dass Jesus lebt und will, dass auch wir leben. Denn wenn er das nicht gewollt hätte, dann wäre er nicht in der Krippe von Bethlehem in diese Welt gekommen und dann hätte er sich nicht als Mann für uns ans Kreuz von Golgatha schlagen lassen. Er tut dies allein aus einem einzigen Grund, damit wir leben. Gott ist alles an unserem Leben gelegen.
Liebe Gemeinde, nun könnte es aber jemanden unter uns geben, der sagt, das berührt mich nicht, was Du von der Lebensfrage und von der Lebensangst erzählst. Das deckt sich nicht mit meinem Erleben an Silvester. Ich empfinde heute keine Lebensangst, sondern ich freue mich einfach nur auf das neue Jahr und die neuen Chancen, die sich mir bieten. Und es könnte sein, dass dieser jemand nicht wenig Lust verspürt, diesen Gottesdienst zu verlassen, weil er sich sagt: Die Jahreslosung ist dieses Jahr nicht für mich geschrieben worden. Sie geht mich als einen freudigen Menschen nichts an. Sie sagt nur denen etwas, die immer ans Sterben und an den Tod denken.
Wenn das Ihr Empfinden ist, dann freuen Sie sich einfach nur. Dann lassen Sie sich von der Jahreslosung einfach nur gratulieren. Denn es könnte ja sein, dass sich bereits etwas von dem „Ihr sollt auch leben“ in Ihrem Leben ereignet hat. Vielleicht trägt Sie ja die Jahreslosung bereits. Vielleicht ist der Funke der Weihnachtsfreude – ohne dass Sie es gemerkt haben – bei Ihnen schon übergesprungen: „Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich, o Christenheit“ (EG 44,1)! Es ist doch wunderbar, wenn Sie auch an Silvester „O du fröhliche“ singen können.
Und all den anderen, die das nicht oder noch nicht können, wünsche ich, dass auch Sie die Jahreslosung im neuen Jahr tragen möge: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Möge uns die Jahreslosung Trost in unserer Trauer, Freude in unserem Leid und Ausgelassenheit in aller Freude schenken.
Amen.
Die Predigt wurde gehalten in der Evangelischen Kirche Feudingen.
Dr. Marco Hofheinz, wiss. Assistent an der Universität Bern