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Unterwegs nach Emmaus
Predigt zu zu Lk 24,13-35
Liebe Gemeinde,
Emmaus – was für ein geheimnisvoller Ort. Emmaus – dieser Name hat Klang – mysteriösen Klang. Warum ist das so? An dem phonetischen Umstand allein, dass der Name viele stimmhafte Laute beinhaltet, die unsere Stimmbänder in Schwingung bringen, dürfte es wohl kaum liegen. Bis heute gibt der Ort Rätsel auf. Man hat versucht, sein Geheimnis archäologisch und geographisch zu lüften, indem man einen historischen Ort mit dem Namen Emmaus suchte, der – wie Lukas in unserem Predigttext verrät – 60 Stadien, das sind ca. 11 km, von Jerusalem entfernt liegt. Außer einer Reihe von mehr oder weniger sicheren oder unsicheren Hypothesen, hat dieser Versuch freilich nichts ergeben.1 Auf diesem Weg lässt sich das Geheimnis wohl nicht lüften.
Wir wollen heute Morgen auf einem anderen Weg versuchen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wir wenden uns dem Text zu, der das Geheimnis umschreibt, unserem Predigttext. Einen allerersten Hinweis bietet das Wort „Emmaus“ gewissermaßen selbst, der direkt im ersten Vers unseres Textes genannt wird (vgl. Lk 24,13). Der Wortherkunft nach ist der Name „Emmaus“ wohl vom hebräischen Verb המם (hamam) abgeleitet, was soviel wie; „warm werden“ bedeutet. Emmaus hat offensichtlich etwas mit warmen Quellen zu tun. Wir Menschen mögen „warme Quellen“. Wir sind von den Geysiren auf Island fasziniert und fühlen uns gleichsam magisch hingezogen zu den Thermalquellen, die auf wundersame Weise so viel wärmer sind als das umgebende Grundwasser. Oder denken wir nur an das Schwimmbad: Einen besseren Ort des Entspannens als das Thermalbecken können wir uns kaum vorstellen. Dort geht es uns gut. Dort können wir die Seele baumeln, alles Unliebsame von uns abfallen lassen. Die Flucht aus dem Alltag, aus der Anspannung und dem Stress kennt wohl keinen verheißungsvolleren Ort.
Ähnlich mag es auch den beiden Jüngern ergangen sein, von denen unser Predigttext erzählt. Sie waren regelrecht auf der Flucht: Nur weg von Jerusalem, dem Ort der Niederlage, nur weg von Golgatha, dem unrühmlichen Ende ihrer Hoffnungen! Dort ist ihnen der Boden zu heiß geworden, so dass sie angenehmere Wärme, die milde Kühle des Dorfes in der Provinz benötigen. Dort möchten sie ein- und untertauchen – nicht in Jerusalem. „Denn in Jerusalem residieren Pilatus und Kaiphas, die Träger der wirklichen Macht auf Erden! In Jerusalem treiben die Schinder und Henker ihr blutiges Werk, und Jesus Christus ist ihr Opfer geworden. In Jerusalem sind die Polizeipatrouillen unterwegs, es laufen die Spitzel und Denunzianten herum. In Jerusalem ist es für die Jünger jetzt wirklich lebensgefährlich, sich zu ihm zu bekennen, der als Staatsfeind, Aufrührer, Rebell, Schwindler und Hochstapler eben öffentlich an den Galgen [oder genauer: an das Kreuz; M.H.] gebracht worden ist.“2 So fliehen die beiden Jünger, von denen der eine Kleopas heißt, nach Emmaus und zwar als gescheiterte Leute, die einem gescheiterten Messias hinterher gelaufen sind. Scheitern auf der ganzen Linie - das ist bitter! Dementsprechend mutlos und verzweifelt sind die beiden Jünger, nachdem sich ihre Hoffnungen auf so furchtbare Weise zerschlagen haben.
Die beiden Jünger sind so mutlos, dass sie den Fremden, der ihnen plötzlich begegnet und mit ihnen geht, gar nicht erkennen. Daran ändert auch der Umstand des entfalteten theologischen Gesprächs nichts, das nun folgt. In ihm legt der unbekannte Begleiter den beiden Jüngern im Gespräch die Schrift aus und erklärt ihnen, dass die Leiden des Messias, derer die beiden Jüngern in Jerusalem gewahr werden mussten, gemäß den Verheißungen der Propheten notwendig waren: „Musste etwa nicht der Christus leiden und in seine Herrlichkeit eingehen“ (Lk 24,26)? Ihren ganzen Frust und ihre enttäuschte Hoffnung hatten die Jünger zuvor zum Ausdruck gebracht: „Wir aber hofften, dass er der sei, der Israel erlösen würde“ (Lk 24,21). Angesichts des dritten Tages aber nach Jesu Tod scheint sich diese Hoffnung in Luft aufgelöst zu haben.
Es ist interessant zu erfahren, was genau die beiden Jünger von Jesus erwartet haben,3 was also den Grund ihrer Enttäuschung ausmacht. Das Verb, das in unserem Text für „erlösen“ gebraucht wird, taucht im Lukasevangelium kurz zuvor bereits auf und umschreibt dort das, was sich ereignen wird, wenn „der Menschensohn in einer Wolke mit Kraft und viel Herrlichkeit“ kommt (Lk 21,27f.). Die konkrete Erwartung war die Befreiung Israels von der römischen Besatzung. Das war für die Jünger die Königserwartung und diese Erwartung wurde enttäuscht. Er ist also wohlgemerkt in der Emmaus-Geschichte nicht Jesus selbst, der enttäuscht, sondern die falsche Erwartung an ihn. Insofern ist die Emmaus-Geschichte eine „Geschichte der Ent-täuschung.“4
Wie oft ist dies auch die Ursache unserer Enttäuschung über Jesus! Wir projizieren unsere Wünsche in Jesus hinein und sind dann enttäuscht von ihm, ohne zu merken, dass nicht er uns, sondern wir uns selbst mit unseren Wünschen und Missverständnissen betrogen haben.
Das Missverständnis der beiden Jünger wird in unserem Predigttext von Jesus geklärt. Er dekonstruiert, wie man heute so schön sagt.5 Er ent-täuscht in einem ganz wörtlichen Sinne: Er eliminiert die Täuschung, die falsche Vorstellung von ihm: „Jesus ist nicht der Erlöser seines Volkes in dem Sinn, dass er ein militärischer Herrscher ist, sondern indem er Gott ist, der sich seinem Volk neu und ganz anders zuwendet als dieses es erwartet. Im Text korrigiert der auferstandene Jesus die falschen Erwartungen, indem er die Heiligen Schriften des Judentums auf sich selbst hin auslegt. Über dieses Gespräch gelangen die drei an ihr Ziel: Emmaus. Jesus macht den Anschein, seinen Weg fortsetzen zu wollen, wird aber von den beiden Jüngern gedrängt, mit ihnen den Abend zu verbringen [Lk 24,29: ‚Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.‘] Die beiden scheinen von seiner Schriftauslegung beeindruckt. Beim gemeinsamen Mahl übernimmt der Gast Jesus die Rolle des Gastgebers, spricht den Tischsegen und teilt das Brot. Beim Brotbrechen erkennen die Jünger plötzlich in ihrem Gast Jesus.“6 Im Predigttext heißt es: „Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete“ (Lk 24,31f.).
Das Motiv des brennenden Herzen kennen wir aus mehr oder weniger schönen Liebesliedern:
„Mein Herz es brennt, wenn ich Dich seh
auch wenn ich heut durch die Hölle geh
Mein Herz es brennt so lichterloh
Will nur tanzen und Dich sowieso
Mein Herz es brennt, wenn ich Dich seh
Ich red mir ein dass ich nicht auf Dich steh
Mein Herz es brennt total verliebt
Ist schon klar dass es kein morgen gibt.“7
Eines ist daran auch im theologischen Sinne durchaus treffend und richtig. Es geht beim brennenden Herz um die Liebe. Auch der Glaube hat mit „Liebe“ zu tun. Der Siegerländer sagt, wenn er plötzlich verliebt ist: „Ich war hin und weg“ Und genau so ist das mit dem Glauben: Wer zu glauben beginnt, der ist hin – nämlich hingerissen zu Gott – und weg – nämlich weg von sich selbst, freilich um sich dann selbst bei Gott wieder in neuer Weise zu finden und um zu seinem eigentlichen „Selbst“ zu gelangen.8 Wenn unser Herz also für Jesus brennt, dann sind wir hin und weg. kardia … kaiomenē ist übrigens im Griechischen eine passive Wendung. Wörtlich ist vom Herz die Rede, das entzündet wird: „Wurde nicht unser Herz in uns entzündet“, so heißt es wörtlich bei Lukas. Dieses und kein anderes Herz, nämlich das von Gott in Begegnung mit Christus entzündete Herz ist das Herz, das den Theologen ausmacht (pectus facit theologum), wie im Pietismus und in der Erweckungsbewegung – auch im Siegerland – so gerne betont wurde.9
Doch zurück zu unserer Ausgangsfrage: Was macht diese Geschichte so besonders, was macht ihr Geheimnis aus? So hatten wir am Anfang gefragt. Und die Antwort dürfte nun etwas klarer sein: Geheimnisvoll ist sie wegen des geheimnisvollen Fremden, den die Jünger zunächst nicht erkennen. Geheimnisvoll wird sie zweifellos auch durch die Erzählweise des Lukas, durch den Spannungsbogen, den er aufbaut, wenn er diese „Weggeschichte“ der „doppelten Ent-täuschung“10 erzählt: Wann werden die Jünger Jesus erkennen? Wann fallen ihnen die Schuppen von den Augen? So fragt man sich als Leser im laufenden Gang der Erzählung. Doch der Weg nach Emmaus zieht sich und zieht sich. Und durch dieses Verzögerungsmoment wird Spannung aufgebaut, die sich erst entlädt, als das Geheimnis des fremden Weggefährten am Ende gelüftet wird.
Geheimnisvoll ist die Geschichte freilich noch in einer anderen Hinsicht. Sie enthält nämlich auch eine geheime Botschaft an uns selbst als Leser. Wir selber werden „in diesen beiden Männern von Emmaus abgebildet“.11 Diese Geschichte ist unsere Geschichte! Der Weg nach Emmaus ist unser Weg. Unsere Kirche ist Kirche auf dem Weg nach Emmaus – unsere Theologie ist Theologie auf dem Weg nach Emmaus.12 Das also ist das Geheimnis: „Wir sind die Emmaus-Jünger. Wir sind die Fliehenden. Wir sind die Enttäuschten. Wir sind die Ungläubigen. Der Auferstandene ist bei den Fliehenden, bei den Enttäuschten, bei den Ungläubigen. Wo aus diesen Enttäuschten, Fliehenden, Ungläubigen wieder Gemeinschaft entsteht, ist Kirche. Wo aus diesen Enttäuschten, Fliehenden, Ungläubigen wieder Gemeinschaft entsteht“13, weil Christus präsent ist, da ist Kirche: Ubi Christus, ibi ecclesia – wo Christus ist, dort ist die Kirche. Als solche ist die Kirche die Weggemeinschaft der Fliehenden, die Erzählgemeinschaft der Enttäuschten und die Gesprächsgemeinschaft der Ungläubigen.
Und weil selbst der Unglaube der Emmaus-Jünger Jesus nicht davon abhält, ihnen zu begegnen, ja, sie auf ihrem Weg nach Emmaus zu finden, habe ich die Hoffnung, dass auch der Nichtglaubende in Zeit und Ewigkeit nirgendwo anders „da ist, als da, wo Gott ihn finden wird.“14 In diesem Zusammenhang noch eine kleine, aber nicht unbedeutende Beobachtung am Text: Auffällig ist der außerordentliche Respekt, den Jesus den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erweist, indem er sich ihnen nicht etwa aufdrängt, eben nicht direkt mit der Tür ins Haus fällt und sich nicht überrumpelnd als der Auferstandene zu erkennen gibt, obwohl die beiden enttäuschten Jünger ihn erkennbar nötig hatten. Hier zeigt sich die Geduld Gottes mit uns Menschen. Hier zeigt sich ein Warten, das ausharrt, bis der andere so weit ist. Jesus nimmt sich Zeit, die Emmaus-Jünger zu ent-täuschen, d.h. die Täuschung ihrer irrigen Messias-Vorstellung auszuräumen. Jesus vergewaltigt nicht, sondern er überwältigt sanft, indem er überzeugt.15
Das Geheimnisvolle dieser Geschichte besteht in dem tiefen, seelsorglichen Trost, den diese Geschichte uns schenkt: Dass die Erfahrung der beiden Emmausjünger auf so geheimnisvolle Weise eben auch unsere Erfahrung ist. Auch in den dunkelsten Stunden unseres Lebens, wo uns die Augen gehalten werden von Schmerz, von Verzweiflung, von völliger Mutlosigkeit, auch da sind wir nicht allein. Der, mit dem wir nicht rechnen, der, den wir längst abgeschrieben und weggeworfen haben, der, den wir nicht erkennen können, der uns fremd und kalt geworden ist, der ist längst auf dem Plan. Er ist längst bei uns. Und er geht mit uns – mitten hindurch durch die „tausend Wüsten, stumm und kalt“16, mitten hindurch durch die Nacht der Verzweiflung: „Wenn ich auch gleich nichts fühle / von deiner Macht, / du führst mich doch zum Ziele / auch durch die Nacht.“17 Der Gerbermeister Tillmann Siebel, Vater der Siegerländer Erweckungsbewegung, schreibt in einem Brief an seinen Freund Klappert, Bürgermeister in Fickenhütten (Weidenau), über die „dunklen Stunden von schweren Zweifeln“18, die er aus eigener Erfahrung kennt: „[F]liehen [Sie] nur gleich im Geiste nach Golgatha und legen sich im stillen Herzenskämmerlein zu den Füßen unseres gekreuzigten Heilandes; und sollten Sie nicht zu ihm beten können, dann seufzen Sie und blicken ihn nur harrend an, lassen dann getrosten Mutes alle Wetter der Versuchung über sich gehen (ich weiß es): Das Licht wird Ihnen wieder aufgehen, und die Sonne der Gerechtigkeit wird wieder über Ihnen scheinen und siebenmal heller leuchten wie zuvor.“19
Liebe Gemeinde, gestatten Sie mir noch ein Nachwort:20 Es mag heute Morgen unter uns vielleicht jemanden geben, der sagt: Ja, so ein Emmaus-Erlebnis, das wünsche ich mir auch schon seit langem. Aber, Jesus ist mir noch nie begegnet. Ich möchte ihm auch begegnen und ihn bitten dürfen: „Bleibe bei mir Herr, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ Für mich muss es nicht die direkte Begegnung mit dem Auferstandenen sein wie damals bei den Emmaus-Jüngern, aber ein kleines Zeichen seiner Präsenz, einen winzigen Anhalt, dass er, Jesus, da ist und ich nicht allein bin, den wünsche ich mir – dringlicher als alles andere.
Wer jetzt so denkt, dem sei ein Hinweis gegeben und ein Rat. Der Hinweis steckt in der Geschichte selbst. Die Jünger erkennen den Auferstandenen daran, wie er mit ihnen das Brot bricht. Im Brechen des Brotes vollzieht sich bei den Jüngern das Erkennen des Auferstandenen. Die Emmaus-Geschichte wirft ein ganz neues Licht auf die Abendmahlgemeinschaft. Hier ist Jesus anwesend. Auch wenn wir Abendmahl feiern, ist er da und auch wir dürfen mit allen Sinnen dabei sein. Im Heidelberger Katechismus heißt es in Frage 79, dass Christus „uns durch dieses sichtbare Zeichen und Pfand versichern [will], dass wir so gewiss und wahrhaftig durch seinen Heiligen Geist an einem Leib und Blut Anteil bekommen, wie wir diese heiligen Wahrzeichen mit dem leiblichen Mund zu seinem Gedächtnis empfangen.“ Sichtbare Zeichen – mit leiblichem Mund empfangen; ein Pfand, das uns Gewissheit schenkt. So wird Christus unter uns präsent, so dürfen wir ihn erfahren. So zeigt er sich uns. So schenkt er uns Begegnung mit ihm. Der auferstandene Jesus ist ja nicht nur der Fremde, nein, er ist auch der Gastgeber, der uns einlädt:21 „Nimm hin und iss“. „Schmeck und sieh, wie freundlich der Herr ist“ (vgl. Ps 34,9).
Daher noch ein Rat: Hab noch etwas Geduld. Wenn Jesus Geduld mit uns hat, warum sollten wir nicht auch Geduld mit ihm haben? Wenn er sich Zeit nimmt, uns zu überzeugen, ohne mit der Brechstange zu kommen, warum sollten wir uns nicht auch Zeit nehmen, darauf zu warten, dass er uns begegnet und zwar so, dass wir als Geschenk dieser Begegnung Glauben finden? Und, wer weiß, vielleicht verhält es sich ja so, dass Du längst auf dem Weg nach Emmaus bist und dass er, der unbekannte Begleiter, längst an Deiner Seite ist und mit Dir geht, so dass Du nicht allein zu sein brauchst – im Leben nicht und im Streben auch nicht.
Und wir wollen füreinander, für Dich und für uns alle, Gott darum bitten, dass er bei uns einkehrt und bei uns bleibt, so dass wir dem lebendigen Jesus begegnen können und in uns das Herz entzündet wird, damit ein jeder von uns es den Emmaus-Jüngern gleichtun und nach Jerusalem zurückkehren kann, um dort zu bekennen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden“ (Lk 24,34).
Amen
Marco Hofheinz