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Calvin ein Tyrann wie Hitler?
Peinliche Fehlurteile: Kommentare zu Stefan Zweigs 'Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt'
50 von 51 Kunden fanden die folgende Rezension hilfreich:
Toleranz und Totalitarismus - eine Uraufführung im 16. Jahrhundert,
Stefan Zweigs Buch führt den Leser zurück in die turbulenten Gründungsjahre der europäischen Reformation, genauer gesagt, in die Stadt Genf, in der es nur ein Jahr nach den Wiedertäuferexzessen von Münster dem aus Frankreich zugewanderten Prediger Calvin gelingt, am 21. Mai 1536 die Bürger der Stadt zu einem Eid auf seine Variante der Reformation zu verpflichten. Dass damit nach gut calvinistischem Geist der Abschied von allen Lebensfreuden verbunden war, merkten die Bürger aber erst später, so dass sie schon bald ihren Entschluss bereuten und den Prediger im Jahre 1538 wieder vor die Türe setzten - nur um ihn am 13. September des gleichen Jahres wieder demütig zurückzuholen, weil sich in seiner Abwesenheit Chaos und Liederlichkeit der Stadt bemächtigt hatten. Diese Wankelmütigkeit der Menschen, ihre Sehnsicht nach Ordnung und Sinn auf der einen Seite, aber auch ihre Verfallenheit an die Sinnlichkeiten des Alltags und das damit einhergehende schlechte Gewissen sind die Kräfte, aus der sich von nun Calvins Macht bis ins Unermessliche nähren soll. Aus dem ehemals so freiheitlichen Republik Genf wird das "neue Jerusalem des Protestantismus", ein totalitärer Gottesstaat, der gegen jede Abweichung mit mörderischer Konsequenz vorgeht. Freie Bürger wie der hoch gebildete Humanist Castellio (1516-1563), die gegen diese Tyrannei rebellieren, können von Glück sagen, dass sie mit der Verbannung aus der Stadt davonkommen.
Erheblich schlechter als Castellio ergeht es dagegen dem Theologen Michel Servet, der nur wenige Jahre nach Calvins epochaler "Insitutio" seine "Resitutio" vorlegt, eine Schrift, die sowohl die katholische Inquisition wie auch die reformierten Kirchen in Deutschland und der Schweiz entsetzt. Servets muss untertauchen und findet nach einigen abenteuerlichen Lebensetappen unter falschem Namen eine Stellung als Leibarzt beim Bischof Palmier von Vienne. Kein Geringer als Calvin, der jedem Abweichler nach dem Leben trachtet, denunziert den Dissidenten beim katholischen Großinquisitor in Lyon. Als es dem gefangen genommenen Servet trotzdem gelingt, aus Frankreich zu fliehen, wird er auf der Durchreise in Genf festgenommen, auf Betreiben Calvins zum Tode verurteilt. und am 27. Oktober 1553 vor den Toren von Genf bei lebendigem Leibe verbrannt.
Dieser Mord an einem Abweichler wird zur geistigen Wegscheide der europäischen Reformation. Unter dem Pseudonym Martinus Bellius verfasst der inzwischen in Basel lebende Humanist Castellio eine Kampfschrift, in der er nachweist, dass "Ketzer" einfach nur "Abweichler" bedeutet und dass auch Calvin selbst als Verfolgter in seiner "Institutio" von Franz I Toleranz gegen Abweichler gefordert habe. Leider kommt es zu keiner öffentlichen Auseinandersetzung der beiden Positionen, da es Calvin gelingt, die Drucklegung der Castellios Schriften über die Zensur zu verhindern. Bald tauchen die Agenten Calvins sogar in Basel auf, um einen Ketzerprozess gegen Castellio anzustrengen, da stirbt der Humanist völlig überraschend ( und wahrscheinlich zu seinem Glück ) im Jahre 1563 im Alter von nur 48 Jahren.
Wie geht die Geschichte weiter? Der für Calvin so peinliche Mord an Servet wird bald vergessen, und mit den Erfolgen der calvinistischen Mission in ganz Europa steigt der Finsterling aus Genf zur weltgeschichtlichen Figur auf, zu einem Weichensteller der Moderne, der sogar die Entstehung des Kapitalismus mit beeinflusst (S 219) - aber auch zum Vorbild und Ahnherrn aller totalitären Charaktere des 20. Jahrhunderts. Und was wurde aus Castellio? Kamen seine Ideen zu früh, so dass er nichts bleibt als eine halb vergessene Fußnote der Geistesgeschichte? Nein, antwortet Stefan Zweig, denn es dauerte nur ein halbes Jahrhundert, bis holländische Remonstranten, die als Abweichler innerhalb des Calvinismus agierten, Castellios Schriften wieder entdeckten und im Jahre 1612 eine erste Gesamtausgabe seiner Werke herausgaben. So hat Castellio, wenn schon nicht gesiegt, so sich doch posthum wenigstens behauptet, auch wenn der Ruhm, Vordenker der Toleranz zu sein, an Descartes, Locke und Hume geht. Wen dieses 16. Jahrhundert, die stürmische Overtürenzeit der Moderne, in der Totalitarismus und Toleranz geboren wurden, dem empfehle ich das exzellente Sachbuch "Das geteilte Europa 1559-1598" von J. H. Elliot und (mit Einschränkungen) den derzeit hoch gelobten Roman "Feuertäufer" des jungen spanischen Autors Antonio Orejedo.
20 von 20 Kunden fanden die folgende Rezension hilfreich:
Ein Stück dunkelster europäischer Geistesgeschichte,
Im frühen 16ten Jahrhundert verbreiten sich in weiten Teilen Europas die auf Luther zurückgehenden reformatorischen Ideen. Doch diese Ansätze rütteln an den Grundfesten des katholischen Imperiums und so schlägt dieses auch prompt zurück und legt eine Gegenreformation auf, vor der man sich als Mensch mit protestantischem Gedankengut besser in Sicherheit zu bringen hatte. In diesem geistigen Klima fordert ein reformierter Theologe namens Calvin im katholischen Frankreich auch vergeblich theologische Toleranz ein und flüchtet schließlich ins protestantische Genf. So weit, so gut. Man würde nun erwarten, dass dieser Calvin, aus eigener Anschauung gespeist, in Genf ein Paradies religiöser Toleranz eingerichtet haben würde, doch weit gefehlt. Er deklariert seine Bibelauslegung als die einzig richtige und verfolgt erbarmungslos alle, die es wagten, auch nur ein Komma in seiner Konstruktion verändern zu wollen.
Da kam ein spanischer Heißsporn mit Namen Miguel Servet des Weges und versuchte Calvin in zwei Punkten zu beweisen, dass dieser die Schrift falsch ausgelegt habe. Ohne auch nur den Hauch einer Chance gehabt zu haben, wurde Servet am 27. Oktober 1553 auf "kleiner Flamme" und bei lebendigem Leibe verbrannt.
Sebastian Castellio, ein überaus gebildeter Humanist und Professor der Baseler Universität, erhob sich und stellte fest: "Einen Menschen verbrennen heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten." In zwei brillanten Streitschriften führte der die schiere Unmenschlichkeit Calvins vor Augen. Dieser bot natürlich alles auf, um diesen Castellio unschädlich zu machen. Doch bevor er Castellios schließlich habhaft werden konnte, starb dieser an Körper und Geist entkräftet am 29 Dezember 1563.
Die ganze Geschichte ist hoch dramatisch und man fühlt 450 Jahre später in Zorn in sich aufsteigen, wenn man sich diese Vorfälle noch einmal vor Augen führt. Calvin war ein Monstrum im Priesterkleid und stellte selbst einen Roberto Bellarmin in den Schatten, welcher im Februar des Jahres 1600 Giordano Bruno anzünden ließ.
Als Stefan Zweig 1936 diese Geschichte zu Papier brachte, trieb ein anderes Monstrum in Europa sein Unwesen. Und so schrieb Zweig eine Doppelgeschichte, ohne dass das aktuelle Monstrum auch nur erwähnt wurde. Aber wenn man Zweigs Biographie kennt, so wird deutlich, dass sich hinter dieser gespenstigen Szenerie der Gasmann abzeichnete, wie ihn Günter Grass bezeichnet hatte: Hitler.
Und über beiden Szenarien schwebt die aus Fassungslosigkeit geborene Frage: Wie konnte das alles passieren?
Aber Stefan Zweig formuliert in der Einleitung auch eine Regel politischen Miteinanders: "Diese immer wieder notwendige Abgrenzung zwischen Freiheit und Autorität bleibt keinem Volke, keiner Zeit und keinem denkenden Menschen erspart: denn Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei)."
Und auch diese Feststellung gilt gleichermaßen für die Mechanismen zu Zeiten Calvins und Hitlers: "Diese messianische Sehnsucht nach einer Entproblematisierung des Daseins bildet das eigentliche Ferment, das allen sozialen und religiösen Propheten die Wege ebnet."
1 von 10 Kunden fanden die folgende Rezension hilfreich:
... eine wichtige Ergänzung zum Thema ...,
Mit Zweifeln daran, dass der Vergleich Hitler - Calvin gerechtfertigt ist, möchte ich folgenden Text hier ohne Kommentar einfügen, als Bereicherung für alle Interessenten:
"It was through direct evidence supplied by Calvin that Servetus suffered these injustices and condemned by the French Inquisition to death by a slow fire. Servetus was refused an advocate at the trial, being told with grim humor that he could lie well enough without one. The Spaniard was found guilty on heresy on three primary charges: denying the Trinity, declaring that infant baptism was an invention of the devil, and attacking the doctrines of the Church of Geneva. During the trial, Calvin called Servetus a "villainous cur". Calvin had wished the death be more merciful than burning and that he should be beheaded, but he had worked to secure the execution, some good men believed that the severity should be blamed upon him. On October 27, 1553, the torch was lit and in half an hour the spectators were satisfied. Disbelieving what was happening to him, he was burned at the stake over green wood so that it took three hours for him to die. Servetus met his death with steadfastness and prayer, calling upon the Son of the eternal God to grant him mercy.
The bigot and tyrant, John Calvin, never regretted the part he played in the case against Servetus and wrote a book defending his position. And though the leading Protestant divines supported Calvin's view that the execution had been more than justified, there was enough of an outcry to make further defense desirable, and in the next year Beza published his book "Whether Heretics should be punished By the Civil Magistrate?." The responsibility rests heavily enough on Calvin, but it rests still more upon the intolerant spirit of the age. After 1600 persons were rarely executed on this charge.
The Reformation made toleration possible but it began with no such intention. The states and churches of a divided Europe found in the end that it must tolerate or die. Years later, Genevan Calvinists erected a "expiatory monument" on the site of the burning, not to signify approval of Servetus' views but as a testimony to their disapproval of violence as an instrument for the defence of orthodoxy." (aus dem Internet)
aus: amazon.de
Hat Johannes Calvin den Tod Michael Servets auf dem Scheiterhaufen zu verantworten?
Die Postkarte 'Todesstrafe' als PDF
Der Streit um Michael Servet ist der bedeutendste Konflikt Calvins in Genf. Gelegentlich wird er so geschildert, dass Calvin sich mit Hilfe des Rates eines unbequemen Gegners entledigt habe und so seine Grausamkeit und Härte offenkundig werde. Das aber ist zu einfach. Deshalb wird hier der Streit etwas ausführlicher dargestellt. Von Georg Plasger
Der bereits in Vienne zum Tode verurteilte Servet flüchtete nach Genf. Der Genfer Stadtrat nahm den Prozess gegen ihn auf. Im Oktober 2008 jährt sich der Tag der Verbrennung Servets zum 455. Mal. Reformiert-info erinnert an eine „offene Wunde“ in der Geschichte der reformierten Reformation.