Ankunft - noch nicht so ganz...

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 1. Kapitel


Tobias Kriener in Tel Aviv

Teenies toben im Niqab - Verkehrschaos als Symptom parteipolitischer Rivalitäten - auf dem Weg zur Tollwutimpfung: Blaumilchkanalzeiten

Tobias Kriener beginnt sein Tagebuch:

Ankunft – noch nicht so ganz ...

4.9.2016 – Morgen

Gestern früh pünktlich um 9:35 Uhr hob der Flieger von Turkish Airlines am Flughafen Köln/Bonn ab. In Istanbul dann vier Stunden Zeit, sich das Treiben auf dem Flughafen anzuschauen: Von den Teenies, die stolz ihr Bauchnabelpiercing spazieren führen, über die Teenies, die im Niqab durch den Flughafen toben (und bei denen unter dem Niqab dieselben bunten Sneakers rausschauen wie bei den bauchnabelfreien Teenies) bis zu den Mekkapilgern in ihrem weißen Pilgergewand. Mit leichter Verspätung ging's dann weiter nach Tel Aviv.

Angekommen am Flughafen verlief auch die Passkontrolle dank Dienstpass glatt und zügig. Die große Überraschung dann an der Bahnstation: Geschlossen wegen - ja, weswegen eigentlich? Keiner wusste es genau: Ein Streik, vielleicht? Ein neues Gesetz, das die Ultrareligiösen durchgesetzt haben (aber eigentlich war der Schabbat ja längst vorbei um zehn Uhr abends...)?

Kurz und gut: Es ging nicht weiter. Zum Glück war meine Freundin Daphna aus Tel Aviv gleich bereit, mich abzuholen und mir für die Nacht ein Bett zu richten.

Bei der Lektüre von Ha'aretz - der renommierten israelischen Tageszeitung – heute Morgen wurde dann klar, dass der Ausfall der Züge Ergebnis einer der vielen landesüblichen politischen Intrigen war. Die Karikatur des Ha'aretz-Karrikaturisten Biedermann bringt es auf den Punkt: Premierminister Benjamin Netanjahu schaut sich genüsslich das Verkehrschaos an („How I fucked that Katz...“), das er angerichtet hat, indem er Ausbesserungsarbeiten am gestrigen Schabbat verhinderte – angeblich unter dem Druck der religiösen Parteien in der Regierungskoalition – in Wirklichkeit aber, um seinem parteiinternen Rivalen, Verkehrsminister Jisrael Katz, eins auszuwischen.

Das hat natürlich Auswirkungen auf den Verkehr heute: Die Ausbesserungsarbeiten müssen jetzt nachgeholt werden; das heißt heute werden den ganzen Tag keine Züge fahren; und das heißt wiederum, die Busse und Straßen werden hoffnungslos überfüllt und verstopft sein, so dass ich noch keine Ahnung habe, wie und wann ich mit meinem vielen Gepäck in meinem Projekt Nes Ammim ankommen werde.

Ich gebe dann Bescheid!

Während ich diese Zeilen schreibe, hat Jossefi - Daphnas Mann - sich durchgesetzt: Er wird mich gleich mit dem Auto direkt nach Nes Ammim bringen! Wohl dem, der solche Freund_innen hat!

Mein 1. Tag

4.9.2016 – Abend

Heute musste ich viel Neues lernen – über das Projekt Nes Ammim, vor allem aber Namen, Namen, Namen der Volontäre. Und ich habe versucht, ein Fahrrad zu kaufen – doch der Fahrradhändler hatte heute – am Sonntag – geschlossen. Ungewöhnlich in Israel... Muss ihn morgen mal fragen, ob er vielleicht Christ ist?

Abends dann ein Vortrag von Sami über das muslimische Opferfest, mit dem die Wallfahrt nach Mekka beendet wird.

Und danach hatte ich die große Ehre, zum Absacken ans Lagerfeuer bei den jugendlichen Volontären eingeladen zu sein. Wegen der Temperaturen war das Feuer wirklich nicht notwendig – aber es verbreitet so eine schön romantische Stimmung...

Fahrrad in Sicht!

5.9.2016

Ein sehr dichter Tag mit Myriaden an Informationen über die Arbeit. Neue Freiwillige treffen ein.

Morgens als erstes zum Arzt nach Akko für die 3. Tollwutimpfung. Eine kleine Praxis eines arabischen Arztes; das Publikum rein arabisch. Trotzdem liegt auf dem Tisch im Wartezimmer eine hebräische Zeitung, wenn auch nur das Revolverblatt „Jediot Achronot“. Immerhin kann ich dem Hauptartikel und dem Editorial entnehmen, dass Premierminister Benjamin „Bibi“ Netanjahu mit seiner Wochenendintrige diesmal gründlich auf die Nase gefallen ist: Die Umfragen sehen die Schuld für das Verkehrschaos vom Sonntag eindeutig bei ihm (am schädlichsten für ihn die herzzerreißenden Berichte über Soldat_innen, die Mühe hatten, nach dem Wochenendbesuch bei der Familie ihre Basis wieder zu erreichen ...). Weil in seiner eigenen Partei der Aufstand drohte, traute er sich nicht, wie eigentlich geplant, Verkehrsminister Jisrael Katz zu entlassen. Der Kommentator von „Jediot“ unkt schon über die Götterdämmerung des langjährigen Premierministers. Aber das haben in den vergangenen Jahren schon viele getan – immer wieder stieg er wie Phönix aus der Asche...

Weiter komme ich nicht, denn schon werde ich ins Praxiszimmer gerufen. Da der Impfstoff heute nicht besorgt werden kann, muss ich morgen noch mal hin. Weil ich schneller fertig bin als befürchtet, nutze ich die Zeit, um bei dem wunderbaren kleinen Fahrradladen in Shavei Zion – dem Kibbuz gegenüber von Nes Ammim direkt am Meer – vorbeizuschauen und mich nach einem Klappfahrrad zu erkundigen. Ich plane es v.a. dafür zu nutzen, um es mit in den Zug nach Tel Aviv oder Jerusalem zu nehmen und auf diese Weise sowohl dem immer schlimmer werdenden Verkehrschaos zwischen den Städten als auch den tödlich nervenden innerstädtischen Staus zu entgehen (mein Bike mit der Roloff-Nabe für die Radtouren durch Galiläa kommt erst im November mit dem Container). Ran, der Inhaber, ist noch nicht da. Ich muss also später noch mal vorbeikommen. Seine Mitarbeiterin kann aber mit einem Anruf klären, dass es Klappfahrräder ohne Elektromotor tatsächlich gibt (sie kennt nur solche mit – in Israel sehr beliebt...).

Nachmittags auf der Suche nach einem Geldautomaten, der mich mag (d.h. mir Geld ausspuckt) noch mal nach Akko. Diesmal klappt‘s. Danach wieder zu Ran-o-Fun (dem Fahrradladen). Diesmal ist Ran da und wir suchen gemeinsam ein schönes schwarz-gelbes Modell aus dem Internet aus (ich hoffe, in Israel wird keiner die Assoziation mit Borussia Dortmund ziehen – blau-weiß für Schalke gab's leider nicht ...). Es wird noch diese Woche geliefert werden! Ich jubele innerlich laut auf: Schon bald nicht mehr darauf angewiesen sein, eins der altersschwachen Autos von Nes Ammim auszuleihen, um die Umgebung zu erkunden. Um „Casablanca“ zu zitieren: Dies könnte sehr gut der Beginn einer langen, innigen Freundschaft sein...

Nach einem wiederum sehr dichten Info-Abend für die neuen Volontäre über das Gemeinschaftsleben in Nes Ammim und die vielen Bildungs- und Begegnungsangebote klingt der Abend diesmal im „Chader Ochel“, dem Gemeinschaftsesssaal, bei einer Flasche Bier und einer Partie Billard aus.

6.9.2016

Ich musste noch mal nach Akko wegen der dritten Tollwutimpfung; war früh bei dem reizenden arabischen Arzt, der mir – während er von Hand einen Brief an die staatliche Gesundheitsstation schrieb – erzählte, dass er in Straßburg studiert hat, seine Frau Zahnärztin ist, die ihre Praxis praktischerweise gleich neben seiner hat – und sein Sohn auch; der pendelt aber zwischen Akko und Straßburg, wo er auch eine Praxis hat... ich hätte natürlich gerne auch von meinen tollen Töchtern erzählt, weil ich aber möglichst schnelle wieder nach Nes Ammim zurück wollte, um die Einführungsrunde mit den gestern eingetroffenen Volontären zu machen, kürzte ich das Gespräch ab und begab mich stracks zur staatlichen Gesundheitsstation (inzwischen kenne ich mich in Downtown Akko schon aus wie in meiner Westentasche...).
Dort meldete ich mich mit meinem schönen handgeschriebenen Brief pflichtgemäß bei geveret* Orah, die ebenfalls von Hand eines der schönen alten Formulare ausfüllte, mich dann allerdings erst mal zum Bezahlen runter in den 1. Stock schickte, den man allerdings nicht im Haus erreichen kann, sondern man muss raus, ums Haus rum und auf der anderen Seite wieder rein; dies sowie das ganze Interieur erinnerte mich schon stark an meine Gänge zu Kupat Cholim (Krankenkasse – so eine Art Gesundheitszentrum) und anderen israelischen Behörden in den goldenen 70er und 80er Jahren. Dort traf ich auf eine freundliche Drusin, mit der ich schnell ins Gespräch über ihre vier Kinder kam – und darüber, wie schrecklich die Verkehrssituation ist und so weiter: zahlen konnte ich bei ihr allerdings nicht, sondern bekam eine Art Zahlungsanweisung für die Post (auch diese liebevoll von Hand ausgefüllt; die PCs, die auf allen Schreibtischen thronen, scheinen mehr dekorativen Zwecken zu dienen...) – sicherlich eine sinnvolle Methode zur Korruptionsbekämpfung. In dieser Hinsicht ist Israel ja in der Tat kein 3.-Welt-Land (mehr).

Also zwei Straßen weiter zur Post. Als ich dort eintrat, hatte ich ein starkes Gefühl von Déjà-vu: nur ein Bruchteil der Schalter besetzt, vor denen sich allerdings Menschentrauben versammelt hatten, die wild gestikulierten und diskutierten. Aber auch wenn ich mich fühlte, als sei ich per Wurmloch in eine Zeit vor 40 Jahren versetzt worden: die Zeit ist auch in Israel nicht stehen geblieben. Auch hier zieht man jetzt Nummern. Allerdings muss man sich zwischen drei Möglichkeiten entscheiden. Und wer hier nicht Hebräisch lesen kann, hat schon verloren. Zum Glück kann ich's noch, sodass ich mich nach kurzer Beschäftigung mit der Zettel-Zieh-Maschine gegen die Paketausgabe und den Schalter für ausländische Währungen entschied und spontan einen Zettel für „aschnav kol“ (Schalter für alles) zog.

Ich hatte nun genug Zeit, zu studieren, was sich sonst noch verändert hat gegenüber den 70ern: statt der Deckenrotoren aus der Mandatszeit, die damals die warme Luft umwälzten, kühlt heutzutage die Klimaanlage die Temperaturen auf arktische Verhältnisse herunter; mit dem Zettel hat man immerhin den Vorteil, dass man das Schauspiel in aller Ruhe im Sitzen genießen kann, und nicht wie früher in einer Schlange anstehen muss, die sich meistens als genau die falsche herausstellte; vor allem habe ich fasziniert die Bildschirme beobachtet, auf denen die Post Werbung dafür macht, sich Termine im Internet geben zu lassen – mit Bildern, auf denen schadenfrohe Internet-Termin-Besitzer an Scharen von wartenden Kunden vorbei zum Schalter gehen. So verstand ich denn auch, warum um mich herum hauptsächlich die alten Mütterchen und andere „Mühselige und Beladene“ saßen, und einige weitere Naive wie ich, die keine Gelegenheit gehabt hatten, sich einen Internet-Termin zu besorgen, weil sie spontan zur Post müssen...

Nach einer Stunde war ich endlich wieder draußen. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie lange es früher gedauert hat: kann gut sein, dass ich damals 1 1/2 oder 2 Stunden gebraucht hätte – dann wäre die Umstellung aufs Zettelsystem tatsächlich nicht völlig für die Katz gewesen.

Zurück zur staatlichen Gesundheitsstation, wunderte geveret Orah sich, wo ich so lange geblieben war und war bass erstaunt, dass ich als Ausländer zum Bezahlen zur Post musste; jaja, warum sollte die linke Hand auch wissen, welche Vorschriften die rechte zu befolgen hat…
Dann aber ging sie ins Arztzimmer, um sich mit der Ärztin zu besprechen; nach einigen Minuten kam sie zurück und erklärte resolut: „heute bekommst du die Impfung nicht“ – „ät ha srika lo tekabel hajom“. So direkt und geradeheraus kennen und lieben wir sie, die Israelis... die Ärztin hatte wohl noch mal nachgerechnet und erkannt, dass es für die dritte Impfung noch ein paar Tage zu früh war. Ich werde also am Montag noch mal das Vergnügen haben.
Kurz und gut: ein Vormittag, an dem ich noch einmal das gute alte Israel aus Blaumilchkanalzeiten** genießen konnte!
Immerhin hatte ich nichts Wichtiges verpasst bei der Einführungsrunde. Danach legte ich mich ein bisschen hin, bevor Nina uns eine Dorfführung machte.

Und nach dem Abendessen haben wir dann erstmals eine kleine, nette Spielerunde zusammen bekommen.
Jetzt fällt mir ein, dass ich die Wäsche noch wegbringen muss. Darum Schluss für heute.

*Hebräisch: Frau.
**Der Blaumilchkanal – Titel eines Hörspiels sowie seiner Verfilmung von Ephraim Kishon.

 


Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, September 2016
Leben in Israel zwischen Golan und Sinai, Mittelmeer und Jordan, unter Juden, Muslimen, Christen, Agnostikern,Touristen, Freiwilligen - Volontären, Israelis, Palästinensern, Deutschen, Niederländern, Schweden, Amerikanern undundund

Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener