... ist ein Licht aufgegangen - Matthäus 4,12-17

Predigt am 9. Januar 2011, 1. Sonntag nach Epiphanias, von Gudrun Kuhn

''Tut Buße! Das könnte heißen: Erkennt euren Anteil an dem Unrecht, das geschieht. Verkriecht euch  nicht in eurer Angst. Verharrt nicht in Tatenlosigkeit.''

Predigt zu Matthäus 4,12-17

Als nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Ga­li­läa zurück. 13 Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am See liegt im Ge­biet von Sebulon und Naftali, 14 damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: 15 »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, 16 das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.« 17 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
Matthäus 4,12-17

Liebe Gemeinde!

Als ich den Predigttext las, war ich zuerst etwas unwirsch. Nach Wochen freiwillig und un­frei­will­ig er­lebter Lichtsymbolik in Gedanken, Worten respektive Liedern und Werken – jetzt noch ein­mal davon reden: Das Volk, das da wandelt im Finstern, siehet ein helles Licht. Jetzt, wo man da­­ran geht, die Wachsflecken auf dem Fußboden auszubügeln, die Lich­ter­ket­ten ein­zu­packen und die Kerzenstümpfe wegzuschmeißen, da hatte ich plötzlich keine Weih­nachts­lieder mehr im Kopf, sondern etwas ganz anderes: Bertolt Brechts Mackie-Messer-Song.

Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.

Das war wohl auch Weihnachten 2010 nicht anders.
Die im Licht sind. Ihr Weihnachtszimmer war hell erleuchtet. Prall gefüllt mit kulinarischen Kost­­barkeiten. Vollgestellt mit erbetenen und unerbetenen Geschenken. Vielleicht auch recht­­zeitig leergewünscht: Kein Geschenke­stress dieses Jahr. Wer mehr als genug besitzt, will sich gar nicht beschenken lassen. Die im Licht sind. Fröhliche Gesichter im Kreis lieber Men­­schen.
Und die im Dunkeln sind. Da muss das bisschen Licht aus den Feierstunden in den Wär­me­stu­­ben und aus den Essenspaketen der Stadtmission lange reichen. Da hat sich mit der Jah­res­­wende nichts geändert an der Trennung, an der aussichtslosen Ar­beits­platz­si­tuation, am ver­stellten Weg in die Zukunft. Die im Dunkeln sieht man nicht. Will man nicht se­hen.
Weihnachten 2010 ist vorüber. Und es hat sich nichts geändert. Alle Jahre wieder … Die einen bleiben im Dunkeln und die andern bleiben im Licht.

Ist Ihnen ein Licht aufgegangen in den vergangenen Weihnachtstagen?
Ein Licht, das die Hel­ligkeit Ihres begünstigten Lebens zu überstrahlen vermag? Oder –
Ein Licht, das die Dunkelheit Ihrer Sorgen ausleuchten kann?
Ist uns ein Licht aufgegangen? Ein Licht, das mehr ist als fauler Kerzenzauber, mehr als stilvolle Stimmungsleuchter, mehr als zuckersüßer Symbolsirup?

Im verlesenen Text ist welchen ein Licht aufgegangen. Und ich möchte diese Zeile vorerst ein­mal ganz anders hören. Ohne das traditionsreiche Deutungsschema von hell und dunkel. Je­mand geht ein Licht auf. In den frühen Comics haben die Zeichner diesen Ausdruck wört­lich umgesetzt: Glühbirne über den Denkerfalten von Donald Duck: Ah! Der hat plötzlich et­was kapiert.

Dem Evangelisten und seinen Vorgängern in der Jesus-Überlieferung ist ein solches Licht auf­gegangen. Und in diesem Licht lesen sie plötzlich die alten Texte ihrer Tradition ganz neu, ganz anders:
Das Land Sebulon und das Land Naphthali, am Wege des Meeres, jenseits des Jordans, und das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen;
Was hier aus dem Jesajabuch zitiert wird, ist ja eigentlich etwas längst Vergangenes, ver­fasst unter dem lastenden Druck der Bedrohung des Nordreichs durch die Assyrer im 8. vor­christ­li­chen Jahrhundert. Der Prophet spricht in der Zeitform erwartungsvoller Gegenwart: Das Volk, das im Fins­tern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. (Jesaja 9,1) Aber für den Evangelisten scheint das vergangen und zugleich neu. Es wird hineingeholt in seine eigene Zeit. Von Jesus liest er, wenn er die ur­alten Zeilen liest. Seine Geschichte erzählt ihm der längst verstorbene Prophet. Schon im­mer war – so versichert er – die Rede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Denn dort, wo die Region Sebulon und die Region Naphtali, benannt nach zweien der 12 Söh­ne Jakobs, dort, wo Sebulon und Naphtali aneinandergrenzen, dort liegt Kafarnaum, die Stadt, die Jesus von Nazareth zu seinem Wirkungszentrum gemacht hat.

Darf man das? Darf man so mit Texten umgehen?

Als ich Konfirmandin war und erstmalig solche Auslegungen von Jesaja-Texten hörte, war ich völ­lig überwältigt. Gott hatte offensichtlich bereits lange vor Jesu Geburt durch den Mund der Pro­­pheten angekündigt, was einmal sein würde! Ohne zu wissen, was sie taten, waren diese hei­ligen Männer ein Sprachrohr für die Heilsgeschichte geworden, die sich in Christus ver­wirk­lichen würde: Das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt …
So erhebend diese frommen Höhenflüge meiner Jugend gewesen waren, so ernüchternd folgte darauf der Absturz, als der Glaube an eine wortwörtliche göttliche Eingebung der Schrift verloren ging.
Und danach?
Noch heute fällt es mir schwer, mit den vertrauten Texten aus dem ersten Testament, die jahr­­hundertelang als Vorverweise auf Christus gelesen wurden, umzugehen. Wundervoll ver­tont von Händel, Bach und Mendelssohn, nicht wegzudenken aus den Advents- und Weih­nachts­gottesdiensten … Und doch bin ich auch entsetzt darüber, dass wir unseren jüdischen Brü­dern und Schwestern ihre Bibel gestohlen haben. Erst im Dialog mit den jüdischen Theo­lo­­ginnen und Theologen nach der Schoah ist der christlichen Theologie dies bewusst ge­wor­den. Nicht wir sind das Volk, von dem im Jesajabuch die Rede ist! Nur wir meinen, dass Jesaja von diesem Röslein sagt …

Müssen wir also aufhören, von Verheißungen für uns zu sprechen, wenn wir die Propheten le­sen? Müssen wir also aufhören, die alten Hoffnungsbilder in unseren Glauben hin­ein­zu­neh­men?
War das Licht, das dem Evangelisten aufging, eine falsche Leuchte? 

Ich weiß darauf keine einfache Antwort. Lassen Sie mich deshalb bitte ein wenig ausholen.  
Es gibt eine Episode in der Apostelgeschichte (8,26-39), die von einem äthiopischen Hofbeamten, dem Schatzmeister der Königin, erzählt. Er war nach Jerusalem gefahren um zu beten und befand sich auf dem Heimweg. Seine Reiselektüre: der Prophet Jesaja. Zu ihm wird – von Gottes Geist beauftragt – der Jünger Philippus geschickt. Und der fragt den Fremden: „Verstehst du, was du da liest?“  Und die Antwort: „Wie könnte ich, wenn niemand mich anleitet?“ 

Hier wird unser Grundverhältnis zu allem Geschriebenen dargestellt. Die Bücher kommen zu uns aus vergangenen Zeiten, sie treffen auf uns in einer je besonderen Situation unseres Le­bens und sie reden nicht unmittelbar zu uns, sondern immer schon gedeutet durch andere.
Darum gibt es auch niemals die reine und unverfälschte und richtige Interpretation. Lector in fabula – so formuliert dies die Literaturtheorie: Der Leser sitzt selbst im Buch. Und er sitzt da sel­ten alleine. Meist hat er einen Philippus oder mehrere um sich, die sein Verständnis mit-be­stimmen. Und so wird mit jeder Lektüre der Text verwandelt.  

Da tat Philippus – so heißt es in der begonnenen Geschichte – seinen Mund auf und begann, ihm von dieser Schriftstelle ausgehend das Evangelium von Jesus zu verkündigen. 

Mir sind solche Geschichten sehr wichtig. Sie gehören zum Herzstück unserer Tradition. Got­tes-Erkenntnis ist in den Buch-Religionen keine Erfahrung, zu der ein Einzelner durch Er­leb­nisse der Natur oder des eigenen Inneren gelangen kann. Gottes-Erkenntnis geschieht durch das Wort. Das heißt aber auch: sie geschieht im Gemeinschaftsraum sprachlicher Kom­munikation. Im Raum überlieferter Texte und im Raum von Deutungsdialogen.
Dabei begeben wir uns freilich immer auf dünnes Eis, wenn es um die Wahrheitsfrage geht. Aber wir müssen uns um die Schätze der verschriftlichten Tradition nicht mit unseren jü­di­schen und anders-konfessionellen Mit-Lesern wie verfeindete Geschwister ums Erbe strei­ten. Die Schrift ist kein Besitz, dazu da, in theologischen Fakultäten an die Höchstbietenden ver­steigert und dann in Bücherschränke eingesperrt zu werden. Als Offenbarungsort Gottes ist sie etwas Lebendiges, das ins Herz treffen kann.  

Den äthiopischen Hofbeamten hat sie ins Herz getroffen, als er als Gottsucher nach Je­ru­sa­lem gekommen war. Er ließ den Wagen anhalten, um sich von Philippus taufen zu lassen.
Die ersten Christen hat sie ins Herz getroffen, als sie als Gottsucher das Geschehen von Golgatha verstehen wollten.
Die Schrift ist nichts Totes, was ein- für allemal interpretiert und wie eine Reliquie verehrt wer­den soll. Durch sie weht der Geist, der lebendig macht. Durch sie scheint ein Licht, das Le­serinnen und Lesern – jeweils neu und anders – aufgehen kann.
Und so verstehe ich die vielen Jesaja-Zitate im Matthäusevangelium. Sie sind ein Medium, durch das sich die Erfahrungen mit Jesus von Nazareth deuten ließen. Deuten und als ge­deu­te­te an andere weitergeben. 

Welche Erfahrungen sind dies? Man überliest sie beinahe, wenn man allzu sehr auf das feierliche Prophetenwort fixiert ist. 

Folgendes ist dem Evangelisten wichtig: 

Jesus tritt dann hervor, als er davon hört, dass Johannes verhaftet wurde. Das ist weit mehr als eine bloße Zeitangabe. Hier geschieht etwas, das den Jüngern zum unmittelbaren Vor­bild wurde. Jesus tritt in die Spur eines Erfolglosen, eines, der in die Fänge eines un­ge­rech­ten Tyrannen geraten war, eines, der mit seiner Mission gescheitert schien. Kein Wort über die Angst, die einer solchen Entscheidung vorausgeht. Kein Wort über Vernunftgründe, ob der Moment richtig ist.
Jesus bekennt sich öffentlich zu dem geächteten, von politischem Mord bedrohten Täufer. Er benutzt seine Worte, stellt sich unmittelbar in seine Tradition: Tut Buße! Mit diesem Ruf macht er genau da weiter, wo der Vorgänger aufhören musste. Tut Buße! Kehrt um! Ändert euch!
So haben die Zeitgenossen Jesu den Beginn seines Wirkens erlebt: Ganz vertraut war ihnen der Ruf Tut Buße! Und ganz neu war ihnen das Folgende: Das Himmelreich ist nahe her­bei­gekommen!

Das Himmelreich. Wie schnell das ins Jenseitige, Unerreichbare gerückt ist in der Ge­schich­te der Kirchenlehre. Als ob da nicht stünde: nahe herbeigekommen. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
Das war es doch, was dem Evangelisten in der Jesaja-Lektüre aufgegangen war: Dunkel und Finsternis gehören der Vergangenheit an: das Volk hat ein großes Licht gesehen. 
Das war es doch, was wir uns in der Weih­nachtszeit haben sagen lassen: Das Himmelreich ist da. Kommt und seht! 

Was heißt Himmelreich im Kontext von Jesu Auftreten gerade und ausgerechnet nach der Verhaftung des Johannes? Mit einem weiteren Jesaja-Wort (Jesaja 9, 4) hat dies die Tra­di­tion visionär beschrieben: … jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Das Reich des Todes, die  Herrschaft der Anmaßung und Unmoral un­ge­rech­ter Herrschaft wird radikal in Frage gestellt. Ein anderes Reich, eine andere Herrschaft, ein anderes Zusammenleben der Menschen – Frieden auf Erden. 

Jesus, der bei Johannes (8,12) sagt: Ich bin das Licht der Welt, verändert die Perspektive: Er leuchtet die Finsternis aus. Er will nicht nur gesehen werden. Er sieht. Er sieht die im Dunkeln. Er stellt ihre skandalöse Situation in das helle, schonungslose Licht seiner Anklage aller Verantwortlichen: Tut Buße! Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh. 8,12) Dieses Licht erscheint nicht einfach wie ein fernes Wetterleuchten am Himmel. Die Botschaft muss ins Herz treffen: Tut Buße! Das könnte heißen: Erkennt euren Anteil an dem Unrecht, das geschieht. Verkriecht euch  nicht in eurer Angst. Verharrt nicht in Tatenlosigkeit.
Auch ihr seid das Volk, das Volk, das in Finsternis saß, ihr seid die, die da saßen am Ort und Schatten des Todes! Auch und gerade, wenn ihr zu denen gehört, von denen Brecht singt, sie seien im Licht.
Auch wir sind es, von denen die Schrift spricht. Auch wir sind es, die nicht mutig genug aufstehen. Auch wir sind es, die in der Finsternis von Resignation keinen Weg sehen. Auch wir sind es, die zur Buße gerufen werden. Auch wir sind es, denen ein Licht aufgehen muss, wenn wir die alten Texte hören.

Wir sind aber auch die, denen diese alten Texte Mut machen können. Jesus blieb und bleibt ja nicht alleine. Auf unseren Predigttext folgt die Erzählung von der Berufung der Jünger. Und danach be­rich­tet Matthäus von einer Berufung, die bis zu uns hin gesprochen ist: Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. (Mt. 5,14) 

Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich von so viel Verantwortung auch sehr überfordert fühle.
Aber dafür treffen wir uns ja sonntags hier und versammeln uns gemeinsam unter dem Wort, um einander in der Gemeinschaft Mut zu machen.
Und dafür vertrauen wir dem Glauben unserer Vorfahren, in deren Worten wir gesungen haben: 

Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß;
Mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis.
Wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide,
Rettet von Sünd und Tod.

AMEN


Dr. Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin, Nürnberg