Predigt zu Jesaja 35,1-10


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im Advent 2015

Geht hin, stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt denen, die verzagten Herzens sind: Fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott, er kommt und er wird euch helfen.

Liebe Gemeinde,

dieses Wort kennen Sie. Ich sage es immer als Sendungswort am Ende des Gottesdienstes. Ein großer Auftrag: Gestärkt durch das Wort Gottes und die erlebte Gemeinschaft sollen wir hinausgehen und andere Menschen, besonders die Müden und Schwachen, teilhaben lassen an der Hoffnung und am Vertrauen auf Gottes heilende Kraft. Ich finde, dass dieses Sendungswort gut für den heutigen Sonntag passt – den Gottesdienst, in dem wir unsere alten Presbyterinnen und Presbyter aus ihrem Dienst verabschieden und die neuen einführen. Und weil es auch aus einem adventlichen Text stammt, der großen Verheißung im 35 Kapitel des Jesajabuches.

Ich lese es jetzt in seinem Kontext: Jes. 35, 1-10.

Es sind ja wunderbare Verse, da, in der Mitte des Jesajabuches. Erst spät sind sie eingefügt – und bilden doch so etwas wie das Herzstück der Theologie, die wir mit dem Namen Jesajas verbinden.

Jesaja – da hören wir die Botschaft: Gott will das Heil für sein Volk und für diese Welt – für alle.

Unverbrüchlich ist dieser Heilswille Gottes. Auch wenn die Erfahrung anders aussieht. Wenn dieErfahrung zeigt, wie das Volk Gottes leidet unter Unrecht und Willkür, Krieg, Zerstörung und Fremdherrschaft, wie es selbst verstrickt ist darin. Wer immer einst diese großartigen Bilder malte, hatte die ganze leidvolle Geschichte seines Volkes vor Augen, den immer neuen Kampf Israels um seine Existenz mit den Philistern, Assyrern, Babyloniern, Persern – Triumph und Niederlage, Deportation und Rückkehr, das Ringen um die bleibende Erwählung. Mehr noch: Der diesen Text schrieb, nennen wir ihn ruhig Jesaja, kämpfte selbst mit der bitteren Erfahrung, dass sich zwar die großartige Verheißung der Rückkehr des Volkes aus Babylon erfüllt hatte, aber Fremdherrschaft und Unterdrückung damit keineswegs beendet waren.

Vielleicht war und ist das Jesajabuch deshalb so beliebt, weil es diese Spannung zum Thema macht, die ja bis heute unseren Glauben prägt: das Vertrauen auf die heilende Macht Gottes und das Erleben unserer unerlösten, von Leid gezeichneten Welt, eine Spannung, die wir mit Verstand und Theologie nicht wirklich auflösen können - die es für uns im Glauben zu überwinden und im Leben zu gestalten gilt. 

Eine Spannung, mit der wir in diesen Wochen und Monaten auch hier in unserem Land konfrontiert sind, die uns begegnet in jeder einzelnen Geschichte der Vielen, die bei uns Schutz suchen, die uns begegnet in den furchtbaren Ereignissen in Paris und allem, was daraus nun folgt.

Jesaja begegnet dieser Spannung mit einem Auftrag: Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost. Fürchtet euch nicht. Seht, euer Gott ist da. Er kommt zur Rache. Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. Wir hören die tröstende und heilsame Botschaft: Wie immer diese Welt, wie immer ihr Alltag aussieht, ihr seid darin bestimmt und erwählt, zu trösten, zu ermutigen, zu stärken und zu heilen. Ihr seid – wir sind – dazu bestimmt, dazu beizutragen, dass Menschen ihre Angst verlieren, dass Traumatisierte wieder Mut ins Leben fassen, dass sich Gebeugte aufrichten, und müde gewordene Hände aufs Neue tätig werden. Was für ein großartiger Auftrag. Aber er hat auch eine harte Kante. Gott, der kommt, um uns zu helfen, der kommt zur Rache, sagt Jesaja. Der kommt mit Macht. Der wird das Unheil der Welt und seine Schergen bloßstellen, zerbrechen. Trotzdem, das ist das Wunderbare dieses Textes, steht in dieser Begegnung nicht einfach Gewalt gegen Gewalt.

Vielmehr geht Jesaja selbst schon einen ersten Schritt zu ihrer Überwindung: Einen auf ganz eigene Weise machtvollen Schritt: Er bettet den Auftrag an uns ein in ein Panorama wunderbarer Bilder – wir haben sie eben gehört.

Welche Wirkung Bilder in unserem Alltag entfalten – im negativen Sinn – das steht uns in diesen Tagen unmittelbar vor Augen. Nicht nur die großen Bilder von Zerstörung und Tod, sondern vielleicht noch viel mehr die kleinen, alltäglicheren Bilder: bewaffnete Polizisten, abgesperrte UBahn-Schächte, leere Straßen. Bilder, die sich lähmend und störend in unsere inneren Augen einbrennen sollen und mehr wirken als Mahnungen und Drohungen, das ist das perfide Kalkül des Terrors.

Unser Text will genau solche Bilder überwinden. Mit Gegenbildern. Mit Bildern, die vorwegnehmen, wozu das Wort uns sendet: Die selbst Angst nehmen und müde Hände stärken wollen. Sehen wir es mit den Augen Jesajas: Wie die Wüste aufblüht. Wie ein Gelähmter tanzt und einen Löwen am Weg streichelt, wie aus Klagegesängen LaOla Wellen werden. Jesaja will Gefühle wach rufen, will an Erfahrungen anknüpfen, die die Gegenwart verschüttet hat. Er will die

Sehnsucht danach wecken, die Grenzen zu überspringen: „könnten wir nicht vielleicht doch...“ Und vielleicht müssten wir auch solche Bilder malen, andere als Jesaja, unsere Bilder: 

Schauen Sie einfach mal: Da ist unser Gemeindezentrum, mit weit offenen Türen, und Menschen gehen ein und aus und begegnen sich und reden über Gott und die Welt und überlegen, wer jetzt ihre Hilfe oder Nähe braucht… Und sehen Sie, da sind auch viele Fremde dabei, junge Menschen, die sich freuen, wie sie aufgenommen werden, und fragen, ob nicht auch wir ihre Hilfe brauchen, die vielen alten Menschen, die sonst niemanden haben…  – nein, sagen Sie nicht, warum das ja gar nicht gehen kann, schauen Sie einfach… Und sehen Sie die Attentäterin, die ihren Umhang auszieht und ihren Sprengstoffgürtel ablegt und ihr Gesicht zeigt, so jung und so verletzt, und sie streckt die Hand aus und aus dem Hass in ihren Augen werden Tränen...

Und vielleicht können Sie sogar das sehen: Lebendige Dörfer und Städte im heutigen Syrien und im Irak, Gärten und Felder, auf denen es wächst, Menschen unterschiedlichen Glaubens, die in Frieden beieinander wohnen und arbeiten...

Wir wagen das nicht zu denken. Aber vielleicht sollten wir es hier und da doch versuchen. Wer damals in Israel hätte denn angesichts der unendlichen Zerstörung durch immer neue Heere, angesichts der verwüsteten Äcker, der dezimierten Bevölkerung – angesichts von Trauma und Tod - wer hätte da zu denken gewagt, dass da eines Tages wieder ein neues Jerusalem wachsen würde?

Dass die reale Zukunft wenigstens ein Stück weit die eschatologische Verheißung erfüllen könnte? Und waren nicht umgekehrt die Bilder und die Hoffnung darin ein wesentlicher Antrieb dafür, dass es so werden konnte? Wenigstens im Blick auf die Heimkehr aus dem babylonischen Exil? Großartige Bilder. Großartige Verheißungen. Sie geben uns die Stärke, ohne die wir selbst nicht andere stärken können. Vielleicht verstellt uns die Individualisierung unserer Frömmigkeit, die Focussierung auf Schuld und Vergebung, manchmal den Blick darauf, dass es in der Geschichte Gottes mit seinem Volk oft die großen Bilder waren, die Menschen aufbrechen ließen. Das Land, in dem Milch und Honig fließen. Die Völkerwallfahrt zum Zion. Das neue Jerusalem. 

Jesaja gründet unsere Sendung in die Welt in solchen utopischen Bildern. Und die Bilder selbst gründet er in der unverbrüchlichen Heilszusage Gottes: Er kommt und er wird Euch helfen. Das ist mehr als ein „Yes we can“ oder „wir schaffen das“ - von dem wir ja leidvoll wissen, wie schnell sich auch der beste und stärkste Wille verbraucht, wenn er allein auf menschliche Anstrengung setzt. Jesaja verbindet seine großartigen Bilder mit einem Auftrag an uns Menschen einerseits und der unverbrüchlichen Zusage Gottes andererseits. Er sagt uns zu: Gott selbst wird bei euch sein, wenn ihr Euch an die Seite derer stellt, denen es in dieser Welt an Kraft, an Trost und Hilfe fehlt. 

Und doch – wir haben auch diesen Schatz nur in irdenen Gefäßen, wie Paulus sagen würde. Denn es ist wohl nicht von ungefähr so, dass die großartige Verheißung des Jesajabuches: Blinde sehen und Lahme gehen in der Bibel noch einmal an einer ganz anderen Stelle auftaucht. Jesus lässt sie

Johannes im Gefängnis ausrichten, kurz vor dessen Hinrichtung, als Johannes ahnt, dass seine große Vision sich nicht erfüllen wird. Wenige Monate bevor Jesus, mit dem Johannes seine Verheißung verbunden hat, selbst am Kreuz starb. Auch für uns sind die großartigen Bilder von der erlösten und versöhnten Welt am Kreuz und im Kreuz gebrochen. Unser Glaube an die Macht Gottes selbst ist im Leiden des Gekreuzigten gebrochen. Und das heißt für uns, dass wir, wenn wir losgehen um mit den Bildern der versöhnten Welt Versöhnung zu leben, dass wir damit rechnen müssen, dem Kreuz zu begegnen. 

Es klingt ja so glatt: Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sprecht den Verzagten Mut zu. Aber: Wie viele müde Hände, wie viele wankende Knie sind da! In unserer sich so rasant verändernden Zeit und Gesellschaft: Die Menschen, die in den Städten aus ihren Wohngebieten vertrieben werden durch explodierende Mieten und Wohnungsspekulationen, die, die alt und allein auf den Dörfern zurückbleiben, die wachsende Zahl von Armen, die auch an unserer Kirchentür stehen, die vielen tausend Flüchtlinge in den Notunterkünften und außerhalb und die Helfer, die müde geworden sind. Unsere globalisierten Welt und Wirtschaft wirft große Schatten und ihre Verlierer leiden nicht nur in Indonesien und Eritrea, sondern immer mehr auch an unseren Grenzen und vor unseren Türen. 

Und die Abschottung wächst – nach außen und nach innen, bis hinein auch in unsere Gemeinde. Dass es doch auch mal gut sein müsste. Dass man auch mal einen Riegel vorschieben sollte. Noch wird das eher leise gesagt – aber es wird gesagt. Und andernorts wird es rational vertreten oder immer lauter gebrüllt, wird offen Hass geäußert, werden Ängste geschürt. Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie… Das gilt wohl bis dahin, wo sich die verzagten Herzen hinter den Fassaden von Hass und Aggression verschanzen. Wo die Angst bösartige Fratzen zeigt, die Angst, zu kurz zu kommen, die Angst vor Veränderung. Angst um das bisschen eigenes Leben, keinen Raum mehr frei lässt für den liebevollen Blick auf die Not anderer. Aber genau da ist die Gefahr auch groß, dass die Botschaft von Heil und Versöhnung schmerzhaft und mit aller Wucht auf die Macht von Hass und Furcht trifft, an ihr bricht...

Umso wichtiger ist es für uns in dieser Zeit, dass die Kette nicht abreißt: Dass wir selbst uns immer neu im Glauben und in der Gemeinschaft miteinander die Bilder ins Herz schreiben und die Hände füllen lassen und daraus die Kraft schöpfen, anderen die müden Hände zu stärken. Unsere Gemeinde war und ist ein wichtiger Ort dafür. Unsere gottesdienstliche Gemeinschaft, unser gemeinsames Bitten um Gottes Segen und unser Ringen um Entscheidungen und Botschaften, die müden Händen Kraft und verzagten Herzen Ermutigung geben. 

Wir sind damit eher zurückhaltend. Aber es braucht keine große Gesichte um zu sehen, dass sich die Zeiten ändern. Wir werden in Zukunft ganz anders gefragt sein, was uns vom Evangelium her geboten ist. Wo wir in der Nachfolge Jesu stehen und was wir vor der Welt zu bezeugen haben. Dann wird es nicht mehr um die Frage gehen, ob und wie attraktiv wir sind für Menschen, die zu uns kommen, sondern dann wird die Frage sein: Wer bleibt. Wer bleibt, wenn Gottes Wort uns dahin ruft, in seinem Namen, im Namen Jesu Christi Position zu beziehen an der Seite der Schwachen, der Verlierer, im Dienst des Friedens und der Versöhnung. Vielleicht werden auch gerade deshalb Menschen wieder neu zu uns kommen.

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie – am Ende bleibt das aber auch für uns selbst Trost und Zuspruch. Gott will uns die Hände füllen, Gott will uns mit seiner Kraft und seinem Geist erfüllen, und auch mit einer tiefen inneren Fröhlichkeit. Er kommt und er wird uns helfen. So komm, der Heiden Heiland, der Heiland aller Welt,

Amen

Gehalten am 29. November 2015


Pfarrerin Dr. Susanne bei der Wieden, Frankfurt/M.