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21. Sonntag nach Trinitatis / Allerheiligen: Matthäus 5,38-48 - Vom Vergelten
von Johannes Calvin
Matthäus 5,38-41
38 Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ 39 Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biet die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit der rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.
Matth. 5, 38. „Auge um Auge...“ Hier wird ein anderer Irrtum zurechtgestellt. Wohl hatte Gott den Richtern und der Behörde in seinem Gesetz befohlen, Vergehen mit gerechter Strafe zu ahnden, doch maßte sich unter diesem Vorwand jeder die Rache selbst an. So glaubten sie nicht zu sündigen, wenn sie die Oberen gar nicht erst bemühten, sondern Gleiches mit Gleichem vergalten. Dagegen stellt sich Christus mit seiner Ermahnung: Zwar ist den Richtern die allgemeine Rechtfertigung anvertraut, und sie sind dazu bestimmt, die Bösen im Zaum zu halten und ihren Einfluß zu dämmen, doch soll ein jeder erlittenes Unrecht geduldig ertragen.
Matth. 5, 39. „...Daß du nicht widerstreben sollst dem Übel.“ Es gibt zwei Arten zu widerstehen: mit der einen halten wir uns das Unrecht fern, ohne selbst schuldig zu werden, mit der andern wollen wir Vergeltung üben. Obgleich Christus den Seinen nicht erlaubt, Gewalt mit Gewalt zu erwidern, so verbietet er doch nicht, sich unrechtmäßiger Gewalttätigkeit zu entziehen. Diese Stelle kann uns Paulus am besten auslegen, wenn er befiehlt, lieber das Böse mit Gutem zu überwinden, als sich mit Feindseligkeiten zu wappnen (Röm. 12, 21). Man muß den Gegensatz zwischen Fehler und Richtigstellung beachten. Hier handelt es sich um die Vergeltung: ihre Anwendung will er seinen Jüngern fernhalten; darum verbietet er, Böses mit Bösem zu vergelten. Er dehnt das Gebot zur Geduld weiter aus, daß wir nicht nur schweigend erfahrenes Unrecht tragen, sondern darüber hinaus bereit sind, noch mehr zu erdulden. Überhaupt will die ganze Ermahnung, daß die Gläubigen vergessen lernen, was man ihnen Böses angetan hat, daß sie sich nicht wegen einer Kränkung zu Haß und Mißgunst hinreißen lassen oder zu dem Wunsch, umgekehrt Schaden zu stiften; vielmehr sollen sie sich auf noch geduldigeres Ausharren einrichten, wenn die Unverschämtheit und Gier der Bösen wächst und immer erbitterter wird.
„Wenn dir jemand einen Streich gibt...“ Julian und ähnliche Leute bekritteln die Lehre Christi auf geschmacklose Art, als ob er Gesetz und Gerechtigkeit von Grund aus umkehren wolle. Denn wie Augustin geschickt und kundig ausführt (ep. 5), wollte Christus die Gläubigen zu Mäßigung und Billigkeit anleiten, damit sie nicht bei ein paar Beleidigungen gleich den Mut sinken ließen oder verzagten. Und es stimmt, was Augustin sagt: hier wird kein Gesetz für äußere Werke gegeben, man muß es nur richtig auffassen. Ich gestehe zu, Christus hält unsere Hände wie unsere Herzen von der Rache zurück. Aber wo jemand sich und das Seine ohne Rache vor Unrecht schützen kann, so hindern ihn die Worte Christi nicht daran, solange er friedlich und schuldlos einer andrängenden Gewalt ausweicht. Sicherlich will Christus die Seinen nicht auffordern, zur Bosheit derer noch beizutragen, deren Lust, Schaden zu stiften, gerade brennend genug ist. Gibt es ein stärkeres Reizmittel, als die andere Backe noch hinzuhalten? Es ist eines rechten und vernünftigen Auslegers nicht würdig, nach Silben zu haschen, sondern er muß auf den achten, der den Ratschlag erteilt. Und Christi Jüngern ziemt nichts weniger, als mit Wortneckereien zu spielen, wo doch klar ist, was der Meister will. Es ist nicht im geringsten verborgen, worauf Christus abzielt; denn das Ende eines Streites würde der Beginn eines neuen sein, und so müßten sich die Gläubigen ihr ganzes Leben lang einer fortlaufenden Kette von Ungerechtigkeiten unterziehen. Deshalb will er sie, sobald sie einmal verletzt sind, mit dieser Lehre zum Ausharren anweisen, daß sie durch Leiden Geduld lernen.
Matth. 5, 40. „Wenn jemand mit dir rechten will...“ Christus berührt eine andere Art Schaden, daß uns nämlich die Frechen mit ihren Prozessen verfolgen. Er befiehlt uns aber in dieser Sache, zur Geduld bereit zu sein, daß wir, wenn uns der Mantel genommen wird, auch bereitwillig den Rock hinterdrein geben. Es wäre albern, auf den Worten zu bestehen. Soll man lieber den Feinden geben, was sie fordern, als vor Gericht gehen, so würde solche Bereitschaft die Feinde erst recht zu Diebstahl und Raub anfeuern. Sicher war das nicht Christi Absicht. Was aber heißt dann, dem, der es wagt, den Mantel zu rauben, auch den Rock geben? Wenn jemand von einem ungerechten Urteil vernichtet wird, seine Habe verliert und dann noch bereit ist, nötigenfalls auch den Rest hinzuzugeben, verdient er nicht weniger Lob der Geduld als der, der sich zweimal die Kleider rauben läßt, ohne vor Gericht zu laufen. Das Ganze soll also heißen: Sobald jemand die Christen eines Teiles ihrer Güter zu berauben versucht, müssen sie zu vollständiger Ausplünderung bereit sein. Daraus folgt, daß wir andererseits die Richter nicht von einer Rechtfertigung abhalten sollen, wenn Gelegenheit dazu besteht. Denn obwohl wir in einem solchen Fall unser Vermögen nicht preisgeben, so weichen wir doch nicht von der Lehre Christi ab, nach der wir den Verlust unserer Güter geduldig ertragen sollen. Freilich kommt es selten vor, daß jemand gelassen und vorurteilslos den Gerichtssaal betritt, aber weil es möglich ist, daß einer im Eifer für das allgemeine Wohl eine gerechte Sache verficht, besteht kein Recht, die Sache selbst einfach zu verurteilen, solange er über eine aufgebrachte Gemütsverfassung Herr ist. Die verschiedenen Ausdrücke bei Matthäus und Lukas tragen den gleichen Sinn. Ein Rock pflegt mehr wert zu sein als ein Mantel; wenn Matthäus also sagt, man müsse dem Entwender des Mantels noch den Rock geben, so bedeutet das: wenn wir einen kleinen Schaden erlitten haben, sollen wir freiwillig auch einen größeren Verlust ertragen. Die Aussageform des Lukas kommt geradezu auf das alte Sprichwort hinaus: „Das Hemd ist dir näher als der Rock."
Luk. 6, 30. „Wer dich bittet...“ Die gleichen Worte stehen auch bei Matthaus, wie wir ein wenig später noch sehen werden; aus dem Zusammenhang wird deutlich, daß Lukas hier nicht von Bitten spricht, die dringend Hilfe verlangen, sondern von Prozessen, die unverschämte Leute androhen, um andere ihrer Güter zu berauben. „Wer dir das Deine nimmt“, sagt er, „von dem fordere es nicht wieder“. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand die beiden Satzhälften lieber getrennt liest: so wird es eine Ermunterung zu bereitwilligem Geben. Zweifellos aber ist die zweite Satzhälfte, in der Christus das unrechtmäßig Genommene zurückzufordern verbietet, die Auslegung des vorangegangenen Satzes, daß man den Verlust der Güter nicht verdrießlich auf sich nehmen soll. Aber es bleibt, was ich schon zu bedenken gab: die Worte dürfen nicht spitzfindig gepreßt werden, als ob es einem frommen Menschen nicht erlaubt wäre seine Habe zurückzugewinnen, wenn sich ihm durch göttliche Fügung ein rechtmäßiger Weg auftut Das Gebot will uns nur Geduld einschärfen, damit wir nicht verlorenen Gütern nachtrauern, sondern ruhig warten, bis Gott selbst von den Beutemachern Rechenschaft fordert.
42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem , der dir abborgen will.
Matth. 5, 42. „Gib dem, der dich bittet.“ Obgleich Christi Worte, wie sie Matthäus überliefert, so klingen, als ob er befehle, ohne Auswahl jedem zu geben, ermitteln wir doch aus Lukas einen anderen Sinn, da er die ganze Sache breiter ausführt. Zuerst einmal ist sicher, daß Christus die Absicht hatte, seine Jünger freigebig und nicht verschwenderisch zu machen. Und törichte Verschwendung wäre es, unüberlegt hinauszuschütten, was der Herr gab. Ferner sehen wir, welche Regel für die Wohltätigkeit der Geist an anderen Stellen vortragt. Wir wollen also soviel behalten, daß Christus als erstes seine -Jünger ermuntert, freigebig und wohltätig zu sein. Wieder gilt als Richtschnur, daß sie sich auf keinen Fall am Ziel glauben, wenn sie einigen wenigen geholfen haben, sondern mit Eifer sollen sie allen ihre Wohltätigkeit widmen und darin niemals ermüden, solange ihnen noch eine Möglichkeit zu Gebote steht. Damit nicht einer die Worte des Matthäus für einen Scherz hält, vergleichen wir den Bestand bei Lukas Christus hält alles, was immer wir Gott an Gehorsam darbringen, für unnütz, solange wir bei Verleihen oder anderen Dienstleistungen einen entsprechenden Lohn erwarten. So unterscheidet er die Liebe von der irdischen Freundschaft. Wohl lieben sich gottferne Menschen auch untereinander, aber nicht ohne Schielen auf Gewinn und mit einer gewissermaßen bestochenen Leidenschaft. So kommt es, daß jeder die Liebe, die er dem andern entgegenbringt, auf sich selbst zurückwendet, wie auch Platon weislich erwägt. Christus aber fordert von den Seinen eine uneigennützige Wohltätigkeit, daß sie eifrig den Mittellosen helfen, von denen man keine Gegenleistung erwarten kann. Jetzt verstehen wir, was es heißt, eine offene Hand für Bittende haben: nämlich freigebig allen zur Verfügung stehen, die unsere Hilfe brauchen und die den Freundschaftsdienst nicht ausgleichen können.
43 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ 44 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, 45 auf daß ihr Kibnder seid eures Vaters im Himmen, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Matth. 5, 43. „Du sollst deinen Nächsten lieben.“ Seltsam, daß die Schriftgelehrten auf den Unsinn verfielen, den Namen „Nächster“ nur auf ihnen Wohlwollende zu beschränken; obwohl Gott doch klar und deutlich das ganze Menschengeschlecht umfaßt, wenn er von unseren Nächsten spricht. Denn wenn jeder nur sich zugetan ist, sooft die persönlichen Interessen den einen vom andern trennen, wird die natürliche Gemeinschaft untereinander verlassen. Damit er uns in brüderlicher Liebesbeziehung zusammenschließe, bezeugt Gott, wer immer Mensch sei, sei auch Nächster, weil das gemeinsame Wesen uns untereinander verbindet. Sooft ich nämlich den Menschen betrachte, der ja mein Gebern und mein Fleisch ist, muß ich mich selbst wie im Spiegel anschauen. Obgleich in der Regel die meisten diese heilige Gemeinschaft verleugnen wird durch ihren Abfall die natürliche Ordnung doch nicht verletzt, weil Gott ah der große Verbindende zu betrachten ist. Daraus folgt, daß das Gebot der Nächstenliebe allgemein verbindlich ist. Die Schriftgelehrten aber schätzten diese Verbindung nach ihrem Belieben ein und wollten nur den als Nächsten anerkennen, der sich auf Grund seiner Leistungen der Freundschaft würdig erwies oder wenigstens seinerseits Freundespflicht erfüllte. Das entspricht nämlich der allgemeinen Ansicht. Darum haben sich die Kinder der Welt niemals geschämt, ihren Haß offen zu zeigen, sobald sie nur irgendeinen Grund auftreiben konnten. Die Liebe aber, wie sie uns Gott in seinem Gebot ans Herz legt, sieht nicht darauf, was einer verdient hätte, sondern gibt sich an Unwürdige, Schlechte und Undankbare hin. Diesen wahren und echten Sinn (des Gebotes) bringt Christus wieder ans Licht und befreit es von aller Rechtsverdrehung. Nun wird auch klar, was ich oben schon gesagt habe: Christus bringt nicht neue Gesetze, sondern weist die verschrobenen Einfälle der Schriftgelehrten zurecht, die die Reinheit des göttlichen Gesetzes verdorben hatten.
Matth. 5, 44. „Liebet eure Feinde.“ Dieser eine Satz enthalt in sich die ganze oben dargelegte Lehre: Denn wer seine Hasser liebend in sein Herz geschlossen hat, wird sich leicht jeder Rache enthalten, er wird das Übel geduldig ertragen und sich den Elenden, die Hilfe brauchen, um so mehr öffnen. Wieder zeigt Christus zusammenfassend, wie wir dieses Gebot erfüllen sollen: „Du sollst deinen Nächsten Heben wie dich selbst.“ Nur der kann jemals diesem Gebot nachkommen, der ganz seiner Eigenliebe aufsagt oder - besser - sich ganz verleugnet. Für einen solchen sind die Menschen nach Gottes Fugung so sehr Nächste, daß er sie noch liebt, wenn er von ihnen nur Haß empfangt. Auch lernen wir aus diesen Worten, daß die Gläubigen Rache gar nicht kennen sollten, die man von Gott nicht nur nicht erbitten darf, sondern die man auch abweisen und ganz aus den Gedanken tilgen muß, so daß man für die Feinde Fürbitte tut. Indessen hören die Gläubigen nicht auf, ihre Sache Gott anheimzustellen, bis er die Rache an den Bösen ergreift; sie wünschen nämlich, die Bösen nach Kräften auf den rechten Weg zurückzubringen, damit sie nicht zugrunde gehen; so sorgen sie für deren Heil. Dieser Trost lindert ihre Beschwerden, denn sie halten Gott ganz fest für den Rächer hartnäckiger Bosheit, da er doch erklärt hat, sich der Unschuldigen anzunehmen. Dies ist überaus schwierig und der natürlichen Auffassung des Fleisches völlig entgegengesetzt, weil sie nur das Gesetz kennt, Gutes mit Schlechtem zu erwidern. Aber unsere Fehler und unsere Schwachheit sind in keiner Weise Grund zur Entschuldigung, vielmehr ist einfach zu fragen, was das Gebot der Liebe fordert, daß wir, auf die himmlische Kraft des Geistes vertrauend, im Kampf überwinden, was immer an Gefühlen in uns widerstreitet. Mönche und ähnliche Zungendrescher nahmen freilich dies gerade zum Anlaß, auf die Idee zu kommen, es seien nicht Gebote, sondern Ratschläge Christi, die an der Kraft der Menschen bemessen, was diese Gott und dem Gesetz selbst schulden. Indessen schämten sich die Mönche nicht, sich für vollkommen zu halten, wenn sie sich über die zu befolgenden Ratschläge hinaus noch verpflichteten. Wie treu sie sich vorkamen und sich das bis zum Titel hin anmaßten, verzichte ich jetzt zu erzählen. Die Erfindung mit den Ratschlägen ist falsch und ungereimt, weil man nicht, ohne Christus Unrecht zu tun, behaupten kann, er habe seinen Jüngern nur geraten, nicht ernstlich befohlen, was recht ist. Daher ist es mehr als unverschämt, die Liebesdienste freiwillig zu nennen, wo das Gesetz sie doch gebietet. Drittens wird das Wort sagen, das hier soviel wie „erklären", „gebieten" bedeutet, in „raten" verdreht. Vollends bestätigt das folgende eindrücklich, was man notgedrungen einmal zeigen muß, daß sich (diese Erfindung) durch kein Unternehmen aus den Worten Christi ableiten läßt.
Matth. 5,45. „Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters ...“ Wenn er ausdrücklich erklärt, man könne nicht Gottes Kind sein, wenn man nicht seine Hasser liebe, wer wagt dann noch zu sagen, keine Verpflichtung zwinge uns, diesem Lehrsatz nachzukommen? Er wollte nämlich sagen, wer ein Christ genannt werden will, soll seine Feinde lieben. Das ist allerdings eine schauerliche Mär, daß die Welt drei oder vier Jahrhunderte lang in solch tiefe Finsternis gehüllt war, daß sie nicht die deutliche Mahnung erkannte, daß wer immer sich nicht darum kümmert, aus der Zahl der Kinder Gottes ausgestrichen wird. Man muß andererseits beachten, daß uns nicht ein Beispiel vorgelegt wird, Gott nachzuahmen - als ob sich für uns schickte, was er tut -, denn er schlägt die Undankbaren, und oft tilgt er die Frevelhaften aus der Welt. Das sollten wir auch nicht teilweise nachahmen, weil uns das Urteil über die Welt nicht zusteht. Das ist sein eigenes Gebiet, uns dagegen möchte er als Nachahmer seiner väterlichen Güte und Freundlichkeit sehen. Nicht nur heidnische Philosophen haben das erkannt, auch einige der leichtfertigsten Verächter der Frömmigkeit; bei ihnen findet sich das Bekenntnis, nirgends seien wir Gott ähnlicher, als wenn wir Gutes tun. Kurz, Christus bezeugt, dieses sei das Zeichen unserer Kindschaft, wenn wir auch Bösen und Unwürdigen uns freundlich erweisen. Nun darf man aber nicht meinen, unsere Mildtätigkeit mache uns schon zu Gottes Kindern, sondern weil eben der Geist, der Zeuge, Pfand und Siegel unserer unverdienten Kindschaft ist, die verderbten Gefühle des Fleisches, die der Liebe widerstreiten, zurechtweist, bestätigt Christus von der Wirkung her, nur solche seien Kinder Gottes, die denselben mit Sanftmut und Milde erwidern. Dafür hat Lukas: Ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein. Nicht, daß sich einer diese Ehre verschaffen oder es von sich aus unternehmen könnte, Gottes Sohn zu werden, weil er die Feinde liebte, sondern weil die Schrift gewöhnlich die unverdienten Wohltaten Gottes anstelle des Lohnes setzt und uns damit zum rechten Handeln ermuntern will. Sie bezieht sich dabei auf das Ziel, zu dem wir berufen sind: wir sollen das erneuerte Ebenbild Gottes in uns tragen und fromm und heilig leben.
„Er läßt seine Sonne aufgehen.“ Christus erinnert an zwei Zeugnisse der göttlichen Wohltat an uns, die nicht nur allen besonders vertraut sind, sondern an denen auch alle teilhaben. Der Besitz gemeinsamen Gutes soll uns ermuntern, uns untereinander wechselseitig verbindlich zu erweisen. Natürlich kann man mit dem Bild auch unzählige andere Beispiele erfassen.
Matth. 5, 46. „Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?“ Im gleichen Sinn schreibt Lukas Sünder; er meint leichtfertige und frevelhafte Menschen. Nicht die Beschäftigung an sich wird verurteilt - denn die Zöllner trieben die Steuern ein; Steuern aber darf die Obrigkeit mit Recht vom Volk verlangen -; aber dieser Menschenschlag war meist habsüchtig und raubgierig, sogar unredlich und grausam. Zudem galten sie bei den Juden als Diener der ungerechten Gewaltherrschaft. Wenn man nun von Christi Worten her die Zöllner für die allerverwerflichsten Menschen hält, führt man einen schlechten Beweis; denn Christus redet nur aus der herrschenden Meinung heraus. Er will sagen: Sogar Leute, die fast keine Menschlichkeit haben, üben doch eine gewisse Art gegenseitigen Rechtes untereinander, solange es ihnen zum Vorteil gereicht.
Matth. 5, 48. „Darum sollt ihr vollkommen sein.“ Diese „Vollkommenheit" meint nicht Gleichheit, sondern kann nur auf Ähnlichkeit gedeutet werden. Wie breit auch der Graben zwischen uns und Gott sein mag, so wird uns doch befohlen, vollkommen zu sein wie er, wenn wir nur nach eben dem Ziel streben, das er uns in seiner Person vorhält. Mag jemand eine andere Deutung vorziehen; doch geschieht hier kein Vergleich zwischen Gott und uns. Vollkommenheit Gottes heißt einmal: uneigennützige, lautere Gesinnung, die nicht durch Gewinnsucht beeinträchtigt wird, zum andern: unvergleichliche Güte, die mit der menschlichen Bosheit und Undankbarkeit im Streit liegt. Das geht besser aus den Worten des Lukas hervor: Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Denn Barmherzigkeit ist einem Diener um Lohn zuwider, der um seinen persönlichen Vorteil bemüht ist.
Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Zwölfter Band: Die Evangelien-Harmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag, 1966, S. 194ff.