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19. Sonntag nach Trinitatis: Markus 2,1-12 – Die Heilung eines Gichtbrüchigen
von Johannes Calvin
1 Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es ward kund, daß er im Hause war. 2 Und es versammelten sich viele, so daß sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er predigte ihnen das Wort. 3 Und es kamen etliche zu ihm, die brachten einen Gichtbrüchigen von vieren getragen. 4 Und da sie ihn nicht konnten zu ihm bringen vor dem Volk, deckten sie das Dach auf, da er war, und machten eine Öffnung und ließen das Bett hernieder, darin der Gichtbrüchige lag. 5 Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 6 Es waren aber etliche Schriftgelehrte, die saßen allda und dachten in ihrem Herzen: 7 Wie redet dieser so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben denn allein Gott? 8 Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, daß sie so bei sich dachten, und sprach zu ihnen; Was denkt ihr solches in euerem Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gichtbrüchigen zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf, nimm dein Bett und wandle? 10 Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Vollmacht hat, zu vergeben die Sünden auf Erden – sprach er zu dem Gichtbrüchigen: 11 Ich sage dir: stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim! 12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor allen, so daß sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.
Matth. 9, 1. „Er kam in seine Stadt.“ Diese Stelle zeigt, daß die Stadt Kapernaum allgemein als Heimatort Christi galt, weil er sie sehr oft besuchte. Denn es ist in keiner Weise zweifelhaft, daß die drei (Evangelisten) dieselbe Geschichte erzählen, obgleich sie in der Schilderung der Umstände unterschiedlich genau sind. Lukas sagt, es seien Schriftgelehrte aus den verschiedenen Teilen Judäas gekommen, vor deren Augen Christus den Gichtbrüchigen heilte; doch unterlegt er, die Gnade Christi habe auch anderen die Gesundheit wiedergeschenkt. Denn bevor er die Geschichte von dem Gichtbrüchigen erzählt, spricht er in der Mehrzahl von solchen, denen dort die Kraft Gottes zugänglich war, so daß sie von ihren Krankheiten geheilt wurden. Die Herrlichkeit dieses Wunders war schon ungewöhnlich, daß ein an allen Gliedern gelähmter Mensch, der auf seinem Bett lag und mit Stricken heruntergelassen wurde, plötzlich gesund und beweglich aufstand. Doch ist es ein anderer, besonderer Grund, warum die Evangelisten auf dieses Wunder größeren Wert legen als auf andere: die Schriftgelehrten fanden es empörend, daß Christus sich das Recht und die Vollmacht herausnahm, Sünden zu vergeben; Jesus dagegen wollte eben seine (Vollmacht) mit einem sichtbaren Zeichen bestätigen und versiegeln.
Matth. 9, 2. „Da nun Jesus ihren Glauben sah.“ Zwar weiß Gott allein um den Glauben, aber diese Männer gaben in jenem mühevollen Unterfangen eine Probe ihres Glaubens. Sie hätten sich niemals solcher Mühsal unterzogen und mit so vielen Widerwärtigkeiten gekämpft, wenn sie nicht von dem gewissen Vertrauen auf Erfolg beseelt gewesen wären. So zeigte sich die Frucht ihres Glaubens darin, daß sie sich trotz des von allen Seiten versperrten Zugangs nicht entmutigen ließen. Denn daß einige (Ausleger) meinen, Christus habe auf Grund göttlicher Eingebung um ihren Glauben gewußt, der in ihrem Innern verborgen war, scheint mir gezwungen. Da nun Christus den Glauben jener (Männer) anerkennt und darauf dem Gichtbrüchigen die Wohltat gewährt, pflegt man an dieser Stelle zu fragen, inwiefern fremder Glaube (anderen) Menschen nütze. Einmal ist sicher, daß der Glaube Abrahams seinen Nachkommen genützt hat, als er den freien Bund des Heils, der ihm und seinem Samen dargeboten wurde, annahm. Genauso darf man bei jedem Gläubigen denken, daß er durch seinen Glauben die Gnade Gottes auf Kinder und Enkel fortpflanzt, schon ehe sie geboren werden. Das ist für die kleinen Kinder wichtig, die in ihrem Alter noch nicht zum Glauben fähig sind. Den Erwachsenen dagegen, denen eigener Glaube fehlt (ganz gleich, ob es Außenstehende oder Verwandte sind), hilft fremder Glaube, was das ewige Heil der Seele betrifft, nur mittelbar. Denn insofern unsere Gebete nicht nutzlos sind, in denen wir Gott bitten, er möchte die Ungläubigen zur Buße bringen, zeigt sich hier, daß ihnen unser Glaube nützt; dennoch gelangen sie nicht zum Heil, bevor sie nicht selbst Gemeinschaft an ebendiesem Glauben erlangt haben. Wo aber eine gegenseitige Gemeinschaft des Glaubens besteht, ist nur zu bekannt, daß einer dem andern gegenseitig (auf dem Weg) zum Heil hilft. Auch das ist unbestreitbar, daß oft Ungläubige um der Frommen willen mit irdischen Wohltaten beschenkt werden. Was die vorliegende Geschichte angeht, konnte der Gichtbrüchige, obwohl Christus durch den Glauben der anderen bewegt worden sein soll, doch nicht die Vergebung der Sünden erlangen, wenn er nicht selbst glaubte. Christus hatte oft Unwürdigen die Gesundheit des Leibes wiedergeschenkt, so wie Gott täglich seine Sonne über Gute und Böse aufgehen läßt; aber der Glaube ist die einzige Weise, wie er sich mit uns versöhnt. Darum ist das Wort ihren nicht auf die Träger des Gichtbrüchigen einzuschränken; denn Christus sah sie so an, daß er zugleich auch seinen Glauben mit im Blick hatte.
„Deine Sünden sind dir vergeben.“ Christus scheint hier dem Gichtbrüchigen etwas anderes zu versprechen, als was er suchte. Aber da er ihm die Gesundheit des Leibes schenken wollte, fängt er damit an, ihn von der Ursache der Krankheit zu befreien, und erinnert zugleich den Gichtbrüchigen daran, woher ihm jene Krankheit gekommen sei und worauf er seine Bitten zu richten habe. Denn die Menschen bedenken gewöhnlich nicht, daß die Beschwerden, denen sie sich unterziehen müssen, Züchtigungen Gottes sind. Sie wünschen nur jegliche Linderung am Fleisch herbei und sind indessen in bezug auf ihre Sünden sorglos, wie wenn ein Kranker seine Krankheit vergißt und nur ein Heilmittel für den gegenwärtigen Schmerz begehrt. Nun ist die einzige Befreiung von allen Übeln, daß Gott einem gnädig ist. Zwar geschieht es zuweilen, daß Gottlose sich von ihrem Unglück erholen, aber Gott bleibt ihnen trotzdem feindlich. Während sie sich befreit glauben, kehren entweder die gleichen (Übel) wieder, oder es tauchen noch mehr und schlimmere auf, die beweisen, daß es keine Linderung noch ein Ende gibt, bevor Gottes Zorn besänftigt ist. So bezeugt er selbst durch den Propheten Amos (5, 19): „Gleichwie wenn jemand vor dem Löwen flieht und ein Bär begegnet ihm; und er kommt in ein Haus und lehnt sich mit der Hand an die Wand, so sticht ihn eine Schlange!" So wird diese Art zu reden in der Schrift häufig und oft gebraucht, Vergebung der Sünden zu verheißen, wo einer Linderung der Strafe sucht. Uns kommt es zu, in unseren Gebeten auch diese Ordnung einzuhalten, daß wir, wenn wir Schmerzen verspüren, uns an unsere Sünden erinnern lassen und darum besorgt sind, zuerst einmal Vergebung zu erlangen, damit sich Gott mit uns versöhnt und seine strafende Hand abzieht.
Matth. 9, 3. „Und siehe, etliche unter den Schriftgelehrten.“ Sie beschuldigen Christus der Gotteslästerung und des Frevels, weil er sich etwas anmaßt, was Gott zusteht. Denn die andern beiden (Evangelisten) fügen hinzu: wer kann Sünden vergeben denn allein Gott? (Mark. 2, 7; Luk. 5, 21). Andererseits wurden sie ohne Zweifel durch die Lust, ihm entgegenzuarbeiten, zu diesem bösen Urteil getrieben. Wenn sie es für nötig hielten, ihn zu tadeln, warum suchten sie dann nicht nach Beweisen? Christus behauptete nichts anderes, als was Propheten gewöhnlich sagen, die die Gnade Gottes bezeugen; warum mißverstehen sie seine Aussage in ihrer Doppeldeutigkeit, da sie sie auch wohlwollender hätten auslegen können? Es steht also fest, daß sie von vornherein von Übelwollen und Schmähsucht erfüllt waren, da sie so begierig die Antwort Christi aufgriffen, um ihn zu verurteilen. Auf der anderen Seite schweigen sie und denken darüber in ihren Herzen nach, um ihn dann in seiner Abwesenheit bei ihresgleichen durchzuhecheln. Es stimmt natürlich, daß Gott als einziger Recht und Macht hat, Sünden zu vergeben; aber sie irren in der Annahme, es stehe Christus nicht zu, wo er doch Gott ist, der sich im Fleisch geoffenbart hat. Sie hätten nachforschen sollen, mit welchem Recht Christus solche Vollmacht für sich in Anspruch nahm; nun sehen sie, ohne der Sache nachzugehen, in ihm fälschlich irgendeinen Menschen aus der Menge und lassen sich dazu hinreißen, ihn blindlings zu verdammen.
Matth. 9, 4. „Da aber Jesus ihre Gedanken merkte.“ Schon dadurch gibt er einen Beweis seiner Gottheit, daß er ihre verborgenen Gedanken ans Licht zieht. „Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als allein der Geist des Menschen, der in ihm ist?" (1. Kor. 2, 11). Darum fügt Markus hinzu, er habe es in seinem Geist erkannt, als ob er sagen wollte: als Mensch konnte Christus nicht erkennen, was in den Herzen verborgen war, aber mit seinem göttlichen Geist drang er bis dahin durch. Er nennt ihre Gedanken böse, nicht weil es sie ärgerte, daß auf einen sterblichen Menschen übertragen wird, was Gott für sich allein in Anspruch nimmt, sondern weil sie Gott, der sich ihnen offen darbot, stolz und böswillig abwiesen.
Matth. 9, 5. „Was ist leichter.“ Das bedeutet: Da es kein bißchen leichter ist, einen erstorbenen Körper mit einem Wort zu beleben als Sünden zu vergeben, darf es nicht seltsam erscheinen, daß er Sünden vergibt, sobald er jenes andere vollbracht hat. Doch scheint Christus nicht ganz schlüssig zu folgern, denn die Seele ist wichtiger als der Leib, und entsprechend geht die Vergebung der Sünden der körperlichen Gesundheit vor. Doch die Lösung ist einfach, denn Christus paßt seine Redeweise ihrem Verständnis an; sie waren nun einmal richtige Menschen und ließen sich durch die äußeren Zeichen mehr beeindrucken als durch die ganze geistliche Macht Christi, die zum ewigen Leben führte. So bestätigt er (Joh. 5, 28), die Wirksamkeit des Evangeliums, die Menschen lebendig zu machen, läge darin, daß er am Jüngsten Tag mit seiner Stimme die Toten aus den Gräbern rufen wird. Darum genügt diese Frage völlig, um ihnen unrecht zu geben, denen nichts wichtiger war als ein sichtbares Wunder; sie konnten nun nicht mehr bestreiten, daß er dem Gichtbrüchigen zu Recht die Sünden vergeben habe, da er ihm Kraft und Gesundheit wiederschenkte, denn die Vergebung der Sünden wurde offenkundig an dieser Wirkung.
Matth. 9, 6. „Daß des Menschen Sohn Vollmacht hat, auf Erden die Sünden zu vergeben.“ Diese Vollmacht ist eine ganz andere als die, die den Aposteln übertragen wurde und die heute die Hirten der Gemeinde ausüben. Denn diese vergeben nicht so sehr selbst, als daß sie bezeugen, daß (die Sünden) vergeben sind, und dabei die ihnen aufgetragene Botschaft verkündigen.
Mit diesen Worten jedoch erklärt sich Christus nicht allein für einen Diener und Bezeuger dieser Gnade, sondern auch als ihren Urheber. Aber was meint er mit der Einschränkung „auf Erden“? Denn was wird es uns helfen, wenn wir hier Vergebung erlangt haben, die im Himmel nicht angerechnet wird? Christus wollte sagen: die Vergebung der Sünden ist nicht in der Ferne zu suchen, sondern sie ist in seiner Person für die (Menschen wie mit Händen zu greifen. Denn da wir immer zu Mißtrauen neigen, wagen wir nur dann, fest zu glauben, daß Gott barmherzig gegen uns ist, wenn er uns nahekommt und wie ein Vater mit uns spricht. Da Christus dazu auf die Erde herabstieg, um den Menschen die gegenwärtige Gnade Gottes anzubieten, heißt es, daß er persönlich die Sünden vergebe, weil in ihm und durch ihn Gottes Wille zugänglich wird, der für das Empfinden des Fleisches vorher hinter den Wolken verborgen war.
Matth. 9, 8. „Da das Volk das sah, verwunderte es sich.“ Für die Verwunderung, die Matthäus erwähnt, setzen die beiden anderen Entsetzen; Lukas fügt noch Furcht hinzu. Alle (drei) jedoch wollen zeigen, daß die Macht Gottes nicht einfach nur zur Kenntnis genommen wurde; nein, alle waren erschüttert vor Bewunderung und genötigt, Gott die Ehre zu geben. Die Furcht aber, die der Bewunderung folgt, brachte sie dahin, Christus nicht mehr zu widersprechen, sondern sich ihm ehrerbietig zu fügen als einem Propheten Gottes. Matthäus sagt ausdrücklich, sie hätten Gott gepriesen, der den Menschen solche Macht gegeben hatte. Darin scheinen sie sich einigermaßen getäuscht zu haben. Denn wenn sie auch mit den Augen einen Menschen wahrnahmen, so hätten sie innerlich doch etwas Höheres als einen Menschen in ihm erkennen müssen. Natürlich ist es richtig, wenn sie es preisen, daß die Menschen in Christus zum Wohl des menschlichen Geschlechts so hoch geehrt wurden, aber weil sie noch nicht verstehen, daß Gott sich im Fleisch geoffenbart hat, ist ihr Bekenntnis von allerhand Irrtum durchsetzt. Kurz, es war richtig, daß Gott den Menschen solche Macht gegeben hat; aber sie begriffen die Art und Weise des Gebens noch nicht, weil sie die mit dem Fleisch verbundene Majestät Gottes nicht erkannt hatten.
Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Zwölfter Band: Die Evangelien-Harmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag, 1966, S. 258ff.