Provokation
Herausforderung
»In der Welt haben wir Angst. (...) Angst vor ihr, ob sie nicht schon die Hölle oder doch ein einziges Narrenhaus oder doch ein einziges großes Spital für Unheilbare sein möchte, Angst vor dem Mitmenschen als dem uns ewig Fremden, Angst (...) vor unserer Vergangenheit und vor unserer Zukunft, vor unserem Versagen und vielleicht noch mehr vor unserem Können, vor unserem Sterben und vielleicht noch mehr vor unserem Leben, Angst vor unserem eigenen Bild, wie es uns aus dem Spiegel anschaut. Endlich und zuletzt aber Angst vor dem, von dem her, durch den und zu dem hin wir sind – Angst vor Gott in seiner allmächtigen und allgegenwärtigen Heiligkeit.« (Karl Barth, Predigt zu Joh 16,33 (1952), in: Predigten 1935-52 (GA I.26), 396).
»Was ist durch Auto, Flugzeug und Rakete über die Zeit des Fußmarsches und der Postkutsche hinaus nicht nur anders, sondern besser geworden im menschlichen Dasein: (...) hinsichtlich des Verständnisses und der Meisterung seiner eigentlich brennenden Probleme und Nöte, hinsichtlich der realen Beziehungen von Mensch zu Mensch? Haben sie uns auch nur eine offenere, tiefere, fruchtbarere, schönere, gütigere Anschauung des uns umgebenden Kosmos (...) vermittelt? Fährt der moderne Reisende nicht an hundert bemerkenswerten Dingen stur vorbei: blind, wo seine Vorfahren noch sehend waren (...)? Ist das Leben durch unsere glücklich erreichten Schnelligkeiten nun wirklich leichter – nicht auch schwerer geworden? Oder ist zu erwarten, daß sich das Alles durch weitere Beschleunigungen unseres Laufes finden möchte: etwa mit Hilfe atomar getriebener Vehikel oder wenn es erst wirkliche Weltraumkutschen geben, wenn auch der Mond dem nach der Venus Reisenden keines Blickes mehr wert sein wird?« (Karl Barth, KD IV/4, Fragmente aus dem Nachlass 1959-1961, 395)
»Es begannen die ersten Eisenbahnen durch Europa zu rasseln, die ersten Dampfschiffe über den atlantischen Ozean zu fahren, die ersten elektrischen Telegraphen zu spielen, die ersten Vorläufer der heutigen Photographie gerade das leibliche Antlitz des Menschen, wie er ist, zu verewigen. Es begann das große Interesse eines bemerkenswerten Teils der abendländischen Intelligenz an den Problemen einer sehr realen Erwerb verheißenden Technik. Es begann dementsprechend die Riesenabwanderung der städtischen und ländlichen Massen in die Fabriken, die Eisenhütten, die Bergwerke. Die Menschengestalt des Roboters, der nach seiner Seele nicht frägt und auch nicht gefragt ist und darum auch nach der Anderer nicht fragen kann, der von einem anonymen Machtzentrum her geschaffen, bewegt, regiert, gebraucht und nach Verbrauch beiseitegeworfen und durch einen Anderen seinesgleichen ersetzt wird, diese materialistische Menschengestalt war jetzt im Aufstieg.« (Karl Barth, KD III/2 (1948), 464).
»Das Nichtige lügt eben auch und vor allem in der Form, daß es sich selbst bagatellisiert und unsichtbar macht, daß es einen frisch-fröhlichen Optimismus um sich her verbreitet, daß es sich damit begnügt, (...) tatsächlich ein mächtiges und raffiniert regiertes und verwaltetes Reich zu sein (...). Das Nichtige jubiliert geradezu, wenn es bemerkt, daß es nicht bemerkt, daß es womöglich tapfer entmythologisiert wird, (...) wenn nur seine Wirklichkeit als das Nichtige dabei schön unaufgedeckt und unangerührt bleibt!« (Karl Barth, KD III/3 (1950), 617)
»In Jerusalem der König Herodes, im Tempel die großen, frommen Gottesmänner, in den Städten am Meer die Geschäftsleute mit ihrem Handel mit aller Welt, in Syrien der Landpfleger Cyrenius mit seinen Gesetzen und seiner Polizei, in Rom der Kaiser Augustus in seiner Herrlichkeit, das waren die wichtigen Leute damals, die Leute, auf die es ankam. Auf die Hirten von Bethlehem kam nicht viel an, das waren keine wichtigen Leute.« (Karl Barth, Predigt zu Lk 2,9, in: Predigten 1916 (GA I.29), 423)
»Mag denn jemand hinweghören können über all den unsagbaren Jammer, der eben jetzt in allen deutschen Landen, verursacht durch die antisemitische Pest, gen Himmel schreit. Wie aber ist es möglich, daß uns Christen nicht die Ohren gellen angesichts dessen, was diese Not und Bosheit sachlich bedeutet? Was wären, was sind wir denn ohne Israel?« (Karl Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute (1938), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 90)
»Was für Zeiten! Es vergeht doch kein Tag, an dem die Zeitung nicht irgend eine neue Bestätigung dafür brächte, dass da draußen eine Clique von offenkundig Wahnsinnigen am Regimente ist.« (Karl Barth-Charlotte von Kirschbaum Briefwechsel I 1925-1935 (GA V.45), 293)
»Wer nicht zürnen kann, der ist ein Lump. Gerade gegen die Lüge z. B. gibt's nichts Anderes als Zorn, wenn sie uns begegnet. Wer es mit Gelassenheit ertragen kann, mitanzusehen, was der Größenwahn der Menschen für Verheerungen anrichtet, der hat jedenfalls nichts Heiliges zu hüten. Zorn ist Ablehnung, Widerspruch, entschiedenes Nein, und das mit Leidenschaft, aus vollem Herzen. Gott braucht diesen gerechten Zorn, wie man ein scharfes Messer braucht oder ein gefährliches Gift in der Medizin« (Karl Barth, Predigt zu Eph 4,25-5,2, in: Predigten 1919 (GA I.39), 252)
»Ist es nicht Tatsache, daß der Nationalsozialismus seine Herrschaft in Deutschland auf eine der größten, weil bewußtesten Betrügereien der Weltgeschichte begründet hat – auf eine Betrügerei, wie sie m. W. nun doch weder am Anfang der englischen noch an dem der französischen Revolution zu finden ist – nämlich auf den, wie man heute wissen kann, von den Nationalsozialisten selber veranstalteten Reichstagsbrand, auf Grund dessen die Presse und politische Arbeit der Opposition unterdrückt und jene knappe ›nationale‹ Mehrheit bei der Reichstagswahl von 1933 erzielt wurde, aus der dann, wieder mit Tücke und Gewalt, die nationalsozialistische Alleinherrschaft hervorging?« (Karl Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute (1938), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 91)
»Ja, es hatten Alle ihre Zeit: der Engländer mit seinem Weltreich, der Franzose mit seiner großen Nation, der Hitler mit seinem tausendjährigen Reich, der Amerikaner, der die ganze Welt kaufen wollte, der Russe mit seinem Weltkommunismus, der Ungar mit seinem stolzen Heldenmut und so auch der Schweizer mit seiner großen Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit. Alle hatten ihre Zeit. (...) Es ging Alles seinen Gang bis zu diesem Moment. Jetzt aber schlägt die Stunde, die alte ist abgelaufen, die neue beginnt. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.« (Karl Barth, Predigt zu Mk1,14-15 (1956), in: Predigten 1954-1967 (GA I,12), 67)