'Deutschland ist praktisch unerfahren'

Im Interview spricht der Soziologe Alexander-Kenneth Nagel über Herausforderungen der interreligiösen Zusammenarbeit

"Noch im Jahr der 'Flüchtlingskrise' ging es vor allem um pragmatische Probleme wie Unterbringung und Verpflegung. Die eigentliche Integrationsarbeit geht jetzt erst los" © privat

Seit Arbeitsmigrationswellen der 1960er Jahre ist nach Einschätzung Nagels in der Integrationsarbeit wenig passiert. Erst jetzt mit der sogenannten "Flüchtlingskrise" nehme Deutschland seine Rolle als Einwanderungsland allmählich an. Warum die Situation für die interreligiöse Kooperation auch Chancen bieten könnte erklärt Nagel im Gespräch mit reformiert-info.de:

reformiert-info.de: Politikern wird heute gerne immer wieder diese eine Frage gestellt: Gehört der Islam zu Deutschland? Nun frage ich Sie als Soziologe: Gehört der Islam dazu?

Alexander-Kenneth Nagel: Da stelle ich gerne die Gegenfrage: Was heißt „dazugehören“? Wenn man „dazugehören“ im Sinne der Hauptversammlung des Reformierten Bundes versteht – „Was uns verbindet“ - dann lässt sich die Frage empirisch zunächst einmal mit „ja“ beantworten: Zivilgesellschaftlich sind wir miteinander verbunden. Muslime leben seit vielen Jahren in Deutschland und haben sich zuletzt, im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise, auch tatkräftig eingebracht. Die Frage ist, inwiefern Islam auch an Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Hier ist die Antwort schwieriger. In der Bundesrepublik existieren erste Pilotversuche institutioneller Formierung wie zum Beispiel islamischer Religionsunterricht oder islamische Wohlfahrtsverbände. Insgesamt herrscht aber sogar in der Politik – wenn auch mit Ausnahmen - weitgehender Konsens: und der geht in Richtung Akkommodation. Also: Ja, empirisch-soziologisch gesehen gehört er dazu.

Trotzdem gibt es in der Bevölkerung Ängste vor Integrationsproblemen - spätestens seit der Flüchtlingswelle vor zwei Jahren. Gehören diese Flüchtlinge – größtenteils muslimischen Glaubens – denn auch bereits dazu?

Ihre Integration wird jedenfalls noch eine Weile dauern. Das hat verschiedene Gründe: Noch im Jahr der „Flüchtlingskrise“ ging es vor allem um pragmatische Probleme wie Unterbringung und Verpflegung, nicht aber um ihre Beheimatung und religiöse Anbindung. Die eigentliche Integrationsarbeit geht jetzt erst los. Die ersten Maßnahmen laufen. Wie erfolgreich sie sind, das lässt sich schwer sagen. Deutschland ist hier noch praktisch unerfahren und beginnt erst jetzt seine Rolle als Einwanderungsland zu akzeptieren. Eigentlich wären schon vor 50 Jahren mit der damaligen Arbeitsmigration planvolle Integrationsmaßnahmen möglich und nötig gewesen. Das ist nicht passiert. Was wir jetzt beobachten, sind Lernprozesse.

Auch damals vor 50 Jahren kamen mit Migranten aus Türkei, Tunesien und Marokko zahlreiche Muslime nach Deutschland. Was ist heute anders?

Die muslimischen Arbeitsmigranten fanden keinerlei religiöse Infrastruktur vor und mussten ihre Gemeinden praktisch ganz neu aufbauen. Die heutigen Zuwanderer finden dagegen eine differenzierte Landschaft an Vereinen und Verbänden vor. Ein weiterer Unterschied: Im Vergleich zu damals steht Religion stärker in der Öffentlichkeit. Damit taugt sie auch als Differenzmarker. Früher benutzten Bürger in Deutschland zur Ausgrenzung ethnische Stereotype. Heute dagegen sind es religiöse Stereotype.

Wie kommt das? Ist der Pluralismus der postmodernen Gesellschaft nicht eigentlich ein fruchtbarer Boden für interreligiösen Austausch?

Wir müssen zunächst einmal unterscheiden zwischen Pluralismus als Werthaltung und Pluralität als Beschreibung des religiösen Umfeldes. Religiöse Pluralität besteht in unserer Gesellschaft ohne Zweifel. Und natürlich gibt es pluralistische Werthaltungen. Daneben existieren aber auch fremdenfeindliche Tendenzen, geprägt von Skepsis und Ängsten.


Zur Person:

Alexander-Kenneth Nagel ist seit 2015 Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Religionsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die institutionelle Dynamik religiöser Migrantenorganisationen sowie Prozesse interreligiöser und interkultureller Öffnung. Bei der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 2017 ist er als Hauptreferent vertreten, zum Thema „Religiöse Pluralisierung der Gesellschaft im gegenwärtigen Deutschland“.
 

Wie erreicht man diese Menschen? Auch sie gehören zum Austausch schließlich dazu?

Ich baue auf die Zivilgesellschaft. Staatliche Akteure wie etwa Integrationsreferate versuchen über religiöse Zugehörigkeit schwer erreichbare Zielgruppen zu adressieren, was ja zunächst einmal ein gut gemeinter Ansatz ist. Genau dadurch aber werden mitunter religiöse Unterschiede betont und interreligiöser Austausch behindert. Vertrauen entsteht dann, wenn Menschen etwas Alltägliches gemeinsam tun. Da gehen Menschen jedes Wochenende zusammen zum Sport, spielen Fußball – unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Integrationspolitik dagegen kultiviert die Differenz ein Stück weit. Was wir brauchen ist eine vernetzte Vielfalt.

Was meinen Sie mit „vernetzter Vielfalt“?

Vielfalt an sich gibt es umsonst, vernetzte Verbundenheit aber ist eine Aufgabe. Dazu sind zivilgesellschaftliches wie auch politisches Engagement nötig. Hier stehen wir momentan vor großen Herausforderungen. Deutschland hat zwar im Bereich des interreligiöses Dialogs eine starke Tradition zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. Dabei stellt sich allerdings zunehmend die Frage, wie wir in Zukunft die jüngere Generation erreichen. Verlagert sich interreligiöse Verständigung komplett ins Internet? Durch Migration stehen auch die verfassten Kirchen vor neuen Aufgaben, sie suchen mit Migrationskirchen stärker zu kooperieren und treten damit in einen intensiven und zum Teil kontroversen interkulturellen Austausch zu Themen wie Kirche, Mission und Geschlechterrollen ein. Genau in dieser Situation liegt aber auch eine Chance.

Inwiefern eine Chance?

Die in Deutschland bereits bestehenden muslimischen Gemeinden befinden sich im Grunde in einer ähnlichen Situation wie christliche Kirchen: Auch sie stehen mit der sogenannten „Flüchtlingswelle“ vor der Herausforderung sich interkulturell zu öffnen. Werden arabischsprachige Flüchtlinge integriert? Gründen sie eigene Gemeinden? Oder bildet sich da womöglich sogar eine Form des universalistischen Islam heraus, der kulturelle Unterschiede zurückstellt? Gerade hier liegt ein Potenzial für ein interreligiöses Gespräch auf Augenhöhe: Angesichts der geteilten Herausforderung begegnen sich die Religionsgemeinschaften in einer Situation von Schwäche – aber einer möglicherweise produktiven Schwäche.


Das Interview führte Isabel Metzger
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