Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen Testaments

Das Verhältnis der ‚Testamente’ nach dem Grundsatz „Allein die Schrift (sola scriptura)“

Albrecht Dürer: Jesus im Tempel (Ausschnitt) © Wikicommons

Das neue Verhältnis zum Judentum, das den Kirchen nach einer langen, schlimmen Geschichte, die geprägt war durch Blindheit und Schuld, geschenkt worden ist, ist ein großes Glück. Aber der im Dialog begonnene Weg ist nicht zu Ende gegangen.

Wir sind noch lange nicht am Ziel. Immer wieder gibt es herbe Rückschläge. In der römisch-katholischen Kirche erregen sie wie im Fall der neu-alten Karfreitagsbitte weltweit Aufsehen. Doch Ähnliches hat sich mehrfach auch in der evangelischen Kirche ereignet, jedenfalls in Deutschland. Und im Alltag wird vieles längst Erreichte nicht selten einfach vergessen.

Dieses Schwanken, diese Unsicherheit hängt nicht nur mit verschiedenen theologischen Richtungen in der Kirche zusammen, es gibt sie auch bei vielen einzelnen Christen, vielleicht, wenn wir ehrlich sind, auch bei manchen von uns. Wir wollen das Judentum anerkennen und meinen doch gleichzeitig, durch Jesus Christus eine Nähe zu Gott und zum Heil erfahren zu haben, die den Juden fehlt. Einer der tiefsten Gründe für diese Widersprüchlichkeit liegt in der Art und Weise, wie wir die Bibel lesen. Dazu gehört die Bewertung des ersten Teils unserer christlichen Bibel, der ja praktisch mit der jüdischen Bibel identisch ist. Aber noch wichtiger ist die Art, wie wir das Neue Testament lesen, den spezifisch christlichen Teil unserer Bibel.

I. Bisherige Typen der Zuordnung der Testamente und ihre Gemeinsamkeiten

Wie also ist das Verhältnis der beiden Teile der christlichen Bibel zu bestimmen? Sehr unterschiedliche Antworten hat es im Laufe der Theologiegeschichte auf diese Frage gegeben. Man kann vier Grundtypen unterscheiden, vier Grundmodelle, auf die sich alle bisherigen Versuche zurückführen lassen. Es handelt sich dabei um geronnene Kirchengeschichte. Zugleich aber begegnen uns dabei auch die eigenen Erfahrungen. Wir alle, jedenfalls die meisten von uns, sind damit aufgewachsen. Vom Kindergottesdienst an bis zu heutigen Predigten sind diese Weisen des Umgangs mit den beiden ‚Testamenten’ uns begegnet, und wir haben sie – meist wohl eine Mischung von ihnen – im Herzen und im Kopf. Ich beschränke mich auf eine knappe Andeutung der Grundmuster.

1. Ablehnung

Da ist einmal die völlige Ablehnung des Alten Testaments. Danach ist dieses Buch jüdisch und geht uns als Christen nichts an. Es gehört deshalb nicht in die christliche Bibel, die allein aus dem Neuen Testament besteht. Konsequenterweise ist zu fordern, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen. Diese Haltung ist im zweiten Jahrhundert von der Kirche gegen Marcion verworfen worden und seitdem selten, etwa von den radikalen „Deutschen Christen“, wieder vertreten worden.

2. Kontrast

Ist also das Alte Testament Teil der christlichen Bibel ist, dann kommt Marcion am nächsten eine Haltung, die man als Kontrast bezeichnen kann. Danach steht das Neue im Gegensatz zum Alten, das Alte Testament wird als die Folie, als der Hintergrund verstanden, vor dem das Neue sein Profil erst deutlich zeigt. Dieses Modell wirkt bis heute als Grundmuster in vielen Predigten und prägt insbesondere vielfach eine elementarisierte Lehre wie in Seelsorgezusammenhängen oder im Kindergottesdienst. Stets werden bekannte Gegensätze herausgestellt: das Neue, welches das Alte überbietet. Es stehen sich dann gegenüber: die Juden und Jesus, das Gesetz und seine Überwindung im Evangelium, aber auch die von Rache versus Gnade und Barmherzigkeit, von unfreier Bestimmtheit durch Reinheit/Unreinheit gegen deren Überwindung.

3. Christuszeugnis

Während das Kontrastmodell vor allem in der Neuzeit entwickelt wurde und gewirkt hat, kann man das wichtigste Modell der vorneuzeitlichen Theologie als Christuszeugnis bezeichnen. Danach bezeugt das Alte Testament Christus. Es tut das vor allem in Form von Verheißungen, die auf Christus hinweisen. Hier spricht also derselbe Gott wie im Neuen Testament, und also letztlich Christus selbst, so etwa sieht es Martin Luther. Dieses Modell findet sich mit vielen Differenzierungen von den Apologeten des 2. Jh.s über alle Kirchenväter bis zu den Reformatoren.

4. Relativierung und Selektion

Das Alte Testament derart direkt als Zeugnis für Christus anzusehen wurde mit dem Aufkommen des historischen Denkens in der Neuzeit problematisch. Vor dem Hintergrund des Historismus und mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Exegese entstand ein viertes Modell, das sich mit vielen Varianten in der Neuzeit als das wichtigste herausgestellt hat. Relativierung und Selektion – so kann dieses Modell benannt werden, von dem Varianten heute offen oder versteckt fast überall begegnen. Stets geht es dabei um eine Entwicklung, eine sich im historischen Nacheinander vollziehende Entfaltung, ein Vorwärtsschreiten, wobei dann das jüngere Neue dem Älteren, die spätere Form den Vorformen überlegen ist. Dabei kann das Alte Testament durchaus positiv beurteilt werden; Jesus und das spezifisch Christliche ist dann immer noch zumindest etwas positiver.

5. Gemeinsamkeiten und Grenzen der bisherigen Positionen

Bei aller Verschiedenheit der vorgestellten Grundtypen gibt es doch in folgenden drei Punkten Übereinstimmungen:

  • Das Neue Testament übertrifft in irgendeiner Weise das Alte. Und das in einer grundsätzlichen, theologisch entscheidenden Perspektive. Und dieses Mehr wird anders gewichtet, als es bei Rangfragen im jeweiligen Bibelteil der Fall ist. Zwar ist für manche etwa Paulus theologisch wichtiger als Matthäus, gibt es eine Abstufung zwischen den Psalmen und der Chronik. Doch das Neue Testament bringt etwas grundsätzlich, weil kategorial Höheres.
  • Dieser höhere Rang hat letztlich darin seinen Grund und seine Voraussetzung, dass das Neue Testament aus sich heraus gelesen und als solches dann verglichen wird. Stets gilt: Das Neue Testament steht auf eigenen Beinen und enthält das spezifisch Christliche. Bibeln, die nur aus dem Neuen Testament bestehen (manchmal mit den Psalmen als Anhang) bringen das zum Ausdruck. Aber entspricht das dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Texte?
  • Auch in einem dritten Punkt sind sich alle Typen in ihrer klassischen Form einig: die Juden sind theologisch nicht mehr im Spiel. Wenn es eine positive Linie vom Alten zum Neuen Testament gibt, geht sie an den Juden vorbei. Kurz: Das Alte Testament ist seit Christus das Buch der Kirche geworden. Der alte Bund gilt als überwunden, der Neue ist in Christus und nur in Christus vollzogen.

6. Ansätze zu einem neuen veränderten Umgang mit AT und Judentum

Nun gibt es seit dem Holocaust Ansätze zu einem neuen veränderten Umgang zuerst mit dem Alten Testament und dann mit dem Judentum.

  • Dietrich Bonhoeffer und Gerhard v. Rad erarbeiten schon während des 2. Weltkriegs eine neue Bewertung des Alten Testaments und bestimmen damit die Nachkriegszeit bis heute. Zwar stehen sie, sieht man genau hin, noch ganz im Bann der alten Muster, dennoch legen sie Grund für Neues.
  • seit den 60er Jahren wird dann schrittweise ein verändertes Verhältnis zum Judentum entwickelt. In der katholischen Kirche mit dem 2. Vatikanum von oben, bei uns eher von unten, in langen fruchtbaren und stets umstrittenen Prozessen. Der Kernpunkt besteht durchgängig in der Anerkennung der bleibenden Erwählung und des ungekündigten Bundes Gottes mit Israel. Das sind aber die Kerninhalte des Alten Testamentes, davon erzählt der erste Teil unserer Bibel.

Dennoch hat sich trotz mancher neuer Ansätze ein überzeugendes neues Modell für die Zuordnung der beiden Teile bisher nicht ergeben. Das war die Herausforderung, vor der ich mich als christlicher Alttestamentler zunehmend gestellt sah. Meine eigenen Überlegungen haben mich zu folgender These geführt:

II. Die THESE

Ein ganz anderes Modell ergibt sich, wenn man von den innerbiblischen Bezügen der beiden Teile der christlichen Bibel ausgeht, also von der Frage, was die Bedeutung des Alten für das Neue Testament ist. Nur von der Schrift aus kann eine sachgemäße Zuordnung der Testamente erfolgen, nicht aber von nachbiblischen kirchlichen Lehren oder Dogmen aus (die ihrerseits an der Schrift zu messen sind), erst recht nicht von neuzeitlichen christlichen Frömmigkeitstypen oder Gefühlswelten aus.

Sola scriptura – allein die Schrift, der reformatorische Grundsatz muss endlich gerade für diese zentrale Frage Geltung gewinnen. Für Luther bedeutet sola scriptura vor allem, dass die Schrift ihre eigene Auslegung bestimmen muss: scriptura sui ipsius interpres. Deshalb lautet meine Kernthese: Das Alte Testament sollte für christlichen Glauben und Theologie (wieder) die Rolle haben, die es im Neuen Testament hat.

III. Das Verhältnis des Neuen zum Alten Testament – Beobachtungen

Ich frage also jetzt, wie denn das Neue Testament selbst das Verhältnis zum Alten sieht? Wenn ich versuche, an wenigen Beispielen einen Überblick zu geben, bedeutet das auch, Sie an eigentlich doch längst Bekanntes zu erinnern.

1. Die jüdische Bibel als die Schrift des Neuen Testaments

Die wichtigste Antwort, mit der im Kern alles gesagt ist, lautet: Für das Neue ist das Alte Testament „die Schrift“. Terminologisch wird im Singular von „der Schrift“2, häufiger aber im Plural von „den Schriften“3 gesprochen, nicht selten auch in Wendungen wie „es steht geschrieben/wie geschrieben steht“4. Dazu kommen Bezeichnungen, wie sie ähnlich bis heute im Judentum üblich sind: „Gesetz/Tora (nómos), Propheten und (die anderen) Schriften“5; oft einfach „Gesetz/Tora und Propheten“6. Der spätere erste Teil der zweigeteilten christlichen Bibel ist also für die neutestamentlichen Schriften die Bibel, also im vollen Sinne „heilige Schrift“, vorgegebene und gültige Autorität und Tradition, das, was von Gott her gilt.

2. Durchgängig positiver Bezug

Dem entspricht es, dass das Neue Testament durchgängig, von Anfang bis Ende, vom ersten bis zum letzten Vers positiv auf das Alte bezogen ist. Man braucht bloß den Beginn aufzuschlagen: „Das Buch vom Ursprung Jesu, des Messias, des Nachkommen Davids, des Nachkommen Abrahams“ – so fängt es in Mt 1,1 an. Wer nicht weiß, wer David ist und was es mit Abraham auf sich hat, muss zurückblättern und es nachschlagen, sonst versteht man schon die ersten Worte nicht – ganz zu schweigen davon, dass auch die Formulierung des Anfangssatzes ein indirektes Zitat ist (Gen 5,1) und dass die Bedeutung des Wortes Christus/Messias/Gesalbter nur von der Schrift her zu füllen ist. Was so beginnt, steht nicht auf eigenen Füßen, ist nicht aus sich selbst zu verstehen und will es nicht. Es ist eine Fortsetzung, deren Anfang man kennen muss.

Und das geht weiter bis zum Ende des Neuen Testaments in der Offenbarung des Johannes: „Die von den Worten dieses prophetischen Buches etwas wegnehmen, werden von Gott ihren Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt weggenommen bekommen“ (Offb 22,19). Vom Baum des Lebens und dem Zugang zu ihm wird in Gen 2f erzählt. Und bei der heiligen Stadt geht es um Jerusalem, sie wird mit den Farben alttestamentlicher Texte geschildert, und ihre Bedeutung ist von ihrer in der Schrift erzählten Geschichte nicht zu trennen.

Zwischen diesem Anfang und diesem Ende reißt die Kette der Bezüge nicht ab. Man sehe sich nur die ersten Kapitel bei Matthäus an: jeder kleine Abschnitt enthält ein Schriftzitat. Die Geburtsgeschichte Jesu zitiert wörtlich Jes 7,14 (Mt 1,22f); die Erzählung von den Magiern aus dem Morgenland zitiert Mi 5,2ff (Mt 2,5f); die Flucht nach Ägypten (Mt 2,13ff) zitiert Hos 11,1 (Mt 2,15). Und das geht so weiter und setzt sich kaum minder dicht in den anderen Evangelien fort. Eine besondere Dichte erlangen diese Bezüge in der Passionsgeschichte. Hier ist es vor allem eine Fülle von Psalmzitaten, insbesondere aus Ps 22, aus denen die Geschichte in ihren einzelnen Zügen geradezu entfaltet wird.

Und der Briefteil des Neuen Testamentes beginnt in Röm 1,1f so: „Paulus, Sklave des Messias, Christus Jesus, zum Apostel gerufen, ausgesondert, die Freudenbotschaft Gottes zu bringen, die bereits früher durch die Propheten und Prophetinnen in den heiligen Schriften verkündet wurde“. Im Römerbrief wie in den weiteren paulinischen Schriften gibt es praktisch keinen einzigen Argumentationsgang, in dem nicht mit der Schrift und von der Schrift her argumentiert wird.

3. Grundsatzaussagen von großer Reichweite

Dazu kommen Grundsatzaussagen von großer Reichweite. So sagt die erste große Rede Jesu im Neuen Testament, die sogenannte Bergpredigt, mit aller wünschenswerten Klarheit:

17 Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die prophetischen Schriften außer Kraft zu setzen! Ich bin nicht gekommen, sie außer Kraft zu setzen, sondern sie zu erfüllen. 18 Wahrhaftig ich sage euch: Bevor Himmel und Erde vergehen, wird von der Tora nicht der kleinste Buchstabe und kein einziges Häkchen vergehen, bis alles getan wird. 19 Wer nur ein einziges dieser Gebote außer Kraft setzt, und sei es das kleinste, und die Menschen entsprechend lehrt, wird in Gottes Welt als klein gelten. (5,17-19).

Eigentlich ist damit alles gesagt. Und man beginnt vielleicht zu ahnen, welcher ungeheuren, jahrhundertelangen Anstrengung vieler Theologengenerationen es bedurfte, um die Distanz zur Tora und ihre Abwertung zu erreichen, die immer noch manchen selbstverständlich erscheint.

Um auch die letzten Zweifel zu beseitigen heißt es in Mt 23,2f: Auf dem Stuhl Moses’ sitzen toragelehrte und pharisäische Leute. Alles, was sie euch lehren, das tut und daran haltet euch. Alles! Alles, was die pharisäischen Toragelehrten lehren, ist von den AnhängerInnen Jesu zu halten! Das geht weit über die Schrift selbst hinaus und tief in die pharisäische, die sich anbahnende rabbinische Auslegung, Aktualisierung und Weiterschreibung der Tora hinein, kurz in die mündliche Tora. Man sieht, was doch die Hauptlinie der Kirchengeschichte für eine ungeheure verpasste Gelegenheit war! Dass diese Pharisäer nach der Meinung des Matthäus selbst das nicht immer praktizieren, was sie lehren, und dass das ganze weitere Kapitel dann eine heftige Auseinandersetzung mit deren Praxis ist, ist die andere Seite. Sie nimmt aber der grundsätzlichen Aussage nichts von ihrer Bedeutung.

Ich stelle 2Kor 1,19f als Beispiel für die Briefe des Apostels Paulus daneben:

19 Denn Gottes Sohn, Jesus Christus …existierte nicht als Ja und Nein zugleich, sondern in ihm wurde das Ja Wirklichkeit. 20 Denn wie viele Verheißungen Gottes es auch gibt – in ihm sind sie bejaht. Darum sagen wir auch durch ihn das Amen: Es werde wahr, auf dass Gott aufstrahle.

Anlass sind offenkundig Vorwürfe aus der Gemeinde in Korinth, die Paulus Zwiespältigkeit im Reden und im Handeln vorwerfen (V. 16f), so dass „mein Ja gleichzeitig ein Nein“ wäre (V. 17). Dagegen beruft er sich auf die Zuverlässigkeit Gottes, die auch sein eigenes Reden bestimmt (V. 18): „deshalb ist unser Wort an euch kein Ja und Nein zugleich.“ Die Verlässlichkeit Gottes, in der seine eigene Verlässlichkeit gründet, ist nicht Ja und Nein zugleich. Christus ist vielmehr das Realität gewordene Ja Gottes. Und zwar, und das ist nun entscheidend, Christus ist das Ja zu allen Verheißungen Gottes.

Alle, „so viele es auch gibt“, sind mit ihm eindeutig bestätigt. Zunächst wird man sagen müssen: als Verheißungen sind sie bestätigt. Sie bleiben Verheißungen, was sie immer waren, und sie bleiben wahr, was sie ebenfalls immer waren. Und dann ist da die Wendung „so viele es auch gibt“ (hósai). Die gesamte Argumentation – und damit auch sein eigener guter Ruf und sein Ansehen als Apostel – hängt daran, dass dieses Ja eindeutig und uneingeschränkt gilt. Es würde seine eigene Stellung unterminieren, würde das gelten, was die christliche Rezeption in der Regel voraussetzt, dass mit Christus eben nur einem Teil der alttestamentlichen Verheißungen und eschatologischen Erwartungen Geltung verschafft würde, eben die, die in den jeweiligen christlichen Theologierahmen passen. Wie wenig der Bezug der neutestamentlichen Aussagen auf die Schrift theologisch, zeigen die wissenschaftlichen Kommentare, die all diese Fragen einfach übergehen und gar nicht erst behandeln.

4. Und die negativen Aussagen?

Jahrtausendelang ist das Alte Testament als vom Neuen überholt oder gar abgelöst gelesen worden. Dafür hat es natürlich neutestamentliche, Begründungen gegeben, also in bestimmter Weise gelesene Texte, die diese Begründungen geliefert haben. Sie sind oft stärker präsent als 6 die eben genannten und sind Ihnen vielleicht längst eingefallen. Nur an einen dieser negativen Schlüsseltexte soll hier erinnert werden, an Lk 16,16:

„Die Tora und die Propheten – bis zu Johannes; von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes verkündet, und jeder und jede wird hineingenötigt“.

Der Anfang klingt eindeutig und wird vielfach, gerade auch von Theologen (das habe ich nachgeprüft), als Beleg für ein zeitliches Nacheinander von Gesetz/Propheten und dem Evangelium empfunden, das heißt als Ablösung des Alten durch das Neue Testament. Aber es folgt nicht nur im gleichen Kapitel das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus mit seiner kaum überbietbaren Hochschätzung der Tora7, es folgt zunächst einfach V. 17: „Es ist leichter, dass Himmel und Erde vergehen, als dass ein Strichlein der Tora fällt“.

Was immer V. 16a bedeutet, gemeint ist nicht die Ablösung oder Überwindung der Tora. Es geht vielmehr um eine Fortführung von Tora und Propheten durch das Evangelium, und zwar so, dass mit der Predigt des Reiches Gottes die alten Traditionen von Gebot Gottes einerseits und von der Verheißung Gottes andererseits zu einer gegenwärtigen wirkenden Kraft zusammen kommen. Für mich selbst war es durchaus überraschend, dass es im gesamten Neuen Testament keine Texte gibt, die von einer grundsätzlichen Überwindung oder Überbietung der Bibel Israels sprechen.

5. Ergebnis: Das Alte Testament als der Wahrheitsraum des Neuen

Der Versuch einer Zusammenfassung ergibt den Titel meines Buches: Das Alte Testament als der Wahrheitsraum des Neuen8. Dass mit diesen vielen Bezügen auf einen vorgegebenen Raum verwiesen wird, in den das, was über Jesus als den Christus zu sagen ist, jeweils eingezeichnet werden kann, ist eine Metapher, die vielleicht etwas von dem Beobachteten einfangen kann. Wie der Himmel mit seinen Sternen Raum und Orientierung ermöglicht, aber in diesen Bezügen nicht aufgeht, so lassen die expliziten und impliziten Bezüge des Neuen Testaments die Schrift als den von Gott vorgegebenen Raum erscheinen, in dem die jeweils notwendige Orientierung, also die Einordnung des Christus und seiner Rolle vollzogen wird. Es geht dabei nicht nur um sprachliche, kulturelle, religiöse Traditionen, die das Neue Testament voraussetzt, sondern es geht um die Wahrheit. Die Bezüge sind so, dass das Neue Testament und seine Rede von Christus nur wahr ist, nur wahr sein kann, wenn auch das Alte Testament und seine Rede von Gott und Israel wahr ist und wahr bleibt. Davon soll jetzt beispielhaft die Rede sein.

IV. Der Gott der jüdischen Bibel und die Messianität Jesu

„Ich glaube an Jesus Christus“ – darin liegt das Spezifische des christlichen Glaubens gerade im Unterschied zum jüdischen. Doch je dichter im Neuen Testament von diesem Christus gesprochen wird, desto dichter sind die Bezüge auf die Schrift. Ich möchte jetzt an drei zentralen Themen der neutestamentlichen Aussagen über Christus den Bezügen zur Schrift nachgehen, bei den Themen Auferstehung, Messianität und Erhöhung. Zugleich geht es stets um die Frage gehen, ob das Alte Testament die Verheißung enthält, während das Neue ihre Erfüllung bringt.

1. Die Auferstehung Jesu und die Schrift

Ich beginne mit dem Thema Auferstehung und dem Auferstehungskapitel 1Kor 15. Hier erinnert Paulus in v.3b-5 die korinthische Gemeinde an das Evangelium, das er ihnen gebracht hat. Zweimal beziehen sich die knappen Formulierungen ausdrücklich auf „die Schriften“, „gestorben für unsere Sünden“ und „auferstanden“, die beiden theologischen Kernstücke des urchristlichen Glaubens sind geschehen „entsprechend den Schriften“ („kata tas graphas“). Nach dem üblichen Verständnis denkt Paulus hier an alttestamentliche Verheißungen, im Sinne von Voraussagen, die jetzt eingetroffen seien. Ein solches Schema gibt es aber erst seit dem 2. Jh. n. Chr. (Justin). Paulus selbst denkt offenkundig ganz anders. Das zeigen seine Ausführungen in v. 13ff:

13 Gibt es keine Auferstehung der Toten, dann ist auch Christus nicht aufgestanden. 14 Ist aber Christus nicht aufgestanden, dann ist unsere Verkündigung sinnlos und euer Vertrauen grundlos. 15 Wir würden falsches Zeugnis über Gott ablegen, weil wir gegen Gott bezeugen würden, er habe den Messias Christus aufgeweckt, den er doch nicht erweckt hat - wenn denn die Toten nicht aufstehen. 16 Wenn die Toten nicht aufstehen, so ist auch Christus nicht aufgestanden.17 Ist aber der Messias nicht aufgestanden, ist euer Vertrauen sinnlos und ihr seid noch in euren Sünden …19.... sind wir die armseligsten unter alle Menschen“ (15,13-19).

Die übliche Auslegung geht vom christlichen Glauben an die Auferstehung Jesu aus, wie er hier in v. 3ff.12 und 20 bezeugt ist. Wenn jedoch christlicher Auferstehungsglaube allein im Ereignis der Auferstehung Jesu wurzelt, dann ist die in v.13ff vollzogene Argumentation eigentlich unverständlich und es könnte sich dabei höchstens um eine Art Gedankenexperiment handeln. Doch in den parallelen Kettenschlüssen von v.13-15 und 16-19 geht Paulus betontermaßen nicht vom Einzelfall der Auferstehung Jesu, sondern von der Verheißung der allgemeinen Totenauferstehung aus.

Es ist der alttestamentliche und bis heute jüdische Glaube, dass Gott die Toten erwecken wird, den Paulus hier voraussetzt. Und zwar als das theologisch tragende Fundament. Mit dem Glauben an die allgemeine Totenauferweckung steht und fällt alles andere. Und darin bezieht er nicht nur alles ein, was christlichen Glauben ausmacht: Verkündigung, Glaube, Sündenvergebung, Hoffnung, sondern auch die Auferstehung Jesu selbst. Wenn Paulus wirklich meint, was er hier sagt, dann hängt der christliche Glaube insgesamt an dem, was Schrift und jüdische Tradition immer schon, Paulus würde sagen seit Abraham (Röm 4,17), als mit dem Gott Israels grundsätzlich gegeben ansehen.

Erstaunlicherweise gilt das auch für die Zeugen, die den Auferstandenen gesehen haben, einschließlich seiner selbst: Unser Zeugnis wäre ein falsches Zeugnis, sagt er (v. 15). Will man nicht annehmen, dass er und die anderen gar nichts „gesehen“ haben, dann kann nur gemeint sein, dass das, was sie gesehen haben, ohne den vorgängigen Glauben an die todüberwindende Kraft Gottes und seine Verheißung, Tote zu erwecken, nichts wäre.

Diese Erfahrung ist nicht unabhängig von der Schrift und kann deshalb nicht nachträglich durch sie „bestätigt“ werden oder sie „öffnen“ und völlig neu erschließen, sondern diese Erfahrung ist nur deshalb eine Erfahrung von der Auferstehung Jesu, weil sie genau umgekehrt das vorgängig bekannte Zeugnis der Schrift bestätigt. Die Schrift und ihre Verheißungen werden in diesem Gedankengang zur theo-logischen Grundlage nicht nur für die Auferweckung Jesu und den christlichen Glauben, sondern gerade auch für das Zeugnis der Augenzeugen. Nicht grundsätzlich anders liegen die Dinge in den Evangelien. Ich folge als Beispiel der die Emmausgeschichte in Lk 24. Sie erzählt von einem Weg, der vom Gehaltensein der Augen, vom Nichterkennen und Nichtverstehen (v. 16) zum Öffnen der Augen und zur Erkenntnis führt (v.31).

Was diese Wende bewirkt, ist - geradezu überdeutlich wird es dargestellt - die Schrift. Die beiden Jünger erzählen zunächst dem mitwandernden Unbekannten die ganze Geschichte als eine Geschichte enttäuschter Hoffnung: „Wir aber hatten die Hoffnung, er sei es, der Israel befreien würde“ (v.21). Sie, die all das erlebt, gehört und sogar weitergegeben haben, müssen sich als „unverständig und herzensträg“ bezeichnen lassen (v. 25): „ihr begreift nicht und euer Herz ist zu schwer“.

Warum aber ist das so? Nicht etwa, weil sie der Botschaft der Engel und der Frauen nicht glauben, sondern allein, „weil sie nicht vertrauen auf alles, was die Prophetinnen und Propheten gesagt haben“ (v. 25). Es ist der Glaube an das Zeugnis der Propheten und zwar an alles, was dort zu lesen ist, woran es mangelt. Der Glaube an die Propheten ist der alles entscheidende Schlüssel, nicht nur zum Verständnis des mit Jesus Geschehenen, sondern das Vertrauen auf die Botschaft der Propheten ist der Glaube, um den es geht. Was hier zu glauben ist, steht bei den Propheten.

Und entsprechend sieht dann auch die Belehrung aus: „Und er begann bei Mose und allen prophetischen Schriften legte er ihnen in allen Schriften das aus, was ihn betrifft.“(v. 27). Es ist der Tenak, der dreiteilige hebräische Kanon, der hier ins Spiel kommt, Tora, Propheten und Schriften. Und das doppelte „alle“, welches das „alle Propheten“ aus v. 25 weiterführt, zeigt, dass es nicht um einzelne Worte und Belegstellen, nicht um dicta probantia geht, sondern um das Ganze der Schrift, um etwas, was von Anfang bis zum Ende dort zu finden ist.

Die Differenz zum Weissagungsbeweis der kirchlichen Theologie ab dem 2. Jh. n. Chr. ist eindeutig. Hier geht es nicht um Weissagungsstellen. Letztlich muss es um den lebendigen Gott gehen, der der Gott der Lebenden ist. Es ist schon erstaunlich: Der Auferstandene macht sich selbst kenntlich, indem er mit den beiden Jüngern die Schrift liest und deutet, er kann offensichtlich nur so und er will nur so erkannt werden. Kein Glanz, kein Wunder, keine überwältigende Erfahrung lösen Glauben und Erkennen aus, sondern allein der Horizont der durch die Auslegung der Schrift eröffnet wird, macht Erkenntnis möglich.

2. Die Messianität Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen?

Ich komme zur Bezeichnung Jesu als Christus, als Messias, die alle Schriften des Neuen Testamentes durchzieht. Doch in welchem Sinne wird er dabei als die „Erfüllung“ der alttestamentlich-jüdischen messianischen Hoffnung verstanden?

Ich werfe zunächst einen Blick auf eines der sogenannten Erfüllungszitate in den ersten Kapiteln des Mt-Evangeliums. Hier wird neben Geschichtserinnerung und Klage in Mt 4,14f eine der großen messianischen Verheißungen aus Jes 9 zitiert. Aber interessanterweise zunächst deren unscheinbarer Anfang. Deutlich wegen des galiliäischen Lokalbezugs wird das „Land Sebulon und Naftali“ genannt. Dazu wird dann das große Wort vom aufstrahlenden Licht zitiert: „Das Volk, das in der Finsternis litt, sah ein großes Licht“ (Jes 9,1). Deutlich wird so an einen früheren Vorgang erinnert. Um was es letztlich geht, wird erst verständlich, wenn man über diesen Anfang hinaus in Jes 9 weiter liest:

Das Joch, das auf ihnen lastete, den Stab auf ihren Schultern,
den Knüppel des Antreibers über ihnen
hast du zerbrochen …
Denn jeder Soldatenstiefel, trampelnd mit Gedröhn,
und der Mantel gewälzt in Blut,
soll verbrannt werden … (Jes 9,3f).

Das ist das eigentliche Ziel messianischen Handelns, so ist die messianische Zeit, und das weiß jeder und jede. Das Zitierte erinnert daran. Doch ein solcher „Friede ohne Ende“ (Jes 9 9,6), ist mit Jesus keineswegs schon gekommen, die Erwartung in diesem einfachen Sinne also nicht „erfüllt“. Was Matthäus zitiert, ist der Anfang des jesajanischen Textes, der von einem bereits vergangenem Beginn erzählt, was wiederum bei allen, die die Fortsetzung kennen, die große messianische Erwartung in Erinnerung ruft und so neu aufkeimen lässt: die Hoffnung auf das Ende aller ausbeuterischen und aller militärischen Gewalt.

Ähnliches gilt für die anderen sogenannten messianischen Texte auch. In der Schrift sind vom ersten Vorkommen des Begriffs Messias/maschiach (1Sam 2,10) an die Dimensionen von politischer Herrschaft und sozialer Gerechtigkeit zentral. Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte – das ist der Kern der messianischen Hoffnung und der Sinn der grundlegenden und fundamentalen Kennzeichnung Jesu im Neuen Testament als „Christus“. Das gilt für Jes 11 mit der Ankündigung von Recht und Gerechtigkeit für die Armen und Elenden (V. 4f) und seiner Aufnahme in Röm 15,12 und 1 Petr 4,14.

Das gilt für Sach 9,9 mit seinem „niedrigen“ König, der die Kriegswaffen abschafft, und seine Bedeutung für Mt 21,5 und den Einzug in Jerusalem. Nicht zuletzt ist hier Ps 2 zu nennen, der von einem Aufstand gegen Gott und gegen den in Zion eingesetzten Messias sowie von dessen Weltherrschaft spricht, was besonders deutlich in Apg 4,25f und Offb 2,26f zitiert und auf Jesus bezogen wird. Ausdrücklich um Salbung geht es sodann in Jes 61,1ff, deren Einsetzung durch Gott ebenfalls auf befreiendes Handeln an Armen und Gefangenen (V. 1f) zielt und in Lk 4,16-21 aufgenommen wird.

Dass Jesus sie „erfüllt“, heißt nicht, das Verheißene sei nun mit Jesus eingetreten – das wäre ja eine Lüge. Es heißt vielmehr, diese Hoffnungen werden mit Jesus bestätigt – als Hoffnungen. Angesichts von Unrecht, Krieg und Gewalt in dieser Welt kann die Hoffnung auf eine messianische Veränderung nur eine gemeinsame sein, die wir Christen von den Juden gelernt haben, die wir in Jesus Christus verstärkt und erneuert sehen, aber die uns gemeinsam ist.

3. Die Erhöhung Jesu und die Rücknahme des Messianischen auf das Handeln Gottes

Für das Wirken des Messias Jesus schon zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Texte und ist bis heute die Aussage „sitzend zur Rechten Gottes“ entscheidend. Sie steht bekanntlich im apostolischen Glaubensbekenntnis und kommt damit in nahezu jedem christlichen Gottesdienst vor. Die Formulierung stammt aus Ps 110,1:

Spruch Adonajs an meinen Herrscher:
„Setze dich zu meiner rechten Hand,
bis ich deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“

Der Beginn dieses Psalms ist ein Gottesspruch, dass sich der davidisch-messianische König zur Rechten Gottes setzen soll, also in unmittelbarer Nähe des göttlichen Thrones selbst, und zwar für die Zeit, bis Gott selbst die Feinde des Königs für diesen besiegt hat. Man kann dieses „bis“ auch mit „während“ wiedergeben.

Dieses Wort aus Ps 110,1 ist der am meisten zitierte Vers der Schrift im Neuen Testament. 16 bzw. sogar 21mal kommt er dort vor9 und in fast allen neutestamentlichen Schriftengruppen. Er hat für das Neue Testament und seine Rede von Christus eine Schlüsselstellung. Die Erhöhung ist ja zugleich das Ende der Anwesenheit und Erfahrbarkeit Jesu, auch und gerade des Auferstandenen. Lukas erzählt davon in der sogenannten Himmelfahrt, (Lk 24,51; Apg 1,4ff).

Von fundamentaler Bedeutung für die Rolle des Alten Testaments für den christlichen Glauben ist die inhaltliche Aussage, die mit dieser Erhöhungsvorstellung über das Verhältnis des Messias Jesus zu Gott gemacht wird. Der Messias ist danach auf Gott und Gottes Macht angewiesen. Gott wird die Feinde unterwerfen und das messianische Heil verwirklichen. Der Messias muss warten „bis dass/während“ Gott so handelt. Das ist im Psalm eine Hoffnung und es bleibt eine Hoffnung bis heute. Doch angesichts eines bereits identifizierten Messias und messianischer Zeichen ist es auch und vielleicht in erster Linie eine Rücknahme, eine Sistierung des Messianischen. Alles wird auf das Handeln Gottes zurückgenommen. Was in der Welt zur Durchsetzung des messianischen Projektes geschieht und was bis zu seiner vollen Durchsetzung geschieht, ist das Handeln des Gottes Israels, und nichts anderes.

Erst mit der Erhöhung an die Seite Gottes ist der Punkt in der Gegenwart erreicht, von dem her und auf den hin die neutestamentlichen Texte sprechen. Dieser Moment ist für den Umgang mit und für die Wertung der Schrift mit entscheidend. Die neutestamentlichen Erhöhungsaussagen sind sicher Ausgangspunkt und Grundlage für die spätere Trinitätslehre geworden. Aber diese Lehre hat eine andere Seite, die dabei oft übergangen wird: Christus ist durch diese Entrückung an die Seite Gottes in der Welt und bei seiner Gemeinde auf keine andere Weise gegenwärtig und wirksam als es Gott ist und schon immer war – bis alle Feinde endgültig besiegt sind. Dass Gott, wie verborgen auch immer, über die Welt herrscht und alle Tage bei den Seinen ist, all das ist ja nichts Neues, das ganze Alte Testament erzählt davon, und also prinzipiell auch nichts Trennendes. Der Modus der messianischen Herrschaft dieses erhöhten, himmlischen Messias ist prinzipiell nicht von der Herrschaft Gottes zu unterscheiden.

So gesehen ist es also gerade die hohe Christologie, die Christus ganz an die Seite Gottes rückt und genau dadurch seine Anwesenheit und Präsenz in der Welt und damit auch die Erfüllung der messianischen Erwartung auf das zurücknimmt, was Israel immer schon über Gott ausgesagt, geglaubt und in der Schrift formuliert hat. Die Aussagen über die Erhöhung an die Seite Gottes beschreiben damit zugleich den Modus, in dem Messianisches in der Welt gegenwärtig ist, so verborgen und so widerständig, wie es immer schon in der Gotteserfahrung Israels gegeben war. Der Gott Israels ist ja seit dem Exodus immer als Macht von Befreiung und Gerechtigkeit erfahren worden. Und damit auch als messianische Kraft.

Gottes befreiendes Wirken, Gottes vergebendes und erneuerndes Wirken, Gottes schöpferisches und neuschöpferisches Wirken, Gottes erwählendes, lehrendes und richtendes Wirken – alles, wovon die Schrift erzählt, lässt erkennen, wer Gott ist und wie Gott wirkt, wie Gottes Macht im Gegensätzlichen der Welt erfahren wird. An diesem Gott, und allein an Gott und seinem Wirken hängt das messianische Projekt, für das dieser Jesus steht. In der Welt ist Christus nicht anders anwesend als Gott es schon immer war, das heißt so, wie Israel es wusste, erfahren hat und erwartet – bis der Sieg über die Feinde, die Mächte von Sünde, Gewalt und Tod, vollendet ist.

V. Schluss

In jedem christlichen Gottesdienst kommen Texte aus dem Alten wie dem Neuem Testament vor und insofern ist das Gespräch zwischen Juden und Christen immer präsent. Das Verhältnis zwischen den beiden Bibelteilen ist natürlich nicht identisch mit dem zwischen Judentum und Christentum, aber es hat doch eine zentrale Bedeutung dafür, nicht zuletzt für das an der Schrift orientierte reformatorische Denken. Was das Christliche ist, wird allerdings nicht allein durch das Neue Testament bestimmt, schon deshalb nicht, weil dieses nicht aus sich allein verständlich ist, sondern ständig auf seine Basis zurückverweist und nur wahr ist, wenn diese wahr ist.

Sichtbar wird das im Gottesdienst vor allem an den Psalmen. Ein christlicher Gottesdienst ohne sie ist kaum denkbar. Sie sind tiefster Ausdruck christlicher Frömmigkeit und enthalten doch nichts als Israels Gotteserfahrung. Man lese dazu nur Luthers Vor- und Nachreden über die Psalmen. „Willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen mit lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinen Bild gefasset, so nimm den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen …finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen.“10

„Summa, der Psalter ist eine rechte Schule, darin man den Glauben und gut Gewissen zu Gott lernt, übet und stärkt.“11 Alles, was wir von Gott erfahren und glauben, ist hier gesagt, vor Jesus und ohne dass von ihm die Rede ist. Hier zeigt sich die notwendige, die bleibende Asymmetrie: Das Alte Testament trägt wie das Judentum seine Geltung und seine Wahrheit in sich, das Neue Testament ist wie der christliche Glaube auf die vorgängige Wahrheit Israels und ihre bleibende Geltung angewiesen. Eben das ist eine notwendige Folge aus dem reformatorischen Grundsatz sola scriptura.

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1 Das Folgende ist die Variante eines Vortrags, den ich mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Beispielen seit 2011 an vielen Orten gehalten habe (weitgehend in der vorliegenden Gestalt etwa in der lutherischen Gemeinde in Venedig 11.11.2012). Er will die wichtigsten Thesen meines Buchs: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh (2011), 2. Aufl. 2015 vorstellen und zur Debatte stellen. Meine Sicht und ihre Begründung ist also unabhängig von der Diskussion über die Thesen von Notger Slenczka (zuerst 2013) entstanden, will aber zeigen, dass diese dem gesamtbiblischen Befund entschieden widersprechen

2 hé graphé Lk 4,21; Joh 2,22; 7,38; 19,24.28.36.37; Apg 1,16; Röm 4,3; 11,2; Gal 3,3; 1Petr 2,6 u.V.a.

3 hai graphái Mt 21,42; 22,29; ; Mk 12,24; Lk 24,27.32.45; Joh 5,39; Apg 8,32.35; 17,2; Röm 1,2; 15,4; 16,26; 1Kor 15,3.4.

4 Mt 2,5; 4,4.6.7.10; Mk 1,2; 7,6; Lk 2,23; 4,4.5.10; Röm 1,17; 4,17.23 u.v.a.

5 Vgl. Lk 24,27; vgl. V. 44.

6 Z.B. Mt 5,17; 7,12: 11,13; Lk 16,16; Joh 1,45; Apg 13,13; Röm 3,21. 5

7 bes. Lk 16,29.31: „Wenn sie nicht auf Mose und die prophetischen Schriften hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten sich erhebt!

8 Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011.

9 Mt 22,44; 26,64; Mk 12,36; 14,26; 16,19; Lk 20,42f; 22,69; Apg 2,34f; Röm 8,34; 1 Kor 15,25; Eph 1,20; Kol 3,1; Hebr 1.3.13; 8,1; 10,12f. Zusätzlich reden, ohne genaues Zitat zu sein, von der Erhöhung zur Rechten Gottes: Apg 2,33; 5,31; 7,55f; Hebr 12,2; 1 Petr 3,22; Ohne „zur Rechten“ auch noch Apk 3,21.

10 Zweite Vorrede auf den Psalter (1528), WA DB 10/1, 98-105; Text nach H. Bornkamm Hg., Luthers Vorreden
zur Bibel, Göttingen 1989, 69.

11 Nachwort zum Psalter (1525), WA 10/1, 588; Bornkamm, a.a.O. 70

 

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