Abgrund der Liebe
»Die Not um uns her stört uns doch, und aus der Tiefe unseres Wesens bricht immer wieder wie eine verschüttete Quelle das Bedürfnis hervor: ich möchte etwas tun, wenn ich kann, für die Brüder, die böser dran sind als ich, (...) und so wird offen und in der Stille viel getan. Und doch ist etwas Unheimliches an dieser Liebe, und nur kurzsichtige Menschen können sich mit alledem, und wenn noch zehnmal mehr geschähe, zufrieden geben. Denn wo geht eigentlich unsere Liebe auf den Grund? Wo ist die Liebe, die einmal nicht nur Wunden verbinden, sondern verhindern will, dass Wunden geschlagen werden? Wir unterstützen vielleicht gerne die oder jene ärmere Familie, aber wir haben uns noch nie die Mühe genommen, einmal auch nur gründlich nachzudenken darüber, woher eigentlich die kuriosen Gegensätze von Reichtum und Armut kommen. (...) Wir zahlen gerne unsere Beiträge an die verschiedenen Anstalten, besonders gerne darum, weil wir dann denken, die Pflicht loszusein, uns zu überlegen, warum es überhaupt solche Anstalten geben muss und ob sie nicht viel eher eine Schande als eine Ehre für ein Volk sind, so nützlich und notwendig sie sein mögen. Warum kommt unsere Liebe und Liebestätigkeit immer zu spät, immer erst dann, wenn eigentlich nicht mehr zu helfen, sondern nur noch zu flicken ist? Spielt nicht alle unsere Liebe, auch die eifrigste, immer nur die traurige Rolle der Sanität im Kriege?! Setzen wir nicht am Ende das wunderbare Wort: die Liebe höret nimmer auf! [1. Kor. 13, 8] darum auf die Grabsteine der Toten, weil unsere Liebe im Leben immer gerade da aufhört, wo sie anfangen sollte?« (Karl Barth, Predigt zu 1 Joh 3,15-18, in: Predigten 1916 (GA I.29), 304f)