Kurzmeldungen




Theologische Vergewisserung für eine friedenspolitische Orientierung

6 Fragenkaskaden anhand eines Diskussionspapiers des Friedensausschusses der Evangelisch-reformierten Kirche

von Prof. Dr. Marco Hofheinz, Hannover

Vortrag vor der Synode der Evangelisch-reformierten Kirche am 17. November 2016 in Emden

Hohe Synode,
ich bin gebeten worden, eine friedensethisch-theologische Einführung zu dem „Diskussionspapier Frieden“ des Friedensausschusses unserer Landeskirche zu halten. Ich bin froh und dankbar dafür, dies heute tun zu dürfen, denn der Gegenstand des Diskussionspapiers hat für uns alle über Nacht ungeahnte Aktualität gewonnen. Viele Menschen, gerade ins unserem Land, sind nach dem Wahlausgang in den USA zutiefst aufgewühlt, erschrocken, verstört und blicken mit Angst und Sorge auf die geopolitischen Entwicklungen, die uns bevorstehen. Mir geht es auch so.

Wir fragen uns: (Alp-)träumen wir oder sind wir am Mittwochmorgen vor einer Woche tatsächlich in einer Welt aufgewacht, die nicht wiederzuerkennen ist? Wie verworren werden die schwierigen Zeiten wohl sein, auf die wir uns jenseits und diesseits des Atlantiks einstellen sollen? Wie weit reicht die Macht des neugewählten Präsidenten? Wie radikal werden die Veränderungen sein, die er versprochen hat? Sind die jüngsten versöhnlichen Worte tatsächlich der neue Kurs, oder hat „Trump nur gesagt […], was von ihm erwartet wurde“[1]? Wird er sich irgendwie mäßigen und einhegen, ja zähmen lassen (durch das Amt? die republikanische Partei? den Kongress? die westliche Wertegemeinschaft?), so dass das Schlimmste vermeidbar ist und die Lernkurve auch bei ihm doch schlussendlich nach oben zeigt? Kommt es zu einem neuen Wettrüsten, einer völlig neuen Sicherheitsarchitektur? Was bedeutet dieser Wahlausgang für den Weltfrieden? Was genau heißt und meint: „Europa muss mehr Verantwortung übernehmen“ (Bundespräsident Gauck)? Bedeutet dies „nur“ ein Ende der „alten Gemütlichkeit“?

Noch nie wurde das mächtigste Land der Welt durch einen so unerfahrenen und emotional ungebremsten Politiker regiert, der erst zu handeln und dann zu denken scheint. Das lässt nichts Gutes ahnen. Und angesichts dessen ist es gut und wichtig, dass wir uns dessen vergewissern, wer wir sind und wo wir stehen. Viele sind unter den Schockenwellen, die von dem Trump-Beben an jenem schwarzen Wahltag ausgehen, orientierungsbedürftiger geworden, denn die gängigen politischen Muster (Bündnisorientierung zur NATO, das deutsch-amerikanische Seit-an-Seit, ein Ja zu Freihandel, Klimaschutz, Gesundheitsvorsorge und Besteuerung) scheinen infrage gestellt zu sein und drohen vielleicht zu zerfallen. Etliche haben von einer „Zeitenwende“ gesprochen.

Wir benötigen friedenspolitische Orientierung, ein Koordinatensystem oder so etwas wie eine ausgerichtete Kompassnadel für unser Denken und Handeln in Sachen Frieden in Kirche und Gesellschaft. Dazu will unser Diskussionspapier einen kleinen Beitrag leisten und eine Diskussion in der Kirche anstoßen. Dies möchte ich in 8 Punkten entlang des Diskussionspapiers erläutern.

1. Eine theologische Perspektive auf die friedensethischen Herausforderungen unserer Zeit:
Die richtigen Fragen stellen lernen

Hinsichtlich unserer Selbstvergewisserung lässt sich die Frage, wer wir eigentlich sind, schlicht beantworten: Wir sind Christinnen und Christen, nicht primär Ostfriesinnen und Ostfriesen, Grafschafterinnen und Grafschafter, Verstreute und Nicht-Verstreute – schon gar nicht primär Deutsche, sondern Angehörige der Kirche Jesu Christi, der großen Internationale Gottes.

Dies scheint mir wichtig zu sein in Zeiten der Wiederauferstehung national- und territorialstaatlichen Denkens mit dem Schlachtruf „America first“, „Make America great again.“ Auch bei uns ist diese Botschaft nicht unpopulär. Und etliche befürchten: „Wenn Trumps europäische Nachahmer die anstehenden Wahlen gewinnen, geht es zurück in den Nationalstaat.“[2] Unser Denken als Christenmenschen ist entschieden anders, ja stracks entgegengesetzt ausgerichtet, nämlich ökumenisch und d.h. immer auch international statt national.

Als Christinnen und Christen ist die Gewinnung einer theologischen Perspektive für uns unverzichtbar. Es geht uns um die Wahrnehmung der Wirklichkeit vom Friedenshandeln Gottes her. Im sogenannten postfaktischen Zeitalter spielt die Wahrnehmung eine ganz entscheidende Rolle: „Perception is reality“, heißt es immer wieder. Der US-amerikanische Wahlkampf hat uns vor Augen geführt, wie Wahrnehmung vorgeformt wird, wie gezielt durch einfache, schlichte Botschaften desinformiert und die Wahrnehmung manipuliert werden kann. Eingängige Metabotschaften, die Quote machen und Sendezeiten garantieren, prägen die Wahrnehmung und ruinieren den rationalen Diskurs. Die rechtspopulistischen Stichworte „Mainstream Journalism“ oder „Lügenpresse“ zeugen davon. Bereits Aristoteles machte in seiner „Nikomachischen Ethik“ darauf aufmerksam: „Die Entscheidung liegt in der Wahrnehmung.“[3] Auch Paulus wusste darum und er tat gut daran zu fordern: „Passt euch nicht dieser Zeitenwende an, sondern lasst euch umgestalten, verändern durch die Erneuerung des voos, eurer Rezeptionsfähigkeit, eurer Wahrnehmung“ (Röm 12,2).

Es geht darum, dass wir uns zu dieser Erneuerung anleiten lassen – und das heißt zunächst einmal schlicht dazu, die richtigen friedensethischen Fragen zu stellen.

Das Diskussionspapier kommt im Modus der Frage daher und das mit Bedacht. Vorgefertigte, einfache Antworten, mit denen man schnell bei der Hand ist, werden viel zu viele gegeben: Das Trump‘sche „Wir bomben den IS in Grund und Boden“ – wäre eine solche vorschnelle, friedensethisch unangemessene Antwort. Es gilt indes zunächst einmal zu lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Das will erlernt sein und ist tatsächlich nötig, denn auf falsche Fragen kann es evidenter Maßen nur falsche Antworten geben. Wer aber friedensethische Orientierung gewinnen will, der wird zunächst einmal die richtigen Fragen stellen müssen.

Dies gehört zu einer Pilgerreise der Gerechtigkeit und des Friedens hinzu, wie sie die zehnte Vollversammlung des ÖRK in Busan (2013) beschlossen hat. Ein solches Lernen ist Teil einer „transformativen Spiritualität“[4].

Deshalb münden alle sechs Abschnitte unseres Diskussionspapiers jeweils in eine Frage hinein, zum Teil sogar in regelrechte Fragenkaskaden:

Abschnitt 1 („Frieden als Gottes Gabe und Gebot“): „Was ist eigentlich „Frieden“? Was fördert ihn? Und was sind die Ursachen von Friedlosigkeit und Hass, von Spannungen, Gewalt und Kriegen?“

Abschnitt 2 („Gott liebt Gerechtigkeit und Recht“): „An welchen völkerrechtlich zweifelhaften militärischen Einsätzen kann sich unser Staat – ungeachtet ihrer humanitären Zielsetzung – nicht beteiligen?“

Abschnitt 3 („Die Wirklichkeit der Kriege“): Der Abschnitt zum Thema „Waffenexport“ greift zwar nicht formal, aber doch der Sache nach den Fragegestus auf: „Entgegen den Grundsätzen gehen deutsche Waffenexporte auch in Krisen und Kriegsgebiete, z.B. nach Israel, Saudi-Arabien und Mexico, seit 2014 auch an kurdische Truppen im Irak. Neben den wirtschaftlichen spielen jeweils auch politische Interessen eine Rolle. Über diese Interessen muss politisch gestritten werden.“

Abschnitt 4 („Wie wir dem Terrorismus widerstehen“): „Aber müssen nicht auch die anderen, die um der Opfer willen und zur Verhinderung größeren Leids dem Terror und Krieg notfalls auch mit Waffengewalt Einhalt bieten, der Kirche ebenfalls als „Friedensstifter“ gelten? Wie können wir in unserer Kirche eine „versöhnte Gegnerschaft“ leben unter denen, die um des Friedens willen jedem Waffengebrauch abschwören und denen, die die Notwendigkeit sehen, eine staatliche Ordnung und eine Herrschaft des Rechts im Notfall auch mit Waffengewalt zu verteidigen?“

Abschnitt 5 („Wertschätzung und Kritik staatlicher Ordnung“) – Er thematisiert die Frage nach dem Grenzfall, der ultima ratio legitimen Waffengebrauchs und endet mit der Klarstellung: „Die Begrenzung staatlicher Gewalt, wie sie in der Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ entwickelt wurde, bleibt auch dann wichtig, wenn wir den missverständlichen und missbrauchbaren Begriff eines ‚gerechten‘ Kriegs hinter uns lassen.“

Der Abschnitt 6 („Gott um den Frieden bitten“) endet mit dem bekannten Bonhoeffer-Zitat als Schlussakkord: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.“

Es geht bei der Erneuerung der Wahrnehmung darum, dass wir uns anleiten lassen – vor allem durch das biblische Zeugnis. Deshalb beginnen die sechs Abschnitte des Diskussionspapiers, die ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen möchte, jeweils mit einem wahrnehmungsfördernden und wahrnehmungsleitenden Schriftzitat. Dies will also mehr sein als fromme Zierde und rhetorisches Blendwerk.

2. Erstes Schriftzitat: „Frieden auf Erden!“ (Lk 2,14)

Hier wird die „weihnachtliche“ Friedensverkündigung des den Hirten erscheinenden Engels aufgegriffen.[5] Der Frieden auf Erden ist der Weihnachtsbotschaft zufolge mit dem Kommen Christi bereits gegeben; er muss nicht erst von uns Menschen hergestellt werden. Vielmehr geht der Friede Gottes als seine Gabe all unseren menschlichen Friedensinitiativen und Friedensbemühungen voraus. Das bewahrt uns vor menschlichem Allmachtswahn, auch vor dem Wahn, als könnten wir – nachdem der Mann im Weißen Haus mit Gewaltrhetorik eher glotzt als kleckert – mal eben so die Welt und den Weltfrieden retten. Nein, der Friede ist und bleibt Gottes Gabe.

Und doch nimmt uns die Gabe zugleich in Anspruch. Das Diskussionspapier spricht betont im Sinne von Barmen II, d.h. Zuspruch und Anspruch, von Gabe und Gebot: „Für die reformierte Kirche ist die Einsicht bestimmend, dass Gottes Gabe des Friedens und die menschliche Aufgabe, diesen Frieden in Wort und Tat zu bezeugen, zwei Seiten einer Sache sind: Die Vorgabe des Gottesfriedens befähigt Menschen dazu, in der Hingabe an diesen Frieden den Frieden auf Erden zu bezeugen und alles Menschenmögliche für ihn zu tun.“

3. Zweites Schriftzitat: „Frieden wird die Frucht der Gerechtigkeit sein“ (Jes 32,17)

Hier sind wir bei einem, wenn nicht sogar dem neuralgischen Punkt des Papiers angelangt, nämlich dem integrativen Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit, den der Prophet Jesaja betont.[6] Ein Frieden ohne Gerechtigkeit wird zu einem kalten Frieden verkommen. Bei ihm mögen zwar die Waffen schweigen. Er basiert aber unter Umständen schlicht auf Unterdrückung und der Zementierung von blankem Unrecht. Die Kirchen und zwar nicht nur die protestantischen, sondern auch die katholischen sprechen weltweit betont vom „gerechten Frieden“ (Just Peace), um den Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit zu betonen.

Dabei geht, wie das Diskussionspapier zu Recht betont, mit der Gerechtigkeit immer auch das Recht einher: „Gott liebt Recht und Gerechtigkeit“ (mišpāț ūșědāqā).[7] Das ist zentral für die prophetische Verkündigung (Jes 5,7; Am 5,7.24; 6,12; vgl. Mi 3,1.8.9). Und völlig zu Recht verweist das Diskussionspapier nicht nur auf den Satz „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, sondern zugleich den weiteren Satz der Ökumenischen Weltversammlung von Amsterdam 1948: „Die Völker der Welt müssen sich zu der Herrschaft des Rechts bekennen.“

Liebe Schwestern und Brüder, dieser Satz kann aktuell in seiner friedensethischen Bedeutung kaum überschätzt werden. Er ist die erklärte Antithese zu jedem nationalstaatlichen „America first“. Amsterdam 1948 macht klar: Es geht politisch nicht um die Herrschaft einer Nation, es geht nicht um die Hegemonie eines auserwählten Volkes, sondern es geht um die Herrschaft des Rechts unter den Völkern der Welt. „Frieden durch das Recht“ – das ist die biblisch induzierte Leitidee, nicht nur des großen Kantschen Entwurfs „Zum ewigen Frieden“,[8] sondern auch der Barthschen Verteidigung des Völkerrechts und der „Idee einer durch das Recht verbundenen Gemeinschaft freier Völker von freien Menschen“.[9]

Dieser rechtsethische Ansatz, wie ihn das Diskussionspapier im zweiten Abschnitt ebenso wie die aktuelle EKD-Friedensdenkschrift vertritt, lenkt die Aufmerksamkeit im Rahmen des Völkerrechts auf die Rechtsinstitutionen. Sie sind die äußeren Voraussetzungen eines gerechten Friedens. In Zeiten, in denen ein neuer, unkalkulierbarer amerikanischer Unilaterialismus und Isolationismus zu erwarten ist (so Frank-Walter Steinmeier), also mehr desselben Falschen, was wir bereits unter der Bush Administration erlebt haben, ist es umso wichtiger, ja aus aktuellem Anlass unabdingbar, die friedenstiftende Bedeutung des Völkerrechts zu betonen und jeder Aushöhlung des geltenden Völkerrechts eine entschiedene Absage zu erteilen.

Das Recht schützt nach biblischem Verständnis auch und gerade den Schwachen vor Übergriffen. Mit dem geltenden Recht sind Spielregeln gegeben, an die sich alle (geo)politische Gestaltung zu halten hat – auch der russische, auch der amerikanische Präsident; und zwar im Rahmen eines festgelegten globalen ordnungspolitischen Modells, nämlich einer kooperativ verfassten Weltordnung ohne Weltregierung.[10]

4. Drittes Schriftzitat: „Sie sagen ‚Friede! Friede!‘, und ist doch nicht Friede“ (Jer 6,14)

Hier wird deutlich, dass die prophetische Botschaft immer auch eine selbst-, eine religionskritische Pointe besitzt. Die, gegen die sich die Botschaft des Jeremia richtet,[11] sind die Propheten und Priester, der „geistliche Stand“, der den Schaden, die soziale Zerrissenheit im Lande, die innere Lage des Volkes nur oberflächlich wahrnimmt und vorschnell kultisch-rituell, salbungsvoll-religiös zudeckt.[12] Er spricht von „Heil und Frieden“, um den sozialen Kitt für die Gesellschaft zu liefern, kann aber die Spaltung der Gesellschaft nicht überbrücken.[13]

In unserem Diskussionspapier fungiert dieses Jeremia-Wort als Warnung, die Wirklichkeit der Krieg prophetisch-klar beim Namen zu nennen und nicht schön zu reden: „In vielen Ländern der Erde herrscht gegenwärtig Krieg“, nicht nur in Syrien. „Frieden ist nicht der Normalzustand dieser Welt.“ Und auch das komplexe Phänomen des Terrorismus, den wir nicht in den Griff bekommen, fordert uns heraus – zu einem „neue[n] Nachdenken über ein wirksames präventives und eindämmendes Handeln“. Der internationale Waffenhandel – auch in seiner starken deutschen Beteiligung – wird im Papier als Problem benannt.

Und schließlich bringt das Diskussionspapier unter Verweis auf das bestürzend aktuelle „Nein ohne jedes Ja!“ des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 das Potential der Massenvernichtungswaffen zur Sprache: „Die Atomwaffenarsenale der NATO und Russlands sind – entgegen allen Erklärungen der 90er Jahre – nur zum Teil abgebaut worden.“ Nicht zuletzt diesen Umstand erfahren Menschen aktuell als Anlass zu größter Sorge – im Wissen um einen unberechenbaren gewählten US-Präsidenten, der bald den Finger auf dem Knopf zur Anwendung dieses „Teufelszeugs“ (K. Barth) haben wird.

5. Viertes Schriftzitat: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ (Röm 12,21)

Die paulinische Paränese wird als Ermahnung verstanden, den Widerstand gegen den Terrorismus methodisch besonnen zu gestalten. Genauer gesagt so, dass wir beim Versuch, dem Bösen des Terrorismus zu widerstehen, nicht selbst den Methoden des Bösen erliegen und selbst in der Anwendung antiterroristischer Methoden zu Bösen, gleichsam zu Terroristen werden. Die Welt- und insbesondere die Revolutionsgeschichte ist voll von Reminiszenzen, wo noch so gut gemeinte Anwendungen von Gewalt, versehen mit den hehrsten Zielvorstellungen ungewollt eskalierten. Das Diskussionspapier mahnt im Umgang mit Terrorismus zu den „Tugenden der Geduld, der Weisheit und des aufrechten Ganges.“

Wiederum hebt sich die Botschaft damit signifikant ab von den eilfertigen Forderungen nach „Wir bomben den IS in Grund und Boden“. Explizit bringt das Diskussionspapier das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen ins Spiel, das für diese Tugenden steht und nachdrücklich zu würdigen ist. Im Sinne versöhnter Verschiedenheit wird zugleich rechtspazifistisch gefragt, ob es gleichsam ergänzend zum prinzipiellen Pazifismus, der jedem Waffengebrauch abschwört, nicht auch die Notwendigkeit gibt, „eine staatliche Ordnung und eine Herrschaft des Rechts im Notfall auch mit Waffengewalt zu verteidigen“. Die hier zunächst nur angedeutete rechtspazifistische Perspektive wird im fünften Abschnitt näher erläutert und zwar unter dem Schriftzitat:

6. Fünftes Schriftzitat: „Tut niemand Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold“ (Lk 3,14)

Hierbei handelt es sich um den Leitvers, den bereits Augustin[14] und dann auch Martin Luther[15] sowie Johannes Calvin 1544[16]  bemüht haben. Sie berufen sich auf Johannes den Täufer, der von den Soldaten ebenso wenig das Quittieren ihres Berufs fordert wie Jesus von dem Zöllner Zachäus (vgl. Lk 19,1-10).[17]

Unter Berufung auf Barmen V und in Abgrenzung von einer sog. „Lehre“ vom gerechten Krieg wird in diesem Abschnitt des Papiers eine rechtspazifistische Perspektive der Wertschätzung und Kritik entfaltet. Wiederum folgt der Abschnitt dem Leitgedanken einer Friedensethik als Rechtsethik, wonach „eine globale Friedensordnung als Rechtsordnung“[18] in den Blick zu nehmen ist. Der rechtliche Rahmen, in dem Gewalt gebraucht wird, findet also Beachtung. In unserer Zeit ist dies der völkerrechtliche Rahmen der UN-Charta. Das Diskussionspapier zitiert deren Art. 2,4. Dort wird ein allgemeines Verbot militärischer Gewalt festgeschrieben. Wer der Logik dieses Artikels folgt, versteht: Es gibt keinen gerechten Krieg, sondern allenfalls noch den rechtmäßigen Gebrauch militärischer Gewalt nach Kapitel VII der UN-Charta![19] Diese Position erläuternd, folgt das Diskussionspapier der ethischen Differenzierung im Gewaltbegriff, wie sie die englische Sprache erlaubt: „Der zerstörerischen ‚violence‘ muss eine an der Wiederherstellung des Rechtes orientierte ‚force‘ entgegengesetzt werden.“

Krieg ist und bleibt damit ungerecht. Verschiedene Kriterien der Tradition vom gerechten Krieg sind gleichwohl im Blick auf friedensethische Urteilsbildung für den Gebrauch unumgänglich, auch und gerade hinsichtlich des Einsatzes rechtmäßiger Gewalt im Rahmen des geltenden Völkerrechts.

7. Sechstes Schriftzitat: „Christus ist unser Friede“ (Eph 2,14)

Zusammen mit der weihnachtlichen Friedenszusage „Frieden auf Erden“ (Lk 2,14) bildet dieses Schriftzitat „Christus ist unser Frieden“ (Eph 2,14) die christologische Klammer des gesamten Diskussionspapiers.[20] All unser Tun und Lassen ist umklammert und umschlossen von der in Christus gestifteten Friedenswirklichkeit, in die wir mit unserem oft so schwachen friedensstiftenden Tun und Lassen einstimmen dürfen.[21]

Dieser letzte Abschnitt mündet sehr betont ins Gebet. Das mag überraschen und auch Rückfragen provozieren: „Beten? Warum gerade beten? Warum nicht Kampf? Aufstand gegen die Ungerechtigkeit? Arbeit an einer besseren Welt? Engagement für Frieden und Gerechtigkeit? Warum nicht so: entschlossen, zupackend, aktiv?“

Peter Bukowski hält dagegen: „Aber wer sagt eigentlich, dass Beten keine Form des Aufstandes ist? Ein hoher Stasioffizier aus Leipzig hat im Rückblick auf den Mauerfall gesagt: ‚Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.‘ Beten gegen die Mächte der Welt – die Bedrängten sagen uns, dass sie auf solche Gebete warten. Und dass Gebet Arbeit ist, harte Arbeit sogar, das weiß jeder, der es ernsthaft versucht.“[22]

Aber ist das – mit Verlaub gesagt – nicht doch ein bisschen naiv? Sollen wir etwa auch für die IS beten und glauben, dass sie dies beeindruckt? Mir kam im Blick auf diese bedrängende Frage eine kleine Erzählung von Martin Niemöller in den Sinn:

„Martin Niemöller, eine Leitfigur der Bekennenden Kirche, erzählt, ihm habe geträumt, er befinde sich am Jüngsten Tag im Gerichtssaal Gottes und beobachte, wie Adolf Hitler vor seinen himmlischen Richter treten muss. Er wird gefragt, wie er all das Grauen habe anrichten können. Da habe Hitler geantwortet: ‚Weil der Niemöller zu wenig für mich gebetet hat.‘ Aus dem Mund Hitlers ist dies nur ein weiterer Beleg für seinen verantwortungslosen Zynismus, aus der Perspektive Niemöllers jedoch, der erzählt, er sei erschrocken aufgewacht, die ernste Anfrage, wie viel wir dem Gebet gegen die Mächte zutrauen und wie verlässlich wir es wahrnehmen.“[23]

Es ist bezeichnend, dass Jesus ausgerechnet im Blick auf seine renitentesten Gegner, nämlich die Dämonen, im Zusammenhang einer Dämonenaustreibung sagt: „Von dieser Art können Menschen nur durch das Gebet geheilt werden“ (Mk 9,29).[24] Von Karl Barth ist nicht nur der schöne Satz überliefert: „Die Hände zum Gebet falten, ist der Anfang der Auflehnung gegen die Unordnung der Welt“[25], sondern Barth wagt in seiner Vorsehungslehre in KD III/3 sogar den ungeheuren Satz: Das Gebet ist des Menschen „faktischer, realer Anteil an Gottes Weltherrschaft“[26]. Beten heißt demnach: Regierungsverantwortung wahrnehmen. Das ist ein denkbar steiler Satz! Nicht minder steil fällt indes die im Anschluss an Hebr 1,3b getroffene Aussage in Barmen V aus, wonach Gott durch die Kraft des Wortes alle Dinge trägt.[27]

Hier kommt das schlichte und doch so tröstliche „Es wird regiert!“ (K. Barth) zum Tragen. Ja, in diesen so aufwühlenden Tagen ist es gut, dass wir uns vergewissern: Es wird regiert! Das Reich Gottes und die Königsherrschaft Christi schließen auch die „Mächte und Gewalten“ ein. In Amerika mag die Angst die Zuversicht und das Ressentiment den liberalen Konsens geschlagen haben.[28] Donald Trump mag amerikanischer Präsident werden, Herr der Geschichte bleibt der Friedefürst, dessen Kommen wir im Advent besingen. Ich möchte schließen mit dem aktuellen Aufruf des ehemaligen, inzwischen 92-jährigen US-Präsidenten Jimmy Carter für Donald Trump zu beten. Lassen Sie uns für Donald Trump beten – er hat es nötig und wir auch.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Prof. Dr. Marco Hofheinz, Hannover


[1] Hubert Wetzel u.a., Trumps Triumph wühlt Europa auf, SZ Nr. 260 vom 10. Nov. 2016, 1.

[2] Matthias Koch, Ein Fahrplan zur Zerstörung der EU, Hannoversche Allgemeine Zeitung Nr. 265 vom 11. Nov. 2016, 2.

[3] Aristoteles, Nik. Eth. 1109 b 23.

[4] Martin Schindehütte, Politik und Spiritualität. Die Pilgerreise der Gerechtigkeit und des Friedens. Manuskript eines unveröffentlichten Vortrages auf der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Mühlhausen am 17. Juni 2015, 1-11, 6.

[5] Zur Auslegung dieses Verses durch Johannes Calvin vgl. Marco Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 51-60.

[6] Vgl. Hans Wildberger, Jesaja. 3. Teilband: Kap. 28-39, BK X/3, Neukirchen-Vluyn 1982, 1279: „Wo Recht und Gerechtigkeit Wohnsitz nehmen, ist auch Friede zu finden [.]. Man kann Friede nicht haben, wo Gerechtigkeit fehlt.“

[7] Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit, GAT 8/1, Göttingen 1992, 142; 259f.

[8] Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, B 31. In: ders., Werke IX: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil, hg. von Wilhelm  Weischedel, Darmstadt 1983, 208.

[9] Karl Barth, Im Namen Gottes des Allmächtigen! (1941), in: ders., Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zürich 1985, 201-232, 209.

[10] Zu den politisch-ethischen Bedingungen einer internationalen Friedensordnung gehören nach Hans-Richard Reuter (Frieden/Friedensethik, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik (ÖTh 28), Leipzig 2013, 28-37, 36f.): „a) Föderativer Zusammenschluss der Staaten auf der Grundlage des allgemeinen Gewaltverbots[;] b) Zunehmende Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb der Staaten[;] c) Anerkennung der universellen Menschenrechte auf der Grundlage der gleichen Würde aller“. Dort kursiv.

[11] Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte 1, 362: „Die soziale Anklage, die nach 609 in der Verkündigung Jeremias wieder anhebt, zeichnet das Bild einer bis in ihre Grundfesten zerrütteten Gesellschaft (vgl. šeber: Jer 6,14), in der durch alle durch alle Schichten hindurch hemmungslose Gewinnsucht, Gewalt, Betrug und Verleumdung zu hemmungslosen Maximen des alltäglichen Umgangs werden (5,8; 6,13f.28; 7,9; 9,1-5.7).“

[12] Treffend hebt Eberhard Busch („Daß der ewig vater unsers herrn Jesu Christ dieselbigen erhelt und regieret…“ Gottes Vorsehung und unsere Gegenwart, in: Jörg Mertin u.a. [Hg.], „Mit unsrer Macht ist nichts getan…“ FS für Dieter Schellong zum 65. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1993, 39-54, 52) hervor, dass sich Jer 6,14 „gegen die wohlbekannte Neigung, Probleme durch Beschwichtigungen zu lösen, […] gegen die Verharmlosung der bösen Drohungen“ richtet.

[13] Vgl. Gunther Wanke, Jeremia Teilband 1: Jeremia 1,1-25,14, ZBK 20/1, Zürich 1995, 81. Fernerhin: Walter Dietrich, Ungesicherter Friede? Das Ringen um ein neues Sicherheitsdenken im Alten Testament, in: ders., „Theopolitik“. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 98-116, 112.

[14] Ep. 138, CSEL 44,141; Contra Faustum XXII,74.

[15] WA 11,248, Von weltlicher Obrigkeit; WA 19,655, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können.

[16] Vgl. dazu Marco Hofheinz, Calvins theologische Friedensethik, 104-109.

[17] Vgl. exegetisch: Walter Dietrich, Moisés Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, 96f.

[18] Hans-Richard Reuter, Gerechter Friede! – Gerechter Krieg?, in: ZEE 52 (2008), 163-168, 164.

[19] Vgl. Wolfgang Lienemann, Eine Frage des Rechts. Unter welchen Bedingungen ein Angriff auf den Irak theologisch legitim ist, Zeitzeichen 11/2001, (11-14) 11: „Die Lehre vom sogenannten ‚Gerechten Krieg’ – man sollte heute nur noch von (völker-)rechtmäßigem Einsatz militärischer Mittel sprechen“.

[20] Vgl. Andreas Lindemann, Der Epheserbrief, ZBK 8, Zürich 1985, 48: „Die Schaffung des Friedens ist das Werk dessen, der selbst der Friede ‚ist‘ und der die Feindschaft in sich selbst ‚getötet‘ hat.“ Sowie Michael Gese, Das Vermächtnis des Apostels. Die Rezeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief, WUNT II/99, Tübingen 1997, 125: „Christus [ist] nicht nur der Friedensbringer, sondern in Person selbst der Friede.“ Dort kursiv. Zum alttestamentlichen Bezug vgl. a.a.O., 126, sowie ausführlich: Peter Stuhlmacher, „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14). Zur Exegese und Bedeutung von Eph 2,14-18, in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 224-245.  

[21] Vgl. zu den folgenden Abschnitten Marco Hofheinz, Gewalt und Gewalten im Kontext von Barmen V. Eine friedensethische Annäherung an das „Just Policing“, KZG 29 (2016), 140-170, 167-169.

[22] Peter Bukowski, Beten gegen die Mächte der Welt, in: ders./Sylvia Bukowski, Etwas zum Mitnehmen. Reden von Gott in der Welt, Neukirchen-Vluyn 2008, 175-184; hier: 175.

[23] A.a.O., 183 f.

[24] Zur „Waffe“ des Gebets im Anschluss an Walter Wink vgl. auch Thomas Zeilinger, Zwischen-Räume – Theologie der Mächte und Gewalten (Forum Systematik 2), Stuttgart u.a. 1999, 91f.

[25] Jan M. Lochman, Rechenschaft über einen theologischen Weg, in: Christoph Dahling-Sander u.a. (Hg.), Herausgeforderte Kirche. Anstöße, Wege, Perspektiven. FS Eberhard Busch zum 60. Geburtstag, Wuppertal 1997, 189-200; hier: 195.

[26] Karl Barth, KD III/3, 323.

[27] Vgl. auch Kol 1,18b und die Rede von Christus als dem „Haupt seiner Kirche, durch das der Vater alles regiert“, in Frage 50 des Heidelberger Katechismus.

[28] Vgl. Sacha Batthyan, Angst schlägt Zuversicht, SZ Nr. 260 vom 10. November 2016, 5.

Interview mit Marco Hofheinz

Welchen Pazifismus brauchen wir? Karl Barth kennt einen Grenzfall legitimer Gewaltanwendung. Wie weit aber darf man den Begriff fassen?
hrsg. von Marco Hofheinz und Frederike van Oorschot

Studien zur Friedensethik Bd. 56
 

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