Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns!

von Jürgen Moltmann

© Reformierter Bund

Wir beten für die Vergebung der Schuld der Täter - aber wo bleiben die Opfer, an denen wir schuldig geworden sind?"

Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns!
Von Jürgen Moltmann (2017)

Jürgen Moltmann, bekannt geworden mit seiner "Theologie der Hoffnung" und bereits 1970 für reformierte Belange unterwegs - mit einem Vortrag auf der weltweiten Vollversammlung der Reformierten in Nairobi, legte im Reformationsjubiläumsjahr den Gebetsruf der Generalversammlung aus: "Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns!"

Wenige Tage vor der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung zwischen Lutheranern und Katholiken auch durch die Reformierten, erinnerte Moltmann an die "Lücke" in der protestantischen Gnadenlehre: "Die Rechtfertigungslehre ist opfervergessen". Wir beten für die Vergebung der Schuld der Täter - aber wo bleiben die Opfer, an denen wir schuldig geworden sind?"

Zur Einstimmung für eilige Leser*innen einige Zitate vorweg:

  • Politisches
    Gott behüte uns vor „America first!“ „Die Ersten werden die Letzten sein“, sagt Jesus.
  • Ökonomisches
    Die Freiheit der „freien Marktwirtschaft“ dient nicht dem Leben aller Menschen. Freiheit in einer Gesellschaft von Starken und Schwachen dient den Starken, nicht den Schwachen. Ihnen dienen nur gerechte Gesetze und Staatengemeinschaften, die sie durchsetzen
  • Freude und Gnade
    Freude ist ursprünglicher als Glaube, denn was erwartet der schenkende Gott anderes als dass der beschenkte Mensch sich freut? Im Griechischen liegen charis, die Gnade, und chara, die Freude, sprachlich eng beieinander.
  • Ohne Religion?
    Man kann auch ohne Religion leben, aber es ist ein reduziertes Leben. Die moderne Welt orientiert seine Bewohner an humanistischen, meistens aber an naturalistischen oder kapitalistischen Lebensbegriffen. Ein Leben, das den lebendigen Gott aufgegeben hat, ist ein Leben sozusagen ohne Oberlicht, ohne Transzendenz: Ein Leben, das die Transzendenz verloren hat, wird zu einem Leben ohne Selbsttranszendenz. Das Selbstverhältnis verkümmert und das Gewissen lässt sich beugen.
  • Die Lücke in der Gnadenlehe
    - Die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen hat der Übereinkunft des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre zugestimmt. Doch im Zentrum reformatorischer Theologie fehlt etwas. Die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika hat es ans Licht gebracht: Die Rechtfertigung der Opfer der Sünden.
    - Wir beten „vergib uns unsere Schuld“, und wo bleiben die Opfer, an denen wir schuldig geworden sind? Das Bußsakrament ist einseitig Täter orientiert, die Rechtfertigungslehre ist opfervergessen. Hier klafft eine Lücke in der christlichen Gnadenlehre.
  • Keine Demokratie ohne Gleichheit
    Demokratie aber gründet nicht nur in der Freiheit ihrer Bürger und Bürgerinnen, sondern auch in deren Gleichheit. Die demokratische Gleichheitsidee ist mit einem Wirtschaftssystem unvereinbar, das immer größere Ungleichheiten unter den Menschen produziert. Ohne Gerechtigkeit in den Lebenschancen und ohne Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse stirbt das Gemeinwohl und zerfällt der Zusammenhalt einer Gesellschaft.
  • „Die Fülle des Lebens“ als Zukunftsvision
    Der Schrei nach Gerechtigkeit kommt immer zu spät, wenn schon Gewalt und Unrecht das Leben der Schwachen schwer machen. Aber er muss kommen, wenn wir die Zukunftsvision ernst nehmen. Doch aus der Negation des Negativen ergibt sich noch nichts Positives. Aus der Überwindung von Unrecht ergibt sich noch kein Recht und aus der Gewaltlosigkeit ergibt sich noch kein Friedensdienst.
  • Die Realisten kommen immer zu spät
    Wer dem „lebendigen Gott“ vertraut, sieht die Welt nicht nur nach ihrer Wirklichkeit. Das tun die Realisten und sie kommen immer zu spät. Wer auf die Zukunft vertraut, sieht die Welt nach ihren Möglichkeiten. „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“, weil „alle Dinge Gott möglich sind“. Alle Wirklichkeit ist umgeben von einem Meer von Möglichkeiten. Alle Wirklichkeiten sind verwirklichte Möglichkeiten oder nicht verwirklichte alternative Möglichkeiten.

Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns!

Von Jürgen Moltmann

,,Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns!" – Dieses Thema der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen ist ein Gebet, das klingt wie ein heiserer Schrei aus der Tiefe: Wir sind alt, müde und kalt geworden – erneuere uns, gib uns ein neues Herz!
Wir sind verwirrt und ungewiss geworden – verwandle uns. Erwecke einen neuen Geist in uns!

Die Antwort des lebendigen Gottes hier aus meinem Lieblingsvers aus Psalm 103,3:
„Der deinen Mund fröhlich macht
und du wieder jung wirst wie ein Adler“.

lch habe zuerst 1970 vor 47 Jahren auf der Vollversammlung der World Alliance of Reformed Churches (Presbyterian and Congregational) in Nairobi gesprochen. Ich habe das Antirassismus-Programm des ÖKR begleitet und an der Menschenrechtserklärung des Reformierten Weltbundes 1978 „Gottes Recht und die Menschenrechte“ mitgearbeitet. lch habe den tragischen Akt miterlebt, als in Ottawa 1982 die schwarzen Südafrikaner die Abendmahlsgemeinschaft mit den weißen Südafrikanern verweigerten und diese dann über Nacht weggegangen sind. Im selben Jahr 1982 erschien das Belhar-Bekenntnis in Südafrika und bereitete das Verschwinden der Apartheitsideologie aus den Kirchen Sudafrikas vor. lch habe die Selbstverpflichtung der Reformierten Kirchen in Accra 2011 begrüßt.

Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen ist zwar nur alle 7 Jahre laut geworden, aber dann war sie immer nahe bei dem „lebendigen Gott“ und nahe an der Not der Menschen. Was ist heute auf der Tagesordnung für das Christsein in einer alt, müde und kalt gewordenen Welt und einer verwirrten, ungewissen Menschheit?

lch habe 3 Punkte:

  • I. Der lebendige Gott und die Götter des Todes
  • II. Die Freude des lebendigen Gottes und das Elend des Atheismus
  • III. Die „Sonne der Gerechtigkeit“. Das gerechte Gesetz und die Fülle des Lebens

I. Der lebendige Gott und die Götter des Todes

 

I.1. Der lebendige Gott

Der lebendige Gott ist ein Gott, der lebendig macht. Die toten Götter sind die Götter des Todes.
Inwiefern ist der wahre Gott ein „lebendiger Gott“?

a. Der lebendige Gott ist auch der ewige Gott. Das ewige Leben ist seine Substanz. Das „ewige Leben“ ist nicht nur das unendliche Leben, sondern das Leben von solcher lntensität, dass es überquillt und anderes Leben hervorruft. Alles endliche Leben stammt aus dem unendlichen Leben des lebendigen Gottes. Darum sehnt sich alles endliche Leben nach der ewigen Quelle des Lebens.

b. „Meine Seele dürstet nach Gott,
nach dem lebendigen Gott“ (Psalm 42,3).
„Mein Leib und Seele freuen sich
in dem lebendigen Gott“ (Psalm 84,3).

Die geistige Sehnsucht genügt nicht, darum „dürstet“ die Seele nach der Quelle des Lebens wie der „Hirsch schreit nach frischem Wasser“. Leib und Seele werden nicht getrennt: auch der Leib schreit nach Leben. Leben hungert immer nach Leben. Leben wird durch anderes Leben lebendig gemacht. Der „lebendige Gott“ macht uns zu Lebensdurstigen und Lebenshungrigen und lässt uns nach mehr göttlichem Leben in unserem menschlichen Leben verlangen: „Da muss doch noch Leben ins Leben hinein“, sang Wolf Biermann einst.

c. Der „lebendige Gott“ wirkt durch seine eigene Lebendigkeit attraktiv. Seine Lebenskraft geht aber auch aus sich heraus und sucht die verdurstenden Seelen und die lebenshungrigen Leiber der Menschen. Im ewigen Leben Gottes ist Bewegung. Der lebendige Gott geht in Christus aus sich heraus in die Welt des Todes und macht lebendig. Er sucht, was verloren ist. Er entzündet ein Licht in der „dunklen Nacht“ der Seele. Der lebendige Gott ist nicht „unbeweglich“ wie der Gott des Aristoteles. Er kann sich selbst bewegen und kann durch das Schreien seiner elenden Geschöpfe „bewegt“ werden (2. Mos 3,7).

d. Wo der lebendige Gott Leben schafft oder gebiert, da entsteht die Fülle des Lebens und die Erfüllung des Lebens. „Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott“. Da wird unser Leben ewig bejaht, da entstehen Lebenslust und Lebensfreude mit allen leiblichen Sinnen. Da entsteht eine heiße Liebe zu diesem Leben. Wenn „Leib und Seele sich freuen“, sind Spiritualität und Vitalität eins. Es entsteht eine neue Spiritualität der Sinne und der Erde: „Der (Lebens)Geist“ ist ausgegossen in „alles Fleisch“. Die Freude von Leib und Seele in dem lebendigen Gott ist zugleich die Freude des lebendigen Gottes an Leib und Seele seiner geliebten Geschöpfe.

e. Ich sehe, wie überall in der weltweiten Christenheit eine umfassende Theologie des Lebens entsteht: Papst Franziskus hat der katholischen Theologie den Weg gewiesen mit den Enzykliken „Gaudium Evangelii“ und „Laudato si“. In der reformierten Theologie ist in Korea eine OHN-Theologie entstanden und in Südafrika entsteht eine „Oopmaak“ (Gateway)-Theologie, eine Öffnungs-Theologie.

I.2. Die toten Götter – Götter des Todes

a. Die deutsche Rassenideologie begann mit dem Nazi-Terror auf unseren Straßen und endete in „Auschwitz“ mit 6 Millionen ermordeten Juden. Für die nordische Rasse, die zur Weltherrschaft bestimmt war, galten die ostdeutschen Völker als „Untermenschen“. Beim Angriff auf die Sowjetunion 1941 sah der „Plan Ost“ vor, 30 Millionen verhungern zu lassen, um Lebensraum für die eigene Rasse zu gewinnen. Die deutsche Wehrmacht ließ mehr als 2 Millionen russische Kriegsgefangene in Lagern verdursten und verhungern. Die deutsche Rasse-Gottheit hat nicht nur entsetzliches Leid über die Völker gebracht, sondern das deutsche Volk mit unerträglicher Schuld beladen.

Seit langem verläuft die Rassengrenze zwischen weiß und schwarz: Weiß ist gut, schwarz ist schlecht. In den USA und in Afrika verschwindet der weiße Rassismus nicht. Er ist tief in unsere Seelen eingebrannt: Die Engel sind alle weiß, alle Teufel sind schwarz. Meine Tochter hat in Venedig einen schwarzen Engel entdeckt. Der hängt jetzt an unserem Christbaum.

b. Die Götter der Vaterländer haben den ersten Weltkrieg auf dem Gewissen: die „europäische Urkatastrophe“. „Heilig Vaterland...“ sangen wir Jungen mit unseren Vätern: „Ein Mann muss sein Vaterland verteidigen“, und der Tod „fürs Vaterland“ galt als Opfertod. Die europäischen Großmächte vernichteten sich gegenseitig mit allen Mitteln 1914 – 1918 und opferten ihre Jugend, obwohl es durchaus Möglichkeiten zum Frieden gab. In Frankreich und Belgien stehen die Kreuze auf den Soldatenfriedhöfen wie auf dem Kasernenhof in Reih und Glied aufgereiht.

Eine Tragödie! Als meine Generation für den Führer des deutschen Vaterlands sterben sollte, rannten wir besinnungslos in den Tod. Erst nachher wurde uns klar: Es gibt kein Vaterland in der Diktatur. Unser Patriotismus gilt nicht mehr dem eigenen Volk, sondern der demokratischen Verfassung mit den Menschenrechten als den Grundrechten jedes Menschen. Der Vaterlandsgott ist ein toter Gott und ein Gott, dem auf den Schlachtfeldern des 1. und des 2. Weltkriegs umsonst geopfert wurde. Gott behüte uns vor „America first!“ „Die Ersten werden die Letzten sein“, sagt Jesus.

c. Der Gott des Kapitalismus ist ein Gott, der Reichtum verspricht und Armut produziert. Der Gott des Kapitalismus spaltet unsere Gesellschaften und zehrt unsere Gemeinsamkeiten auf. Es ist genug für alle da, aber 60 Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Die Freiheit der „freien Marktwirtschaft“ dient nicht dem Leben aller Menschen. Freiheit in einer Gesellschaft von Starken und Schwachen dient den Starken, nicht den Schwachen. Ihnen dienen nur gerechte Gesetze und Staatengemeinschaften, die sie durchsetzen. Den Gott des Kapitalismus hat schon Luther – lange vor Marx – „Mammon“ genannt und als „allergemeinsten Abgott auf Erden“ bezeichnet. Lasst uns diesem Aberglauben widerstehen!

d. Heute erleben wir den Terror von unten. Das 21. Jahrhundert hat den Selbstmordattentäter, genauer: den Selbstmordmassenmörder, erfunden. Im „Terroristen“ begegnet uns eine neue „Religion des Todes“. „Eure jungen Leute lieben das Leben“, sagte der Mullah Omar von den Taliban zu westlichen Journalisten, „unsere jungen Leute lieben den Tod“. Nach dem Massenmord in

e. Madrid am 11. März 2004 fand man Bekennerschreiben gleichen lnhalts: „lhr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Ein Deutscher, der sich den Taliban in Afghanistan anschloss, erklärte: „Wir wollen nicht gewinnen, wir wollen töten und getötet werden“. Warum? lch denke, das Töten verleiht Macht, die absolute, göttliche Macht über Leben und Tod. Darum dringen die Terroristen auf größtmögliche Öffentlichkeit. Schrecken zu verbreiten, ist ein ungeheurer Zuwachs an Lust. Wir hatten diese Liebe zum Tod auch im europäischen Faschismus: „Viva la muerte“, rief ein alter faschistischer General im spanischen Bürgerkrieg aus: „Es lebe der Tod“.

Terrorismus entsteht in den Köpfen und Herzen von Menschen und muss in den Köpfen und Herzen von Menschen überwunden werden. Das ist die Sprache des Friedens, die Leben schafft, nicht der Gewalt. „Terroristen verstehen nur die Sprache der Gewalt“, wird uns von allen Seiten gesagt. Aber diese „Sprache der Gewalt“ hat die Zahl der Terroristen von einigen Hunderten zu bin Ladens Zeiten zu Zehntausenden in ISIS und BOKO HARAM heute hochschnellen lassen. Es ist gut, wenn christlich-muslimische Friedensinitiativen junge Männer davon abhalten, sich dem Töten und Getötet-werden in Syrien hinzugeben, und sie für das Leben und die Liebe zurückgewinnen. Es ist gut, wenn Muslime und Christen sich um die missbrauchten Kindersoldaten kümmern, um sie vom Trauma des Tötens zu heilen.

Der lebendige Gott verlangt keine Opfer, er opfert sich vielmehr aus Liebe, um bei seinen gottlosen Menschen zu sein. Der Glaube schafft Leben, der Aberglaube ist tödlich.

II. Die Freude Gottes und das Elend des Atheismus

 

II.1. Die Freude Gottes

lch denke: Das Christentum ist eine Religion der Freude Gottes. Jedenfalls macht der christliche Auferstehungsglaube das Leben zu einem Fest, zu „einem Fest ohne Ende“, wie der Kirchenvater Athanasius an einem Ostertag in Alexandria sagte.
Wir wollen die positiven Dimensionen der „großen Freude“ in den weiten Räumen Gottes ermessen, der uns näher ist, als wir denken, und unser Leben weitermacht, als wir ahnen. Freude ist Kraft zum Leben, Schwung zur Liebe und Lust am schöpferischen Anfang. Wir sind zur Freude geschaffen.

Wir blicken zunächst in die Psalmen des Alten Testamentes: Die Zuwendung Gottes und seine Gegenwart rufen nicht Angst, sondern Freude hervor:

„Du tust mir kund den Weg des Lebens.
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu deiner Rechten ewiglich“ (Psalm 16,11).

Diese lebendig machende Gegenwart Gottes wird oft mit dem „leuchtenden Angesicht“ Gottes beschrieben. Wann leuchtet ein Angesicht? Wenn einer etwas schenken will, oder eine Mutter auf ihr neugeborenes Kind blickt, dann leuchtet ihr Gesicht. Vom leuchtenden Angesicht Gottes geht der Segen aus, der das menschliche Leben zu einem erfüllten Leben macht und zu einem festlichen Leben erhöht.

Freude ist erstaunlicherweise auch mit dem Gericht Gottes verbunden: Wenn Gott kommt, ist Erde zu richten, wird Freude die Natur zum Blühen bringen.

„Das Meer brause und was darinnen ist,
das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist.
Es sollen jauchzen die Bäume im Wald vor dem Herrn, denn er kommt zu richten die Erde“. (Psalm 96,11–13)

Wenn Gott kommt zu richten die Erde, ist es wie ein Sonnenaufgang. Er wird das Gebeugte aufrichten und das Welke grünen, das Kranke heilen, das Abgestorbene lebendig und das Müde jung machen.

Wenn Gott zu Menschen kommt, geschieht eine zweifache Wende in Gott und in den Menschen. Gott wendet sich von seinem „verborgenen Angesicht“ (hester panim) zu seinem „leuchtenden Angesicht“. Diese Wende in Gott von seiner Abneigung gegen das Unrecht der Menschen zu Zuneigung seiner Gnade mit ihnen ruft in den betroffenen Menschen eine entsprechende Wende hervor:

„Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen. Du hast mir meinen Sack der Trauer ausgezogen Und mich mit Freude gegürtet“. (Psalm 30,12)

Und wenn die Erlösten des Herrn wiederkommen, wird „ewige Freude über ihrem Haupte sein“:
„Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen werden entfliehen“ (Jesaja 35,10).

Gott selbst wird mit den Erlösten mit „Jauchzen fröhlich sein“.
„Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein. Er wird dir vergeben in seiner Liebe Und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein“ (Zephanja 3,17).

Ist das nicht ein wunderbares Bild: Der sich über seine erlösten Geschöpfe freuende, der jauchzende und fröhliche Gott?
Wir sehen aus dieser Zusammenstellung aus den Psalmen und Propheten des Alten Testaments einen großen, wunderbaren Einklang der Freude: Gottes Freude – die Freude der Erde – die Freude der Erlösten.

„Die Freude Gottes“ hatte Helmut Gollwitzer 1940 seine Auslegung von Lukas 15 überschrieben. Freude ist ursprünglicher als Glaube, denn was erwartet der schenkende Gott anderes als dass der beschenkte Mensch sich freut? Im Griechischen liegen charis, die Gnade, und chara, die Freude, sprachlich eng beieinander. Paulus kann Glaube und Freude auch austauschen, wenn er schreibt: „Nicht dass wir Herren waren eures Glaubens, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude“ (2 Kor 1,24).

Lukas interpretiert Jesu erstaunliches und von den Pharisäern öffentlich gerügtes Verhalten gegenüber „Sündern und Zöllnern“:
„Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“ mit drei Gleichnissen: vom verlorenen und gefundenen Schaf, vom verlorenen und gefundenen Groschen und vom verlorenen und gefundenen Sohn (Lukas 15,1-32). „So wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15,7 und 10).

Diese Theologie stimmt nicht ganz: Die „Freude im Himmel“ ist ganz richtig, aber Jesus hat nicht nur bußfertige Sünder angenommen und mit ihnen gegessen. Außerdem konnte das verlorene Schaf nicht viel zur Auffindung beitragen und der verlorene Groschen erst recht nicht.  Die „Freude im Himmel“ liegt zuerst bei dem suchenden und findenden Gott:

„Und wenn er es gefunden hat,
so legt er es auf die Schultern voller Freude“ (Lk 15,5).

Allein der „verlorene Sohn“ tut Buße, d.h. er kehrt um aus seinem Elend in der Fremde zu seines Vaters Haus und will zu seinem Vater sagen: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir“ (Lk 15,20).

Aber bevor es zu diesem Sündenbekenntnis kommt, kommt ihm der Vater zuvor:

„Als er noch weit entfernt war,
sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn.
Er lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20).

Erst daraufhin bekennt der gefundene Sohn seine Verlorenheit, doch den Vater kümmert das nicht; er freut sich:

„Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.
Er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ (Lk 15,24).

Der die Verlorenen suchende und findende Gott freut sich, und die Gefundenen freuen sich mit Gott. Das Ereignis des Findens eines Verlorenen ist wie das Lebendigmachen eines Toten. Sich daran zu freuen ist das Einstimmen in die Freude Gottes. Es ist das Begrüßen des Lebens, wo das Verderben herrschte.

II.2. Das Elend des Atheismus

Verglichen mit der Lebensfülle in dem lebendigen Gott bietet der moderne Atheismus ein reduziertes Leben. So sagte der Philosoph Jürgen Habermas mit Max Weber, er sei „religiös unmusikalisch“. Man kann ohne Musik leben, aber es ist armes Leben. Man kann auch ohne Religion leben, aber es ist ein reduziertes Leben. Die moderne Welt orientiert seine Bewohner an humanistischen, meistens aber an naturalistischen oder kapitalistischen Lebensbegriffen. Ein Leben, das den lebendigen Gott aufgegeben hat, ist ein Leben sozusagen ohne Oberlicht, ohne Transzendenz: Ein Leben, das die Transzendenz verloren hat, wird zu einem Leben ohne Selbsttranszendenz. Das Selbstverhältnis verkümmert und das Gewissen lässt sich beugen. Dach gibt es sehr verschiedene Begründungen des Atheismus.

lch habe den humanistischen Atheismus in der eigenen Familie erlebt. Mein Großvater Johannes Moltmann war Großmeister einer Hamburger Freimaurerloge, musste aber wegen seiner Religionskritik die Loge verlassen. Er folgte den Humanitätsidealen Lessings und der Religionskritik Feuerbachs. Er wollte den Menschen groß machen und sehnte sich doch nach einem „zukünftigen Gott“, wie seine letzte Schrift heißt.

lch habe den Atheismus der Nazi-Diktatur am eigenen Leibe erlebt. Das war der atheistische Rassenwahn und der Aberglaube: „Führer befiel, wir folgen dir“: ein politischer Götzendienst und der Götze hieß Hitler.
lch habe in der ostdeutschen DDR auch den stalinistischen Atheismus kennen gelernt: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“.

Im 19. Jahrhundert gab es den theologischen Protestatheismus. Man protestierte gegen Gott wegen der Leiden der Unschuldigen in der Welt. Man protestierte gegen Gott und Staat, weil Thron und Altar ein ungerechtes Bündnis gegen das Volk eingegangen waren. „Weder Gott noch Staat“ proklamierte der Anarchist Michael Bakunin im Russland der Zaren. „lch mag diese Atheisten nicht“, sagte der Dichter Heinrich Böll, „sie reden immer von Gott“.

Heute gibt es den Protestatheismus in Europa nur noch selten. Der Banalitätsatheismus ist weit verbreitet: Man hat das Gottvertrauen verloren und spürt den Verlust kaum noch. Man ist ein economic animal geworden und hat sich das Leben zur „Ware“ machen lassen. Der „postsäkulare Mensch“ ist jenseits von Theismus und Atheismus, von Glaube und Aberglaube.

Wenn der Atheismus siegt und der Theismus verschwindet, was wird dann aus dem Atheismus? Er verschwindet auch, denn mit dem Theismus schafft sich auch der Atheismus selbst ab. Es bietet nichts Positives!

III. Sonne der Gerechtigkeit

 

III.1. Die Rechtfertigung der Opfer

Die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen hat der Übereinkunft des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre zugestimmt. Doch im Zentrum reformatorischer Theologie fehlt etwas. Die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika hat es ans Licht gebracht: Die Rechtfertigung der Opfer der Sünden.

Die reformatorische Rechtfertigungslehre ist aus dem mittelalterlichen Bußsakrament hervorgegangen. Die Macht des Bösen wird „Sünde“ – Gottlosigkeit genannt. Wir sprechen von der „Vergebung der Sünden allein durch die Gnade Gottes im Glauben“. Das ist auch richtig und wichtig, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn der „Sünder“, dem seine Schuld vergeben wird, ist der Täter der Sünde, und wo bleiben die Opfer seiner Sünden? Wir beten „vergib uns unsere Schuld“, und wo bleiben die Opfer, an denen wir schuldig geworden sind? Das Bußsakrament ist einseitig Täter orientiert, die Rechtfertigungslehre ist opfervergessen. Hier klafft eine Lücke in der christlichen Gnadenlehre.

Das ist schon in der Sündenlehre des Apostel Paulus zu erkennen. Im 7. Kapitel des Römerbriefs schreibt er ehrlich und selbstkritisch:
„Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.“ (Röm 7,10)

Warum sieht man nicht auf die, denen er Böses angetan und Gutes versäumt hat? Warum ist er nur mit sich selbst beschäftigt?

In den Psalmen des Alten Testaments finden wir Gottes Gerechtigkeit in der Vergebung der Sünden: „Rette mich durch deine Gerechtigkeit“ – Psalm 51 (Luthers Entdeckung der rechtfertigenden Gerechtigkeit). Vielmehr aber steht Gottes Gerechtigkeit auf der Seite der Opfer der Sünden:

„Er schafft Recht, denen die Gewalt leiden“ (Psalm103,6).
„Er schafft Recht den Armen, den Witwen und Waisen“.

Gottes Gerechtigkeit ist keine nur ‚gut‘ und ‚böse‘ feststellende Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit ist keine „Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem‘ vergeltende Gerechtigkeit. Sie ist eine schöpferische, ins Recht setzende Gerechtigkeit.

Für die Opfer der Sünde ist sie eine Recht-schaffende Gerechtigkeit. Für die Täter der Sünde ist sie eine zurecht-bringende Gerechtigkeit. Nicht die Reue der Täter ist das Erste, sondern die Schmerzen der Opfer. Wie kann die Rechtfertigung der Opfer aussehen? Ein Vorschlag:

1. Der erste Schritt gleicht dem Bußsakrament: confessio oris: der Schritt ins Licht der Wahrheit. Die Opfer von Unrecht und Gewalt müssen nicht nur aus ihrem Leide herauskommen, sondern noch mehr aus ihrer seelischen Erniedrigung. Diese verschließt ihren Mund. Bei sexueller Gewalt kommt Scham über die Schändung, die sie erlitten haben, hinzu. Sie brauchen einen Freiraum der Anerkennung ihres Leidens, damit sie ihre Schmerzen herausschreien können. Sie brauchen Ohren, denen sie ihre Geschichte erzählen können, damit sie ihre Selbstachtung wieder gewinnen. Das Schuldbekenntnis der Täter kann ihnen dazu helfen. Sie müssen aber nicht darauf warten, denn sie müssen auch von der Fixierung auf die Täter frei werden, sie müssen nicht ewig „Opfer“ sein. In dem Gott „der Recht schafft denen, die Gewalt leiden“, finden sie ihre Personwürde wieder. Sie brauchen auch einen schützenden Raum einer Gemeinschaft, in dem sie sich anerkannt fühlen.

2. Der zweite Schritt ist die Aufrichtung der Opfer aus der Erniedrigung und das zu Gott erhobene Haupt. Auch die Opfer brauchen Umkehr. Es ist die Umkehr vom Selbstmitleid und Selbsthass in die Weite einer liebenden Lebensbejahung. Das ist die Voraussetzung für den dritten Schritt.

3. Nicht Vergeltung, sondern Vergebung macht frei. Jeder, der Unrecht erleidet oder gekränkt wird, bekommt Racheträume. Das ist ganz natürlich. Aber wenn Böses mit Bösem beantwortet wird, ist keine Gerechtigkeit gewonnen, sondern nur das Böse verdoppelt worden. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden“, sagt Paulus mit Recht (Röm 12,24). Auch nicht vom Bösen, mit dem Böses vergolten wird. Wer den Mörder ermordet, ist auch ein Mörder.
„Überwinde das Böse mit Gutem“, fährt Paulus fort zu sagen. Wenn wir unseren Schuldigern vergeben, tun wir nicht nur ihnen, sondern auch uns selbst etwas Gutes: Wir überwinden das Böse, das in uns eingedrungen ist.

III.2. Das gerechte Gesetz

Es ist bekannt, dass die reformierte Christenheit eine Leidenschaft für „Recht und Gerechtigkeit“ hat. Schließlich war Calvin Jurist und der tertius usus legis galt unseren Vätern als das Ziel des Gesetzes und der eigentliche Gebrauch des Gesetzes: „Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es“. Befreit zum gerechten Leben! Der Heidelberger Katechismus behandelt das Gesetz Gottes, die 10 Gebote, im 3. Teil „Von der Dankbarkeit“.

Alle Völker leiden heute unter sozialer Verelendung und schreien nach sozialer Gerechtigkeit. Seit mehr als 40 Jahren hören wir die Klage der Regierungen, dass trotz aller Bemühungen die „Schere von arm und reich“ immer weiter auseinander geht. Man braucht nur die Armut- und Reichtums-Berichte in Deutschland zu lesen. Nicht nur in den armen Ländern der Dritten Welt beherrscht eine kleine reiche Oberschicht die Massen der Armen, auch in den Demokratien der Ersten Welt nehmen die Abstände zwischen millionenschweren Managergehältern und Hartz 4-Empfängern groteske Züge an.

Demokratie aber gründet nicht nur in der Freiheit ihrer Bürger und Bürgerinnen, sondern auch in deren Gleichheit. Die demokratische Gleichheitsidee ist mit einem Wirtschaftssystem unvereinbar, das immer größere Ungleichheiten unter den Menschen produziert. Ohne Gerechtigkeit in den Lebenschancen und ohne Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse stirbt das Gemeinwohl und zerfällt der Zusammenhalt einer Gesellschaft. Seit der „Deregulierung der Wirtschaft“ (Ronald Reagan, jetzt Trump), beherrscht nicht die Politik die Wirtschaft, sondern die Wirtschaft die Politik.

In einer Gesellschaft von Starken und Schwachen kann Freiheit für die Schwachen tödlich sein. Allein das gerechte Gesetz schützt Leben. Die Alternative zur Armut ist nicht Reichtum. Die Alternative zu Armut und Reichtum ist Gemeinschaft. Man kann in Armut leben, wenn sie gemeinsam getragen wird. Erst die Ungerechtigkeit macht die Armut zur Qual. Erst die Aufkündigung der Gemeinschaft durch reiche Steuerflüchtlinge erregt den Zorn des Volkes. Sind alle in gleichen Situationen, hilft man sich gegenseitig.

Hört aber die Gleichheit auf, weil die einen gewinnen und die anderen verlieren, endet auch die gegenseitige Hilfe. Mit „Gemeinschaft“ meine ich hier die überschaubaren Solidargemeinschaften wie auch den Sozialstaat. Der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft ist soziale Ausgewogenheit und sozialer Frieden. Sozialer Frieden verlangt gerechte Sozialgesetze. Der Staat muss wieder das Recht zur Regulierung der Wirtschaft und der Finanzen in Anspruch nehmen, denn nur er kann die Sozialgesetze durchsetzen. Bei der heutigen Globalisierung der Wirtschaft und der Finanzen müssen es Staatengemeinschaften sein von der EU bis hin zur UNO, die Regeln für ein gerechtes Wirtschaften und für fairen Handel aufstellen und durchsetzen. lch bin nicht für eine „freie Marktwirtschaft“, sondern für eine gerechte Marktwirtschaft.

„Wettbewerb“ und „Konkurrenz“ sind starke Antriebskräfte, gewiss, aber nur im Rahmen eines gemeinsamen Lebens, d.h. nur in den Grenzen sozialer Gerechtigkeit. Es gibt Lebensbereiche, die nicht der ausufernden Marktlogik unterworfen werden dürfen, weil sie anderen Gesetzen folgen: Patienten sind nicht „Kunden“ unserer Krankenhäuser, und Studenten sind keine „Konsumenten“ unserer Wissenschaften an den Universitäten.

„Sicherheit“ darf nicht zur „Ware“ werden, die sich nur Reiche mit Sicherheitsfirmen leisten können. Der Staat und die Polizei sind für die Sicherheit der Bürger zuständig, sonst entstehen Spaltungen der Gesellschaft in „gated communities“ und slums. In den gated communities ist die Polizei überflüssig und in die slums geht sie nachts nicht hinein. So wird der Staat zu einem „failed state“.

Sicherheit ist keine Ware, sondern ein Grundrecht der Bürger. Sie darf nicht privatisiert werden. Der moderne Staat hat das Gewaltmonopol und darf es nicht aus der Hand geben.

III.3. Menschenrechte und die Rechte der Natur

lch habe die Diskussion über eine ökologische Wende der Theologie seit 40 Jahren aufmerksam verfolgt und an ihr teilgenommen. Als ich jetzt die theologische Erklärung des Reformierten Weltbundes 1976 „Gottes Recht und die Menschenrechte“ und 1989 die „Rights of Future Generations and the Rights of Nature“ wieder las, war ich überrascht, wie aktuell diese Erklärungen heute sind. Sie sind auch einzigartig, sofern sie die rechtliche Seite der Menschenrechte sowie der Rechte zukünftiger Generationen entwickeln. Sie stellen die Lösung der ökologischen Krise auf die Basis der Rechte der Natur. Das habe ich in keinem der theologischen Bucher über die ökologische Krise gefunden. Das trägt die Handschrift reformierter Theologie:

„Community with all creation on this earth nonetheless remains a pipe-dream unless it is realized within the community of law for all life. Such an earthly legal community must open the human legal community to rights of other form of life and to rights of nature. We must open human laws within universal laws of the life of the earth, if we want to survive“ (Studies of the WARC 19, 1990, 24).

Wir haben die Menschenrechte aus dem Recht Gottes auf den Menschen entwickelt, wie es eine biblische Gottebenbildlichkeit nahe legt. Die Menschen sind zum Bilde Gottes geschaffen, sie werden Bundespartner Gottes und in der Christusgemeinschaft Sohn und Tochter Gottes und Erben des Reiches Gottes. Das gilt für den Einzelmenschen wie für die menschliche Gemeinschaft. Wir haben darum die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 wie die lnternationalen Pakte von 1966 aufgenommen, um die Freiheitsrechte der Person und die sozialen Rechte der Gemeinschaft in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Besonderen Wert haben wir damals auf reformiertes Widerstandsrecht gelegt (S. 66). Als Aufgaben für die Weiterarbeit haben wir „das Recht zukünftiger Generationen“ genannt, denn Menschen leben in Generationen, und „das Recht der Natur“, denn Menschen leben in der Lebensgemeinschaft der Erde.

Eine kleine Arbeitsgruppe von Juristen und Theologen unter Leitung von Lukas Vischer traf sich regelmäßig in Genf und legte seine Ergebnisse auf der Vollversammlung der WARC 1989 in Seoul, Korea, vor (Studies from the WARC No 19). Die „Rechte der Natur“, der Erde, der Pflanzen und Bäume, der Tiere und der Ökosysteme wurden aus dem Noahbund Gen 9 theologisch entwickelt. Die „resolution“ (12 -13) wurden der UNO zugesandt, aber auch an einzelne Nationen. Lukas Vischer und Prof. Peter Saladin, Genf, haben damit die Gesetzgebung in der Schweiz beeinflussen können.

Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen sollte diese Resolutionen von Seoul wieder aufnehmen und daran weiterarbeiten. Die bekannte Earth Charta von 1992 und 2000 kann damit komplementiert werden.

Das „Bekenntnis von Accra“ 2011 ist nicht genug zu rühmen. Endlich eine klare Sprache mit JA und NEIN anstatt der vielen ziellosen „ Gespräche“. Dem „Gott des Kapitalismus“ wird mit dem Bekenntnis zu dem lebendigen Gott begegnet und die Forderung nach Gerechtigkeit für die Armen und für die Erde wird global in die sog. „Globalisierung“ von Wirtschaft und Finanzen erhoben.

Die Arbeit an den gerechten Gesetzen, die im Reformierten Weltbund von 1976 bis 1989 geleistet wurde, muss mit dem Accra-Bekenntnis zusammen gebracht werden. Accra 2011 muss durch Seoul 1989 ergänzt werden: Die Rechte „zukünftiger Generationen“ und die „Rechte der Natur“ müssen weiterentwickelt werden.

Und dann ist da noch etwas: Jedes reformierte Bekenntnis erwähnt das Widerstandsrecht des Volkes. Das findet sich in der confessio scotica Art. 14 ebenso wie in den „Vindiciae contra Tyrannos“ von Philipp du Plessis Mornay von 1572 wie auch im Bekenntnis von Belhar 1982 und im Accra Bekenntnis. Dieses Widerstandsrecht setzt ein ganz bestimmtes Staatsverständnis voraus: statt eine Souveränitätslehre eine convenant-Theologie, statt Obrigkeit-Demokratie. Wer soll denn die Menschenrechte und die Rechte der Natur durchsetzen, wenn nicht der gerechte Staat? Wir haben die Staatslehre lange vernachlässigt.

III.4. Die Fülle des Lebens

Wenn die „Sonne der Gerechtigkeit“ aufgeht, geht zugleich die Sonne des Lebens auf. Es ist wie im Frühling: Die Sonne erweckt alles zum Leben, die Blumen wachsen aus dem Boden, die Bäume werden grün und die Tiere erwachen. So ist es auch wenn der „Geist des Lebens“ auf alles Lebendige „ausgegossen“ wird: Die Menschlichkeit beginnt zu blühen, die Kräfte wachsen, Zukunftshoffnung ist da, die Vielfalt des Lebens breitet sich aus, die Fülle der Begabungen wird verwirklicht. „Lasst hundert Blumen blühen“, sagte einst Mao. Wir brauchen eine Zukunftsvision für die neuen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten, die wir heute haben, sonst werden sie zum Verderben der Menschheit verwendet. „Die Fülle des Lebens“ ist eine solche Zukunftsvision, die über das hier Mögliche weit hinausgreift ins ewige Leben.

Der Schrei nach Gerechtigkeit kommt immer zu spät, wenn schon Gewalt und Unrecht das Leben der Schwachen schwer machen. Aber er muss kommen, wenn wir die Zukunftsvision ernst nehmen. Doch aus der Negation des Negativen ergibt sich noch nichts Positives.
Aus der Überwindung von Unrecht ergibt sich noch kein Recht und aus der Gewaltlosigkeit ergibt sich noch kein Friedensdienst. Darum sollen wir „die Armen“ nicht nur auf ihre Armut ansprechen und die Opfer von Gewaltsystemen müssen nicht immer „Opfer“ bleiben.

Die Armen sind nur im Vergleich mit den Reichen „arm“. Nach meiner Erfahrung wollen sie nicht nur auf das angesprochen werden, was sie nicht haben und nicht sind, sondern auf das, was sie sind, und was sie können. Die Opfer von Gewalttat und Gewaltsystemen müssen nicht immer auf die Täter und die Gewaltsysteme fixiert bleiben, sie müssen sich von der Fixierung auf die Täter befreien und zu sich selbst finden.

Wer definiert sie eigentlich als „Arme“ oder „Opfer“ oder „Unterdrückte“ oder „Verlierer“? Das tun die Reichen oder die, die es geschafft haben, oder die gewalttätigen Systeme. Wenn wir für die Armen und die Opfer von Unterdrückung eintreten: Wer sind dann „wir“? Die Armen oder die Nicht-Armen, die Opfer oder die Nicht-Opfer? Die Botschaft von Accra war eine notwendige Botschaft an die Erste Welt, an die Nicht-Armen und die Nicht-Unterdrückten. Es war noch keine Botschaft der „Armen“ oder der „Opfer“.

Wenn wir in der Zukunft nicht nur die „Sonne der Gerechtigkeit“ erwarten, sondern zuerst die Sonne des Lebens, erfasst uns die Leidenschaft für das Leben der „Armen“ und der „Opfer“, für das gemeinsame Leben.

Wer dem „lebendigen Gott“ vertraut, sieht die Welt nicht nur nach ihrer Wirklichkeit. Das tun die Realisten und sie kommen immer zu spät. Wer auf die Zukunft vertraut, sieht die Welt nach ihren Möglichkeiten. „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“, weil „alle Dinge Gott möglich sind“. Alle Wirklichkeit ist umgeben von einem Meer von Möglichkeiten. Alle Wirklichkeiten sind verwirklichte Möglichkeiten oder nicht verwirklichte alternative Möglichkeiten. Für lange Zeit erzählten Historiker die Geschichte, als wäre sie von schicksalhafter Notwendigkeit: ,,Es musste so kommen!“ Heute erkennen wir, dass der Erste Weltkrieg nicht hätte kommen müssen: Es gab auch Möglichkeiten zum Frieden. Sie hat nur keiner ergriffen.

Also werden wir Möglichkeitssucher für das Leben und die Gerechtigkeit und vermeiden wir die erkennbaren Möglichkeiten für Tod und Vernichtung! In dem Cockpit eines Flugzeugs fand ich den Spruch: „Think ahead of the airplane“.

Um die objektiven Chancen für das Leben zu erkennen, bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit: „Betet und wachet“, mahnt das Neue Testament, der neue Ton liegt auf dem Wachen. Um die günstigen Möglichkeiten für das Leben zu erkennen, müssen wir unsere Einbildungskraft, unsere schöpferische Phantasie bemühen. Für unser alltägliches Leben gebrauchen wir unsere Imagination, um unsere lnteressen wahrzunehmen.

Warum benutzen wir sie nicht für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und für das Leben und seine Schönheit? Man muss kein Prophet sein, um das zu tun. Man muss nur wach werden und mit Christus hoffen und lieben. Alle großen Werke der Gemeinde, der Mission und Diakonie sind von christlichen „Erfindern“ gegründet worden. Sie hatten eine ldee, waren wach und ergriffen ihre Chancen. Denken wir an die Reformatoren Luther und Calvin vor 500 Jahren, denken wir an John Wesley und Graf Zinzendorf vor 300 Jahren, oder an die Gründungsväter der großen Kirchen in Korea oder an die Frauen und Männer des neuen Südafrika. Sie alle wurden vom schöpferischen Geist Gottes ergriffen und schufen etwas Neues.

„Lebendiger Gott: Erneuere und verwandle uns.“

Das geschieht, wenn die „Sonne der Gerechtigkeit“ über uns leuchtet. Seit dem Kommen Christi in diese Welt leuchtet sie über dieser Welt. Die Sonne ist schon aufgegangen. Die Zukunft des Lebens hat schon begonnen.

evangelische-zeitung.de

von Karl-Heinz-Barthelmes

 

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