Der Brudermord. Oder: Vom Umgang mit Gewalt
Predigt zu Gen 4,1-16
Liebe Gemeinde,
es gibt Geschichten in der Bibel, die zusammengehören – ähnlich wie Zwillinge. Sie bilden ein Pärchen, das sich ergänzt. Aus der Kunstgeschichte kennen wir dies. Zweiflügelige Altarbilder, die man etwa aufklappen kann, bilden ein Diptychon. Ein Diptychon ist also ein zweifaltiges Bild. Man muss beide Teile entfalten und betrachten, um zu verstehen. Genauso verhält es sich mit unserer Erzählung von heute Morgen. Die Geschichte von Kain und Abel will mit der Geschichte von Adam und Eva zusammen betrachtet werden. Die Kapitel 3 und 4 des 1. Buches Mose (Genesis) gehören zusammen. Beide gehen auf die Frage ein, wie die Sünde in die Welt kam. Die Geschichte von Adam und Eva richtet dabei den Blick stärker auf das Verhältnis des Menschen zu Gott; die Geschichte von Kain und Abel stärker auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Fast hat man das Gefühl, als würde in dieser Zuordnung die Anlage der beiden Tafeln des Dekalogs, also der Zehn Gebote, abgebildet.
Wegen der Schwere der Tat, dem Brudermord, spricht einiges dafür, die Geschichte von Kain und Abel als die eigentliche „Sündenfallgeschichte“ des Alten Testaments zu sehen.1 Was ist schon der verbotene „Biss in die Frucht“ im Vergleich zum Brudermord? Auch wird Kain direkt von Gott verflucht (Gen 4,11), anders als Adam und Eva. Bei ihnen traf der Fluch nur die Schlange (Gen 3,14f.). Außerdem taucht in der Geschichte von Adam und Eva der Begriff der Sünde noch gar nicht ausdrücklich auf, erst in der Geschichte von Kai und Abel. So spricht Gott zu Kain, nachdem dieser gewahr wurde, dass Gott sein Opfer nicht anerkennt: „Wenn du es gut machst, so kannst du frei den Blick erheben, aber wenn du es nicht gut machst, so lauert die Sünde vor der Tür und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (Gen 4,7).2
Damit sind wir bereits beim „Knackpunkt“ der Erzählung angelangt, zumindest was den Umgang mit Gewalt betrifft. Es geht um Herrschaft: die Herrschaft über die Sünde. Herrscht die Sünde über den Menschen oder der Mensch über die Sünde? In unserer Erzählung herrscht offensichtlich die Sünde über Kain. Er erliegt der lauernden Sünde und schlägt seinen Bruder tot. Armer Kain, möchte man beinahe bemitleidend sagen. Dumm gelaufen, so möchte man sagen, dass seine Widerstandskräfte nicht ausreichten, seine Resilienz zu gering war und er sich gehen ließ. Hat Kain nicht eine zweite Chance verdient? Muss der tote Abel nicht allein schon deshalb auferstehen, um Kain diese zweite Chance einzuräumen? In einem Gedicht von Hilde Domin heißt es: „Abel steh auf / es muss neu gespielt werden / täglich muss es neu gespielt werden / […] steh auf / damit Kain sagt / damit er sagen kann / Ich bin dein Hüter / Bruder“.3
Wenn wir einmal in Kains Rolle geschlüpft sind und auf seiner Seite stehen, dann wechseln die Zuschreibungen von Verantwortung und Gerechtigkeit: Gott scheint willkürlich und ungerecht zu handeln. Hätte Gott nicht das Opfer Kains anerkennen können, ja müssen, um den Mord zu verhindern? Hat Gott nicht Kain gegen Abel aufgebracht? Ist etwa solch ein willkürliches Verhalten vereinbar mit Gottes Liebe und Güte? Wie schnell verwandelt sich unsere Geschichte unter diesem Zugriff zu einer dunklen und belastenden Erzählung – vor allem hinsichtlich unseres Gottesbildes! „Düster und beklemmend“4 nennt der jüdische Gelehrte Elie Wiesel sie und wer wollte ihm da widersprechen?
Vielleicht helfen uns einige Beobachtungen am Text weiter. Vielleicht vermögen sie uns Wege aufzuzeigen, angemessene Umgangsformen mit Sünde, Schuld und ganz konkret: mit aufkeimender Gewalt zu finden. In dieser hoffentlich nicht allzu vagen Zuversicht möchte ich einige Betrachtungen entfalten:
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es sich bei dieser Geschichte um eine Ur-geschichte, also gewissermaßen um unser aller Geschichte handelt. Sie sagt etwas über „grundlegende menschliche Verhaltensweisen“ aus, über „Wesenszüge, die jedem Menschen vor-gegeben sind, insofern er Mensch ist.“5 Von Anfang an war der Mensch so wie in dieser Ur-zeit. Insofern ist diese Geschichte keineswegs uralt, sondern erstaunlich neu, frisch und aktuell. Sie deckt auf, was immer wieder geschieht, aber nicht geschehen soll. Und sie benennt die verborgenen Anfänge und heimlichen Ursachen unseres Verhaltens.
Dabei wird man relativ schnell feststellen: es gibt sehr, sehr viele Erklärungsversuche für die Ungleichbehandlung von Kain und Abel. Eine Mutmaßung Hermann Gunkels besagt etwa: „Jahve liebt den Schafhirten und das Fleischopfer, aber er will nichts wissen von den Bauern und dem Opfer der Früchte.“6 Das hört sich so an, als sei Gott gewissermaßen ein Anti-Vegetarier, als wolle er Fleisch und nicht die veganen Früchte. Oder ein anderer Erklärungsversuch: Da Kain als Erstgeborener mehr Liebe von seinen Eltern empfangen hatte, brauchte es nun eine ausgleichende Gerechtigkeit durch Gott als Entschädigung für Abel.7
„Eva gebar den Kain mit Jubel, den Abel gebar sie lediglich ‚auch‘.“8 Oder, um ein in Kinderbibeln höchst beliebtes Erklärungsmuster zu benennen: Kain opferte im Unterschied zu Abel nicht aufrichtig und aus vollem Herzen, sondern böse und unfromm.9 So interessant alle diese Überlegungen im Einzelnen auch sein mögen, es handelt sich doch schlicht um Mutmaßungen und Spekulationen, die vom Anliegen der Erzählung wegführen. Wir finden im Text keines von diesen Erklärungsmustern bestätigt:10 „Es ist deshalb müßig, überflüssig und theologisch falsch, nach den besonderen Mängeln und Vorzügen der jeweiligen Opfergaben zu fragen und nach einer rechten oder falschen Opfergesinnung zu forschen, um Gottes Handeln ‚plausibel‘ oder ‚vernünftig‘ zu machen.“11
Die Erzählung will uns klarmachen, dass es in der Sozial- und Individualgeschichte immer so war, ist und sein wird, dass Menschen etwas gelingt und anderen nicht. Erfolg und Misserfolg liegen eng beieinander. Er wird gewiss auch immer so sein, dass die einen erwählt werden und die anderen nicht. In unserer Geschichte verwirft Gott freilich nicht einfach Kain, sondern er redet mit ihm – vor und nach der Tat.12 Und dennoch wird Gott in unserer Geschichte in seinem anerkennenden und nichtanerkennenden Handeln als Konfliktauslöser identifiziert. Und dies verweist darauf, dass es Dinge gibt, die tapfer ertragen sein wollen. Das ist gewiss nicht einfach. Reinhold Niebuhr hat aus gutem Grund in seinem berühmten „Serenity-Prayer“, dem Gelassenheits-Gebet, um Folgendes gebeten:
„Gott, gib uns die Gnade, mit
Gelassenheit Dinge hinzunehmen,
die sich nicht ändern lassen,
den Mut, Dinge zu ändern,
die geändert werden sollten,
und die Weisheit, das eine
vom anderen zu unterscheiden.“13
Freilich: Es wird uns bei noch so viel Unterscheidungsvermögen jenseits von Fatalismus und Draufgängertum, bei noch so viel Gelassenheit, Mut und Weisheit gleichwohl nicht gelingen, die Differenzen ganz aufzuheben: „Ungerecht geht es zu und das ohne Grund, dem einen glückt’s, dem anderen nicht, der eine hat’s und bekommt noch etwas dazu, der andere nicht. Man kann es Schicksal nennen, Glück, Zufall, selbst bei gleichem Ausgangspunkt, und gleichem Bemühen, plötzlich ist da eine unerklärliche Differenz, durch die der eine sich zurückgesetzt, nicht anerkannt sieht. Es geht um Verlust des Gesichts, Einbuße an Respekt, ‚Anerkennungszerfall‘, wie es heute wissenschaftlich genannt wird (W. Heitmeyer), um Anlass zu Neid und Zorn.“14 In unserer Geschichte ist es Gott, der dahinter steht. Und es scheint fast so, als drücke die Tatsache, dass es hier Gott ist, der den Konflikt auslöst, die Unveränderlichkeit und Unerklärbarkeit der Erfahrung von Erfolg und Scheitern aus.15
Die entscheidende Frage ist nun die, wie wir mit dieser Tatsache umgehen, ob wir ihr etwa mit Gewalt begegnen oder nicht. Es gibt keinen Automatismus, der uns dazu nötigt und verpflichtet, zur Gewalt zu greifen und unseren Bruder umzubringen. Der Mensch wird nicht einfach marionettenhaft gesteuert.16 Die Freiheit der Tat wird vorausgesetzt. Und damit zugleich auch ein zweites, nämlich dass auch Widerstand gegen die Sünde möglich ist.
Halten wir also fest: „Wichtiger als die Erforschung des Charakters von Kain und der Gründe für Misslingen und Erfolg ist die Frage nach dem angemessenen Verhalten.“17 „Denn nicht die Frage, warum einer Erfolg hat, der andere nicht, ist das Problem, für das Kains Tat steht, sondern die Frage, wie ein Mensch damit umgeht, dass der andere Erfolg hat. […] Das ist das Thema von Gen 4.“18 Wie gehe ich damit um, dass der andere und nicht ich Erfolg hat?
Wie gehen wir mit Misserfolg um? Wie ist Kain damit umgegangen? Er greift zur Gewalt aus Neid und Enttäuschung: „Gewalt aus Frustration. […] weil A erfolgreicher war als K., tötete K. den A.“19 Doch genauer noch lässt sich sagen: Kain sieht sich mit Gott konfrontiert, dem Gott, der ihm den Segen versagt und entzieht, und dies noch dazu ohne eine nähere Erläuterung seiner Wahl. Mit dieser Situation muss er zurechtkommen, doch gelingt es ihm nicht. Er kriegt sich bzw. den Dämon in ihm nicht in den Griff,20 sondern überträgt in zorniger Empörung den Konflikt mit Gott auf Abel: „Indem er den Gesegneten beseitigt, will er die Ungleichbehandlung durch Gott beseitigen.“21
Diesen Übertragungsmechanismus kann Kain offensichtlich nicht ausschalten und vermeiden. Nicht Kain reguliert ihn, sondern er reguliert Kain. Entscheidend ist hier die „Spanne zwischen der Entstehung einer Verfinsterung und dem Umgang mit ihr“.22 Und genau hier interveniert nun Gott und mahnt Kain. Doch Kain schlägt alle Mahnung in den Wind. Kain lässt sich überwältigen. Seine Frustration, sein Zorn wächst sich gleichsam zu einem Dämon, einer Furie aus: „Kains Situation war von wilden Gefühlen beherrscht“.23 Er verliert die Kontrolle. Der Rest ist bekannt und von der Bibel schnell erzählt: „Und es begab sich. Als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (Gen 4,8).
Es entsteht die Frage: Was hätte Kain alternativ tun können? So ziemlich alles, jedenfalls nicht seinen Bruder umbringen, so dürfte unser spontaner Antwortimpuls lauten. Doch die Auskunft unserer Erzählung ist an diesem Punkt sehr viel genauer: Vor allem hätte Kain mit Gott ins Gespräch eintreten können und zwar durchaus auch klagend, das erfahrene und empfundene Unrecht beim Namen nennend.24 Gott sucht ja das Gespräch mit ihm. Warum sucht Kain es nicht mit Gott? Gott warnt Kain unmittelbar vor der Tat: „Die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (Gen 4,7). Genau diese Herrschaft bekommt Kai nicht hin. Er wird beherrscht. Er lässt sich beherrschen.
Aus Gewalt folgt nun nicht das, was von ihrer Anwendung so oft erhofft wird, nämlich dass Abel und mit ihm die Ungerechtigkeit zum Schweigen gebracht wird, sondern in der Bibel heißt es, dass das Blut Abels schreit. Die Vernichtung von Menschenleben verlangt nach rechtlichen Konsequenzen, damit nicht das vermeintliche Recht des Stärkeren regiert. Das Blut Abels schreit zu Gott und Gott selbst kommt und stellt den Täter. Gott toleriert nicht den Brudermord. Brudermorde sind keine natürliche Selektion. Sie sind keine Schöpfungsordnung, die hinzunehmen wäre.
„Wo ist dein Bruder Abel?“ – Gott fragt uns nach dem Verbleib unseres Mitmenschen – auch heute: „Wo ist heute dein Bruder?“ Vielleicht ist er im Mittelmeer ertrunken. Vielleicht ist er aus Syrien geflohen und stand bereits gestern vor unserer Tür. Vielleicht erscheint er morgen als Bettler und verlangt nach Brot. „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ Der Ruf Gottes will an unser Ohr dringen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ (Mk 4,9.23) – sagt Jesus.
Liebe Geschwister, seien wir uns gewiss: Gott lässt sich nicht veralbern. Auch nicht durch einen bösen Sprachwitz, wie den Kains: „Soll ich der Hüter des Hüters sein“ (Gen 4,9)? Gemeint ist der „Schafshüter“ Abel, denn Schafshüter war Abel ja von Beruf (Gen 4,2). Dieses „geistreiche“ Wortspiel bringt den Zynismus der Frage deutlich zur Sprache. Doch auch wenn es keinen Zeugen der Tat gibt, so toleriert Gott den Brudermord nicht. Nein, er stellt ihn unter seinen Fluch, der nun Kain trifft und für ihn zu einer tödlichen Bedrohung wird: Jeder darf ihn töten. Er ist vogelfrei (Gen 4,14).
Doch nun geschieht das Verblüffende, dass Gott auf die Klage Kains reagiert, auf die Klage, die Kain damals, als er sich von Gott ungerecht behandelt fühlte, unterlassen hatte. Damals hatte Kain den Mund nicht aufgemacht, jetzt tut er es. Gott lässt sich umstimmen. Er erbarmt sich auch des Brudermörders: „Gott stellt Kain unter seinen Schutz und wehrt die äußerste Konsequenz des Brudermordes ab, nämlich den Tod des Mörders (4,15).“25 Gott lehnt den Mord am Mörder ab und legalisiert ihn gerade nicht. Gott ist mit anderen Worten entschiedener Gegner jeder Todesstrafe!26
In der Geschichte von Kain und Abel wiederholt sich gewissermaßen die Geschichte von Adam und Eva und zwar im Blick auf das Verhalten Gottes nach der geschehenen Tat. Nachdem Adam und Eva von der Frucht gegessen hatten, erkannten sie, dass sie nackt waren und flochten sich Schurze aus Feigenblättern (Gen 3,7). Die Scham der biblischen Ureltern hielt Einzug; diejenige Scham wohlgemerkt, die Adam und Eva vor dem Fall nicht kannten, heißt es doch vom Paradies: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht“ (Gen 2,25). Im Paradies gab es nichts zu schämen und nichts zu verbergen. Doch nun ist alles anders. Jenseits von Eden sind Adam und Eva nicht mehr unverschämt frei, sondern nur noch verschämt unfrei.
Und wie reagiert Gott? Gott überlässt sie nicht ihrer Scham, nicht der nackten Wahrheit, auch nicht der Schutzlosigkeit vor voyeuristischen Blicken. Gott entkleidet nicht den Menschen, um sich an seiner Schwäche zu ergötzen. Nein, Gott bekleidet vielmehr den Menschen, um ihn vor seinesgleichen zu schützen: „Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke aus Fellen und zog sie ihnen an“ (Gen 3,21). Diese göttliche Bekleidungsaktion ist das Evangelium in der Sündenfallgeschichte. Denn Gott gibt den Menschen nicht der Schutzlosigkeit preis, auch wenn dieser es verdient hätte. Gott lässt seine gefallene Schöpfung auch nach dem Fall nicht vor die Hunde gehen.
Und genau dies wiederholt sich nach dem zweiten Fall, dem Fall Kains, dem Mordfall. Gott gibt dem Brudermörder Kain sein Kainsmal als Schutzzeichen: „Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“ (Gen 4,15). Gott gibt Kain mit anderen Wort das Recht, das Menschenrecht auf Leben. Genau das ist bis auf den heutigen Tag die Funktion des Rechts, dass der Mensch vor sich geschützt wird: „Der Mörder bleibt Mensch und gerade für ihn gilt der Schutz des Rechts. Diese Unterbrechung des Vergeltungszirkels eröffnet Kain und damit der Menschheit die Lebenschance trotz der eskalierten Gewalt.“27 Gott gibt den schutzlosen Brudermörder Kain in dessen höchster Todesnot nicht dem Tode preis. Und wenn er Kain nicht dem Tode preisgibt, wie sollte er uns dem Tode preisgeben? Das ist gute Botschaft für Kain und für uns alle.
Noch ein Wort zum Kainsmal: Das Kainsmal, so hatten wir gesagt, dient „dem Schutz des Mörders und seiner Reintegration in die menschliche Gemeinschaft. Es ist Kain selbst, der fürchtet und fürchten muss, aufgrund seines Brudermordes sozial verstoßen und schutzlos der Blutrache preisgegeben zu werden, und es ist Gott, der ihn vor dieser Konsequenz schützt, indem er seinerseits möglichen Rächern massive Gegengewalt androht. Was das bedeutet, tritt erst in dem folgenden Abschnitt richtig ans Licht: „Denn im Lande Nod, in dem Kain und seine Nachkommen künftig leben werden, [entsteht] die Zivilisation. Dort wird die erste Stadt gebaut, werden Viehzucht, Musik und Metallverarbeitung erfunden, werden mithin die Fundamente gelegt für die kainitische Welt, […] unsere Welt. In diesem Sinne beruht die menschliche Kultur und Zivilisation [der Bibel] zufolge auf dem Kainsmal, durch das Gott seinen Willen bekundet, die Eskalation der Gewalt zu unterbrechen, die nach Kains Brudermord in Gang zu kommen droht.“28
Das ist sicher nicht das kitschige Happyend einer schrecklichen Geschichte, aber doch eine überraschende Wendung. Ja, hier wird die Gewalt unterbrechende „Gegengeschichte Gottes“29 erkennbar. Und wir dürfen davon ausgehen, dass genau hier die Pointe unserer Erzählung liegt: Gott gibt seine Welt nicht der Herrschaft der Gewalt preis. „Es wird regiert“ – auch in dieser gewaltdurchtränkten Welt, die an ihrem eigenen Blut zu ersaufen droht. „Es wird regiert“ – das ist Gottes gute Botschaft, sein Evangelium an eine kainitische Welt, in der die Gewalt einer siebenköpfigen Hydra gleicht, der unablässig neue Köpfe nachwachsen und die in ihrer „furchterregenden Fruchtbarkeit selbst den furchtlosesten Menschen nachhaltig zu entmutigen“30 vermag. Und doch gilt, wie der Brudermörder Kain erfahren darf: „Es wird regiert!“ Denn: Er regiert – Gott. Wider allen Augenschein sitzt Gott im Regimente, so dass Menschen mit dem Psalmisten ihr trotziges „Dennoch“ sprechen können: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand“ (Ps 73,24).
Ich schließe, wie sollte es im Barth-Jahr anders sein, mit einer kleinen Begebenheit aus Karl Barths Leben, genauer gesagt mit der letzten Begebenheit zu seinen Lebzeiten: „Am späten Abend vor der Nacht, in der er friedlich im Schlaf verstarb – es war die Nacht auf den 10. Dezember 1968 –, arbeitete er noch an seinem Schreibtisch. Da erhielt er einen Telephonanruf. Es meldete sich Eduard Thurneysen, mit dem ihn eine über sechzigjährige Freundschaft verband. Sie unterhielten sich über die Weltlage mit ihren beängstigenden Gefahren und Nöten. Barth schloß endlich die Unterhaltung ab und munterte den Freund im Blick auf die besprochene Sorge auf: ‚Nur ja die Ohren nicht hängenlassen! Denn – ‚es wird regiert!‘“31
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Marco Hofheinz