Gerissene Wirklichkeit

Eine Momentaufnahme aus dem Flüchtlingslager in Idomeni - von Martin Engels. Teil II

© Martin Engels

Als die Sonne hinter den Bergen verschwindet, bricht unsere Reisegruppe auf. In der Dämmerung fackeln die kleinen Feuer zwischen lauter Zelten und der Rauch durchdringt alles.

Wir stellen uns zum letzten Gruppenfoto auf und die Frage stellt sich: Wie soll man gucken? Lächeln, weil es die Gesichter derjenigen widerspiegelt, die uns hier im Elend begegnen, oder mit Tränen in den Augen, mit denen jeder kämpfen muss, der das Elend der Menschen das erste Mal sieht?

Die Entscheidung wird mir abgenommen. Von einem kleinen Mädchen. Sie findet es ganz praktisch, dass ich ganz groß gewachsen bin, nimmt meine Hand und deutet mir unmissverständlich an: Jetzt ist Springen dran. An meinen Händen festgehalten springt sie hoch und runter und kichert vergnügt und ich mit. Wir spielen und wieder bricht für einen Moment Normalität in das Unbeschreibare. Das Hugenottenkreuz, das ich meinem Revers gepinnt habe, hat als Anhänger oft eine Träne, statt einer Taube. Diese würde besser passen.

Aus Boxen, die an einen Kastenwagen angebracht sind, tönt Musik, die über die Zeltstadt wummert und seltsame Assoziationen weckt. Wer ihn dahingestellt hat, weiß keiner. Auch nicht, wer überhaupt in das Lager rein- und rausgeht, woher die Hilfe kommt und wie sie motiviert ist. Das Schild am Container der UNHCR Mitarbeiterinnen geht mir nicht aus dem Kopf, die Flüchtlinge warnen: „WARNING: You are at a high risk of being exploited“. (Sie sind in Gefahr ausgebeutet zu werden). Hunderte haben schon Schleppern vertraut, die sie über die Grenz brachten, ausraubten verprügelten…

Die Rückfahrt im engen kleinen Reisebus ist sehr still.

Nach 45 Minuten sind wir wieder in Thessaloniki. Einer lebendigen Universitätsstadt. An der Promenade sitzen Menschen in Cafés und genießen den lauen Abend. Straßenmusiker, lilablühende Bäume und beleuchtete Boote in der Bucht bringen uns zurück in die Welt, in der wir wohnen.

Im Lukasevangelium beginnt Jesus eine Geschichte mit folgendem Satz: „Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel.“ (Lukas 16,19-31.)

Die Geschichte bekomme ich nicht aus dem Kopf - aber auch nicht den Auftrag am Ende: „Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.“


Martin Engels
 

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