Provokation

Herausforderung

Absurdes und Nachdenkenswertes aus den sozialen Medien kommentiert von Georg Rieger

Noch'n Ei

»Ist es nicht klar, daß zwischen dem heutigen technischen Können (...) und dem echten menschlichen Bedarf (...) auf weiten Gebieten die seltsamste Kluft besteht? Wir können, wir wollen, wir vollbringen viel, immer mehr, aber die Räder laufen heimlich weithin leer, weil wir eine Macht wollen und brauchen, deren wir im Grunde durchaus nicht bedürfen, die wir teilweise vielleicht zu unserem Heil besser nie kennengelernt, geschweige denn gewollt und entfesselt hätten. Es kann nicht anders sein: die unsere wirkliche Lebensnotwendigkeit überschießende Macht, die Technik, die im Grunde sich selber Sinn und Zweck ist, die, um bestehen und um sich weiter verbessern zu können, immer neue problematische Bedürfnisse erst hervorrufen muß, muß wohl das Ungeheuer werden, als das es sich heute weithin darstellt, muß schließlich, absurd genug, zur Technik der Störung und Zerstörung, des Krieges und der Vernichtung werden. Aber der Mensch sollte nicht die Technik als ›seelenlos‹ anklagen, sondern sich selbst, seinen vernunftlosen Willen zur Macht. Er selbst ist das Problem der neuzeitlichen Technik.« (Karl Barth (1951), KD III/4, 451) 

Lieber nicht mehr

»Es ist nun einmal, wie die Geschichte sattsam gezeigt hat, zweierlei, ob ein Engländer oder ein Schweizer die Uniform anzieht und die Waffe in die Hand nimmt, oder ob ein Deutscher dasselbe tut. Der Deutsche wird dabei nachweislich allzu leicht und allzu allgemein zum totalen Soldaten. Ihn möchten wir anderen im europäischen Lebensraum lieber nicht mehr auftauchen sehen; auch nicht im Blick auf seinen an sich sicher sehr tüchtigen Beitrag zu einer gemeinsamen Verteidigung. Und auch - nein, gerade wenn ich selbst Deutscher wäre, würde ich nach seiner Auferstehung kein Verlangen haben: auch nicht im Blick auf die dem deutschen Westen drohende Ostgefahr. Dieser totale Soldat hat Deutschland selbst zu viel Unheil gebracht. Es muß in Deutschland zu vieles radikal neu gelernt und zu viel radikal vergessen werden, was heute noch keineswegs vergessen und noch keineswegs gelernt scheint, bevor man an die Existenz von deutschen Soldaten wieder ohne Grauen denken kann.« (Karl Barth (1950), Offene Briefe 1945-1968 (GA V.15), 213)  

Ticktack

»Das Ticktack der Uhr ist eine Stimme, die man nicht aufs erste Anhören versteht. Wir tun aber gut, genau auf das zu hören, was sie uns zu sagen hat. Eine Reihe von Fragen ruft sie uns in die Seele hinein: Was wird denn aus dir, Menschenkind, wenn die Zeit umgeht? Was bist du gewesen und geworden in den Zeiten, die nun verflossen sind? Was wird mit dir geschehen, und was wirst du tun in der Zukunft, die nun raschen Schrittes näherkommt? Und was wirst du von dir selber halten, wie wirds dir sein, wenn es einmal nicht bloß von einem Tag oder Jahr, sondern von deiner Lebenszeit heißen wird: Vergangen, vorbei, dahinten!? Und dann weiter: Von was hängt das alles ab, was die Zeit, die abgelaufene Zeit uns gebracht hat an Ernstem und Frohem, an Bösem und Gutem — von wem hängt das ab, was die Zeit uns bringen wird? Auf was kommts schließlich an in unserem Leben? Was gilt? Wem sind wir unterworfen, und nach was haben wir uns zu richten? Wer oder was ist die Macht über uns? Das sind die Fragen, die ein Jahreswechsel in uns aufweckt, mehr oder weniger deutlich und lebhaft, und auf die wir gut tun, Rede zu stehen.« (Karl Barth, Predigt zu Ps 31,15f, in: Predigten 1914 (GA I.5), 4).

Auf dem Trockenen

"8 Sollte darüber nicht die Erde erbeben und jeder Bewohner auf ihr trauern, und sollte sich nicht die ganze Erde heben wie der Nil und aufgewühlt sein und sich senken wie der Strom Ägyptens? 9 Und an jenem Tag, Spruch Gottes des HERRN, lasse ich die Sonne untergehen am Mittag, da bringe ich Finsternis über die Erde am helllichten Tag. 10 Und eure Feste verwandle ich in Trauer und alle eure Lieder in Klage, und um alle Hüften lege ich ein Trauergewand, und jeder Kopf wird kahl sein. Und ich mache es wie bei der Trauer um den Einzigen, und das Ende davon mache ich wie einen Tag der Verbitterung. 11 Seht, es kommen Tage, Spruch Gottes des HERRN, da sende ich Hunger ins Land, nicht Hunger nach Nahrung und nicht Durst nach Wasser, sondern danach, die Worte des HERRN zu hören. 12 Dann werden sie schwanken von Meer zu Meer und von Norden nach Osten, sie werden umherstreifen, um das Wort des HERRN zu suchen, aber sie werden es nicht finden." (Amos 8,8-12)

Weltfrauentag

»Wir Schweizer sind, mit Ausnahmen, in Sachen der Frauenfrage —nicht nur in dieser Sache übrigens — ein merkwürdiger Verein. In allen uns umgebenden Ländern und in Pakistan, in Ghana und wo nicht? haben sie längst die vollen aktiven und passiven politischen Verpflichtungen (ich ziehe dieses Wort dem Wort ›Rechte‹ vor!) der Frau. Bei uns existiert noch und immer wieder eine Majorität von braven Männern, die offenbar der Meinung sind, die Dinge so gut zu verstehen und zu handhaben, daß es ratsamer sei, die Frauen von ihnen fernzuhalten! Dazu gesellen sich nicht wenige ebenso brave Schweizer Frauen, die teilweise geradezu eifrig zu verstehen geben, daß sie sich nur zu gerne von den da in Frage kommenden Verantwortlichkeiten freisprechen lassen! Seltsam, sehr seltsam!« (Karl Barth, Brief an Margrit Studer (Mai 1963), in: Offene Briefe 1945-1968 (GA V.15), 509). 

Karnevalshumor

»Man wird immer beobachten, daß gerade die Menschen, denen es irgendwie zu gut geht (...) und von ihrer Rolle durchaus befriedigt sind, keinen Humor haben, sondern daß man diesen bei den Angefochtenen, (...) suchen muß. Dadurch wird sich denn auch der echte Humor vom unechten, vom Karnevalshumor z. B., unterscheiden, daß er das Wissen um das Leid nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat. Und (...) daß er sich nicht mit Vorliebe an den Anderen, sondern mit ganz besonderer Vorliebe an sich selber übt (…). Darum und so wird er dann etwas Lösendes und Befreiendes, und nicht Gift und Galle, auch dann bedeuten, wenn er sich gegen Andere richtet. Wer sich selber zuerst ausgelacht hat, der darf dann auch einmal Andere auslachen und wird als letzte Probe auch die freudig überstehen, selber ausgelacht zu werden, eine Probe, in der mancher angeblich Humorvolle schmählich durchzufallen pflegt.« (Karl Barth, in: Ethik II (GA II, 10), 445f). 

Doppelmoral

»Der Ort, wo die falschen Götter stehen und verehrt werden, ist heute wie zu allen Zeiten zuerst die Kirche selbst. Sie glaubt an die Güte und Macht ihrer eigenen Tradition, Moral und religiösen Aktivität. Sie glaubt an die Vortrefflichkeit der Christen im Unterschied zu den sie umgebenden Indifferenten, Atheisten und Kommunisten. Sie glaubt an das von ihr entworfene Menschenbild, Weltbild und Gottesbild. Sie tut damit dasselbe wie die, die an das Geld, den Sport, die Technik, die Sexualität oder auch einfach an die Herrlichkeit eines bequemen Lebens glauben. Die Kirche hat zu beweisen, daß sie selbst an den Gott glaubt, der die Menschen von allen falschen Göttern befreit hat.« (Karl Barth, Offene Briefe 1945-1968 (GA V.15), 501). 

Alles zur Unzeit

»The genius of stupidity is to think everything at the wrong time, to say everything to the wrong people, to do everything in the wrong direction, to lose no opportunity of misunderstanding and being misunderstood, always to omit the one simple and necessary thing which is demanded, and to have a sure instinct for choosing and willing and doing the complicated and superfluous thing which can only disrupt and obstruct.« (Karl Barth, § 65 The Sloth and Misery of Man, in: CD Volume IV,2 (§§ 64-68), 413f) 

Fortschreitend

»Alles, was sich da vor uns ausbreitet an Fortschritten und erreichten Zielen, das ist von sehr, sehr fraglichem Werte; denn was helfen uns die steinernen, hölzernen, eisernen Fortschritte, wenn die Gegenkräfte, die Trägheit und das Raubtier im Menschen, so gewaltig sind, größer vielleicht und schneller fortschreitend als das, was wir Kultur nennen?« (Karl Barth, Predigt zu Mt 16,26, in: Predigten 1914 (GA I.5), 313).

Nukleare Reichweite

»Rußland und Amerika: beide, wenn auch in sehr verschiedener Weise Kinder des alten Europas, beide entlaufene, oder schöner gesagt: mündig gewordene Kinder dieser Mutter, beide (...) zu Riesen ausgewachsen und nun beide, wenn auch unter sich konkurrierend, darin einig, daß eben sie (...) jenes alten Europas und damit des übrigen Globus Lehrer, Gönner, Beschützer, Wohltäter – oder sagen wir es deutlicher: Herren sein möchten.« (Karl Barth, Die Kirche zwischen Ost und West (1949), in: Der Götze wackelt, Berlin ²1964, 127).

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